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Henrietta Murbel und die Schaufensterpuppe: Ein Cosy-Krimi
Henrietta Murbel und die Schaufensterpuppe: Ein Cosy-Krimi
Henrietta Murbel und die Schaufensterpuppe: Ein Cosy-Krimi
eBook276 Seiten3 Stunden

Henrietta Murbel und die Schaufensterpuppe: Ein Cosy-Krimi

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Über dieses E-Book

"Eine Tote in der Bibliothek!", ruft die Bibliothekarin des beschaulichen Dorfes Oberwahrdingen am Bodensee aufgeregt. Henrietta Murbel eilt mit wehendem Cape herbei, doch zwischen den Bücherregalen liegt keine Tote, sondern eine Schaufensterpuppe. Sofort ist Henriettas Neugier geweckt. Wer deponiert eine Schaufensterpuppe in einer Bücherei? Henriettas kriminalistisches Gespür wird erst recht gefragt, als eine tatsächliche Tote aus dem Bodensee gezogen wird und die Spur zum Mörder nach Oberwahrdingen führt – sehr zum Missfallen ihres Neffen Tassilo, der als Kriminalkommissar offiziell die Ermittlungen leitet und mit seiner schnüffelnden "Tante Henry" so gar nichts anfangen kann ...
SpracheDeutsch
Herausgeberédition eles
Erscheinungsdatum7. Aug. 2018
ISBN9783956092633
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    Buchvorschau

    Henrietta Murbel und die Schaufensterpuppe - Ruth Gogoll

    iStock.com/Spiderstock

    1

    »Frau Murbel! Frau Murbel!«

    Aufgeregte Rufe hallten durch die Dorfstraßen von Oberwahrdingen.

    »Was ist denn, Frau Strenger?« Henrietta Murbel, die gerade energischen Schrittes und mit wehendem Cape die kleine Hauptstraße überquert hatte, drehte sich um und runzelte die Augenbrauen.

    Dora Strenger kam keuchend bei ihr an und bewahrte mit einer Hand ihr pochendes Herz davor, aus der Brust zu springen und ihren wallenden Busen zu überholen. »Eine Tote in der Bibliothek!«

    »Verwechseln Sie das nicht vielleicht mit dem Buch von Agatha Christie?« Henrietta runzelte die Stirn noch mehr, nun eindeutig missbilligend.

    »Nein, nein.« Frau Strenger keuchte erneut heftig, diesmal aus Protest. »Kein Buch. Ich habe sie gesehen!«

    »Tatsächlich?« Henrietta konnte es kaum glauben. So etwas Unwahrscheinliches passierte einfach nicht in ihrem kleinen Dorf. »Sind Sie auch ganz sicher? Was genau haben Sie gesehen?«

    »Ich war –« Frau Strenger keuchte erneut und brach ab. »Ich war«, fuhr sie dann unter heftigem Atemholen fort, »gerade eben noch in der Stadtbücherei – Sie wissen ja, ich habe Ihnen extra Gullivers Grabmal zurückgelegt –, und nachdem Sie es abgeholt hatten, wollte ich schließen. Da plötzlich –«, sie wurde noch bleicher, als sie es schon war, »sah ich einen weißen Fleck hinter einem Regal. Ich dachte, ein Buch wäre heruntergefallen, aber . . . aber –«

    »Ja, was denn nun?« Henrietta tippte ungeduldig mit dem Fuß auf.

    »Es war kein Buch!«, stieß Frau Strenger hervor, als ob es das Letzte wäre, was sie je sagen würde.

    »Das hätte ich jetzt aber überhaupt nicht erwartet«, bemerkte Henrietta ironisch. »Ich will nicht wissen, was es nicht war, sondern was es war!«

    »Ein Fuß.« Frau Strenger schauderte. »Ein Fuß in einem weißen Damenschuh.«

    »Nur . . . ein Fuß?«, fragte Henrietta zögernd.

    »Ich . . .« Dora Strenger blickte zu Boden. »Ich bin Ihnen dann sofort nachgelaufen. Mehr habe ich nicht gesehen.«

    »Frau Strenger!« Henriettas Stimme zitterte vor Empörung. »Statt der armen Frau zu helfen, die vielleicht nur in Ohnmacht gefallen ist, laufen Sie mir hinterher und erzählen mir etwas von einer Leiche?«

    Dora Strenger wagte kaum aufzublicken. »Ich . . . ich dachte . . . es könnte doch ihr . . .«

    »Also wirklich, Frau Strenger!« Henrietta machte ein missbilligendes Geräusch. »Dann lassen Sie uns einmal nachschauen, was da wirklich los ist. Wahrscheinlich ist die arme Frau längst wieder zu sich gekommen und verschwunden. Sie sollten sich schämen.«

    »Das tue ich.« Frau Strenger schaute sie verlegen von der Seite an.

    »Dann los!« Henriettas Cape wehte über die halbe Hauptstraße, als sie sich umdrehte. »Zurück zur Bücherei!«

    Nachdem sie am Haupteingang angekommen waren, zog Frau Strenger ihr Schlüsselbund heraus, das eher dem einer Schlossherrin glich. Sie hatte eine Unmenge riesiger altertümlicher Schlüssel an einem Ring vereint.

    »Sie haben abgeschlossen?«, fragte Henrietta. Ihre Stimme klang ziemlich tadelnd. »Ich dachte, Sie wären mir quasi in Panik gefolgt.«

    »Ja, ich . . .« Die arme Dora fand den Schlüssel nicht und wurde immer nervöser.

    »Geben Sie her!« Henrietta nahm ihr die Schlüssel ab, fand sofort den richtigen und steckte ihn ins Schloss.

    »Es war ein Reflex«, verteidigte Dora sich. »Ich mache das doch jeden Abend.« Es knarzte, als sie den Schlüssel herumdrehte. Sowohl Schloss als auch Schlüssel waren reichlich rostig.

    Henrietta stieß die Tür auf, als Dora es nicht tat. »Es ist dunkel«, sagte sie.

    Frau Strenger stolperte an ihr vorbei in den Raum und suchte nach dem Lichtschalter. Nachdem sie ihn gefunden hatte, wurde es auch nicht viel heller, aber zumindest konnte man den Fußboden erkennen.

    »Und wo ist sie nun?«, herrschte Henrietta sie an.

    »D-d-d-da!«, stotterte Dora, die im Vorraum stehengeblieben war und nach hinten in die Regale der Bücherei wies.

    Henrietta rauschte an ihr vorbei. Ihr Cape streifte Doras leicht wirres Haar und ließ es wie Vogelfedern auffliegen. Die Bibliothekarin machte entschieden den Eindruck eines zerrupften Huhns.

    »Wo genau?« Henriettas Stimme kam von hinten aus den dunklen Gängen. Sie selbst war nicht mehr zu sehen.

    Frau Strenger tastete sich vorsichtig in den Gang hinein, der am Ausleihpult abzweigte. »Gleich hinter den historischen Romanen«, flüsterte sie mit unterdrückter Stimme, als ob sie darauf achten müssten, dass niemand sie hörte.

    »Aha.« Ein leichtes Scharren, sonst nichts.

    Dora tastete sich weiter in den Gang hinein. »Haben Sie sie gefunden?«, fragte sie leicht zitternd.

    »Ja.« Henriettas Stimme klang fest. »Habe ich.«

    Im nächsten Moment blitzte etwas hinten im Gang auf, und Henrietta kam mit bestimmtem Schritt auf Dora zu. »Meinen Sie das hier?«

    Frau Strenger kniff die Augen zusammen. Sie wollte gar nicht sehen, was Henrietta ihr da zeigte.

    »Machen Sie die Augen auf«, befahl Henrietta, und zu ihrem üblichen bellenden Ton gesellte sich eine leichte Amüsiertheit. »Es ist nur eine Schaufensterpuppe.«

    »Eine Schaufensterpuppe?« Doras Augen öffneten sich weit.

    »Ja, eine Schaufensterpuppe.« Henrietta schmunzelte. »Die hat Sie so erschreckt. Das war Ihre Leiche

    »Gottseidank!« Dora atmete erleichtert aus. »Und ich dachte schon –«

    »Das haben Sie mir erzählt, was Sie dachten«, seufzte Henrietta und stellte die Puppe an der Wand ab.

    Es war eine elegant gekleidete Schaufensterpuppe, ganz in gedecktem Weiß, vom Sommerhut über das damenhafte Kostüm bis zu den Schuhen.

    »Aber . . .« Dora kämpfte noch um ihre Fassung. »Was macht sie hier? Ich meine . . . es . . . also . . . die Puppe.«

    »Sie sind die Leiterin der Bücherei«, sagte Henrietta. »Sie müssen es doch wissen.«

    Dora Strenger hob die Hände. »Ich weiß gar nichts. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Ich meine, nicht hier . . .«, sie geriet ins Stottern, »in der . . . zwischen den Büchern.«

    »Da gehört sie ja auch nicht hin«, blaffte Henrietta. »Irgendjemand muss sie mitgebracht haben.«

    »Ja.« Dora starrte in das bewegungslose Gesicht der Plastikfigur. »Irgendjemand muss sie mitgebracht haben.«

    »Und Sie haben nichts gesehen?«

    »Nichts.« Dora zuckte die Schultern. »Eigentlich sehe ich jeden, der hereinkommt oder hinausgeht. Die Glocke läutet ja auch. Ich hätte ihn sehen müssen.«

    »Ihn?« Henrietta schaute sie an. »Sie denken, es war ein Mann?«

    »Ich . . . nein . . .« Dora legte die Stirn in angestrengte Falten. »Ich meine, na ja, es könnte natürlich auch eine Frau gewesen sein. Aber ich habe beide nicht gesehen.«

    »Beide?« Henrietta schmunzelte. »Jetzt sind es schon zwei?«

    »Sie bringen mich ganz durcheinander, Frau Murbel!« Dora Strenger ließ sich auf einen Besucherstuhl fallen. »Eins, zwei – ich weiß es nicht!«

    »Gut.« Henrietta betrachtete noch einmal eingehend die Figur. »Vorerst ist die Sache also ein Rätsel.« Sie strich über das elegante Kostüm. »Sie erinnert mich an jemanden«, sagte sie nachdenklich. »Ich weiß nur nicht –« Sie brach ab und schaute die Figur an, als ob sie erwartete, dass sie mit ihr sprechen würde.

    »Ach.« Frau Strenger stand durchatmend auf. »Es tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe, Frau Murbel. Ich dachte wirklich –« Sie verzog verlegen das Gesicht. »Aber da es nun ja nur eine Puppe ist, kann ich wieder abschließen. Wir können gehen. Morgen holt sie bestimmt jemand ab. So etwas vergisst man doch nicht so einfach irgendwo.«

    »Das würde ich auch sagen«, nickte Henrietta. »Sicher holt sie jemand ab.«

    Aber dennoch betrachtete sie die Figur misstrauisch, als sie die Bücherei verließen.

    2

    Die ganze Nacht über ließ ihr diese Angelegenheit keine Ruhe. Es war so harmlos. Eine Puppe. Aber irgendwie spürte sie etwas dahinter, das nicht harmlos war. Es war nur ein Gefühl, doch sie wusste, dass ihre Gefühle sie selten getrogen hatten, weil sie auf Erfahrung beruhten.

    Vor allem Männer nannten diese Gefühle weibliche Intuition und lachten darüber, aber Intuitionen speisten sich immer aus Tatsachen. Es gab keinen Rauch ohne Feuer.

    Normalerweise konnte sie einordnen, was in ihrem Dorf geschah. Sie kannte alles und jeden – bis auf die Touristen, die im Sommer die Ufer des Bodensees überfluteten, aber die zählten nicht – und konnte sich immer einen Reim darauf machen.

    So etwas wie mit dieser Puppe war noch nie vorgekommen, aber es erinnerte sie an etwas. An jemanden. Ein rothaariger Junge, der anderen immer gern Streiche gespielt hatte, erschien vor ihrem inneren Auge. Der Sohn des Metzgers, der stets mit seinem Bernhardiner herumlief, einem riesigen, aber äußerst gutmütigen Tier. Schon allein deshalb, weil er diesen Hund so liebte, konnte dem Uli Engel – einen unpassenderen Namen hätte sich niemand einfallen lassen können – keiner böse sein. Und Uli war auch nicht böse. Dennoch machten seine Lehrerinnen drei Kreuze, als er auf die höhere Schule in der Kreisstadt wechselte.

    War dies wirklich nur ein Dummer-Jungen-Streich?

    Irgendwie hatte sie nicht das Gefühl.

    Sie musste sich Gewissheit verschaffen.

    »Sie hatten letztens so ein hübsches Kostüm im Fenster.« Henrietta schaute sich zwanglos in dem kleinen, gepflegten Laden um. Hier wurden hauptsächlich hochpreisige Kleidungsstücke verkauft, vor allem an Touristinnen, aber auch Henrietta selbst hatte hier schon das eine oder andere erstanden. »Ich sehe es nicht mehr. Haben Sie es verkauft?«

    »Leider nicht.« Eine Angestellte, die sich bisher diskret im Hintergrund gehalten hatte, trat gemessen – es sollte sicherlich auf keinen Fall so aussehen, als wollte sie die Kundin zu etwas drängen, schon gar nicht zu einem Kauf. So ein Verhalten hatte dieses Geschäft nicht nötig, sie waren ja schließlich kein Ramschladen – auf sie zu. »Es ist verschwunden.«

    Henrietta hob die Augenbrauen. »Verschwunden?«

    »Wir vermuten, es wurde gestohlen.« Die Angestellte runzelte die Stirn, wurde sich dessen aber sofort bewusst und glättete sie wieder. Sie war bereits über vierzig, und in ihrem Beruf konnte sie sich keine Falten leisten. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Inklusive der Schaufensterpuppe, die es trug. Niemand kann sich das erklären. Ein teures Accessoire verschwindet vielleicht schnell einmal in einer Handtasche – nicht bei uns natürlich«, schränkte sie sofort ein. »Solche Kundinnen haben wir nicht. Aber wer stiehlt denn eine Schaufensterpuppe mit allem Drum und Dran?«

    Mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck schaute Henrietta sie an. »Ja, das ist die Frage.« Sie lächelte leicht. »Sie würden sich sicher freuen, das Kostüm wiederzubekommen, nicht wahr?«

    Die Angestellte wirkte erstaunt. »Meine Chefin wäre begeistert. Aber es ist wohl kaum zu erwarten, dass der Dieb die Ware noch hat.«

    »Der Dieb vielleicht nicht . . .« Henrietta schmunzelte in sich hinein und nickte der Angestellten dann zu. »Ich komme später wieder.«

    Kurze Zeit darauf betrat sie die Stadtbücherei. »Frau Strenger!« Sie blickte hinter die Theke, wo Dora Strenger normalerweise saß. Ihr Platz war leer. »Wo sind Sie denn?« Sie reckte den Kopf wie ein neugieriger Papagei, um eventuell hinter die Regale schauen zu können.

    »Ich komme . . . Komme ja schon«, keuchte die atemlose Stimme der Bibliothekarin, die wie eine taumelnde Blüte im Wind aus den Tiefen der dicht zugestellten Gänge auftauchte. »Bin schon da, Frau Murbel. Ich war ganz hinten –«

    Mit einer Handbewegung schnitt Henrietta ihr das Wort ab. »Wo ist die Puppe?«

    »Puppe?« Dora Strenger sah aus, als hätte sie das Wort noch nie gehört.

    »Die Schaufensterpuppe«, drängte Henrietta ungeduldig. »Die Sie mir gestern gezeigt haben. Die mit dem weißen Kostüm.«

    »Ach so, die. Ja . . .« Dora blickte sich argwöhnisch um, als müsste sie sich vor ungewollten Lauschern hüten. Dann senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. »Es hat sie noch niemand abgeholt.«

    »Das dachte ich mir.« Henriettas Ungeduld wuchs. »Ich glaube, ich weiß, wo sie hingehört.« Sie blickte Dora auffordernd an, die aber nicht verstand. »Könnten Sie sie vielleicht holen?«, fügte sie seufzend hinzu.

    »Holen? Ja. Holen.« Dora Strenger drehte sich um und taumelte gehorsam in den Gang zurück, aus dem sie gekommen war.

    Henrietta atmete tief durch. Manchmal war es schon mühsam.

    »Da ist sie ja!« Es war fast, als würde Regine Ducker-Hemringhausen eine alte Freundin begrüßen. Mit ausgebreiteten Armen kam die Boutiquebesitzerin auf Henrietta und Dora zu.

    Letztere trug die Puppe und stolperte fast über deren Füße ebenso wie über ihre eigenen.

    »Passen Sie doch auf, Frau Strenger!«, blaffte Henrietta. »Ich dachte, ich bringe sie Ihnen zurück«, wandte sie sich etwas freundlicher an die Herrin des Ladens, den sie gerade betreten hatten. »Ich hörte, Sie haben sie bereits vermisst.«

    Regine Ducker-Hemringhausen blieb stehen und betrachtete das Kostüm, das die Puppe trug, entsetzt. »Mein Gott, das ist ja völlig ruiniert!« Sie warf einen vernichtenden Blick auf Dora.

    Die sank sofort in sich zusammen, aber Henrietta erklärte entschieden: »Dafür sind wohl diejenigen verantwortlich, die die Puppe gestohlen und dann einfach in der Stadtbücherei auf den Boden geworfen haben. Wir . . . das heißt, Frau Strenger . . . haben sie nur gefunden. Und zurückgebracht.«

    »Na ja . . .« Die äußerst elegant zurechtgemachte Boutiquenbetreiberin in mittleren Jahren blickte fast etwas mit Widerwillen erneut auf das Kostüm, nahm den Stoff am Ärmel in die Hand, prüfte ihn und bemerkte: »Da fehlt ein Finger.«

    »Er ist abgebrochen«, nickte Henrietta. »Das habe ich auch festgestellt. Er befand sich jedoch nicht neben der Lei- . . . ich meine: neben der Puppe. Er muss auf dem Transport verloren gegangen sein. Oder vielleicht schon hier im Laden.« Sie blickte sich suchend um.

    »Sicher nicht! Der Laden wird jeden Tag peinlichst gesäubert!«, protestierte Frau Ducker-Hemringhausen empört. Unwillig schweifte ihr Blick zu den Füßen der Puppe, die Dora immer noch festhielt, damit sie nicht umkippte. »Wo ist der Ständer?«

    »Der Ständer?« Es kam selten vor, aber Henrietta wirkte tatsächlich verblüfft.

    »Die Puppe kann allein nicht stehen, das sehen Sie doch. Sie braucht dafür eine Stütze. Die ist auch verschwunden«, klärte Regine Ducker-Hemringhausen auf.

    »Sie ist nicht hier im Laden?« Henriettas Blick schweifte über verschiedene Puppen, aber sie hatten alle nur einen Ständer, nicht zwei. Und allein stand auch keiner herum.

    »Hätte ich Sie sonst danach gefragt?«, fauchte die diätgestählte Dame in den hochhackigen Schuhen ungnädig.

    »Nun, mit dem Ständer können wir leider nicht dienen«, teilte Henrietta ihr mit blitzenden Augen mit. Ihre Geduld hatte definitiv Grenzen. »Wir haben nur das hier gefunden.« Sie wies auf die Puppe. »Sie können sich nicht erklären, wie sie in die Bücherei geraten ist?«

    »Na, ich habe sie dort bestimmt nicht hingebracht!«, schnappte die Dame und schnappte sich gleichzeitig die Puppe, mit der sie hinter einem dunklen Vorhang verschwand.

    Dora stand wie vom Blitz getroffen da, die Hände immer noch ausgestreckt, als würde sie die Puppe halten, und stumm, aber Henrietta ließ ihren Gefühlen freien Lauf. »So was nennt man wohl Dankbarkeit!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Vielleicht hätten wir die Puppe einfach behalten sollen. Oder sie gleich zur Polizei bringen.«

    »Zur Polizei?«, hauchte Dora. »Aber warum denn zur Polizei?«

    »Irgendetwas an der Sache ist absolut nicht koscher«, stellte Henrietta stirnrunzelnd fest. »Ich kann noch nicht den Finger drauflegen, aber irgendetwas ist faul.«

    »Faul?«, echote Dora erneut.

    Henrietta warf ihr einen tadelnden Blick zu. »Müssen Sie immer wiederholen, was ich sage?«

    Dora sank noch mehr in sich zusammen.

    »Ach, kommen Sie schon. Ich kann gar nicht sehen, wie Sie da herumstehen wie ein Häufchen Elend«, grummelte Henrietta gutmütig. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie wusste, wie verschüchtert Dora ohnehin schon war, und sie trotzdem immer noch anraunzte. Das war eben ihre Natur. »Wir gehen einen Kaffee trinken. Im Marktcafé gibt es heute frischen Käsekuchen.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, fasste sie Dora entschlossen am Arm und zog sie mit sich zur Tür.

    Es waren nur ein paar Schritte bis zum Marktcafé, und nachdem sie sich gesetzt und Kaffee und Kuchen bestellt hatten, fuhr Henrietta mit ihren Gedanken fort, als wäre sie nie unterbrochen worden. »Überlegen Sie doch mal«, sagte sie. »Eine Schaufensterpuppe inklusive einer sehr kostspieligen Ausstattung wird gestohlen. Doch statt das teure Kostüm zu verkaufen oder an seine Freundin zu verschenken oder sonstwie Kapital daraus zu schlagen, entsorgt der Dieb Puppe samt Fünfhundert-Euro-Pumps und allem anderen in einer Bücherei. Bis auf einen abgebrochenen Finger und den Ständer. Ist das nicht merkwürdig?«

    »Na ja . . .« Dora Strenger schien nicht so sicher.

    »Es ist merkwürdig!«, entschied Henrietta. »Wenn er schon alles mitgenommen hat, warum hat er dann nicht auch alles in der Bibliothek gelassen? Der Finger . . . der ist bestimmt abgebrochen, ohne dass er es bemerkt hat. Aber der Ständer . . . So klein sind die Dinger nicht. Den hat er nicht einfach so verloren. Das glaube ich nicht.«

    »Vielleicht hat er ihn gebraucht?«, vermutete Dora.

    Henrietta schüttelte den Kopf. »Die sind ziemlich speziell, diese Dinger. Für was anderes kaum zu gebrauchen. Außer er wäre ein Bastler oder so etwas. Aber wer bricht schon in ein Modegeschäft ein, um sich Basteldraht zu besorgen?«

    Über diese Frage schien Dora ernsthaft nachzudenken.

    Der Kuchen kam mit zwei dampfenden Tassen Kaffee, und sie begannen zu essen.

    Doch schon nach dem ersten Bissen stach Henrietta mit der Kuchengabel in die Luft. »Ich hab’s!«

    Doras Gabel verharrte mit dem Kuchenstück, das sie sich gerade hatte zuführen wollen, direkt vor ihrem Mund. Ihre Augäpfel drehten sich nach oben, um Henrietta anschauen zu können. Es sah ein bisschen so aus, als wäre sie ein Chamäleon.

    »An dem Ständer klebt Blut!«, fuhr Henrietta triumphierend fort.

    »Blut?« Das Echo war zurück.

    »Nun ja, bildlich gesprochen«, schränkte Henrietta ein. »Er ist ein Beweis für irgendetwas. Blut oder nicht Blut, das ist belanglos. Aber hätten wir den Ständer, wüssten wir wahrscheinlich, was passiert ist.«

    »Aber was soll denn passiert sein? Die Puppe ist wieder dort, wo sie hergekommen ist. Den Finger kann man reparieren und den Ständer ersetzen. Dann ist alles wieder so wie vorher.« Doras Gedankenwelt unterschied sich offensichtlich sehr von Henriettas.

    Was man schon am nächsten Satz merkte. »Das wäre aber kaum interessant«, entgegnete sie. »Und ich glaube auch nicht, dass es so harmlos ist.«

    »Ihr Neffe hat gesagt –«

    »Mein Neffe!«, unterbrach Henrietta Doras schüchternen Versuch, und ihr Gesicht erhellte sich plötzlich, als wäre es mit einem Scheinwerfer erleuchtet worden. »Sie sind ein Schatz, Dora! Ein Schatz!« Wie ein aus einer Schachtel springender Clown schnellte sie hoch. »Essen Sie mein Stück auch. Ich muss weg!«

    Und mit wehendem Cape jagte sie wie ein mittelalterlicher Herold über den Marktplatz davon.

    Dora Strenger blieb verdattert sitzen, aber dann fuhr sie sich mit einem erwartungsvollen Lächeln verzückt über die Lippen.

    Sie liebte Käsekuchen.

    3

    »Nein, Tante Henry! Nein, nein und nochmals nein!«

    »Aber mein Junge . . .«

    »Es hat sich ausgejungt.« Kommissar Tassilo Bluhm blitzte seine Lieblingstante – nun ja, es war seine einzige – an und beugte sich über seinen Schreibtisch, um sie Auge in Auge anzustarren. »Ich habe dir schon das letzte Mal gesagt, du sollst die Finger von solchen Sachen lassen. Entweder es ist eine Sache für die Polizei oder es geht niemanden etwas an, weder dich noch uns.« Er ließ sich schwer zurückfallen. »Ich habe wirklich genug zu tun! Auch ohne dass du noch Verbrechen erfindest.«

    »Ich erfinde nichts.« Henrietta blitzte mit derselben blauen Augenfarbe zurück, die auch ihrem Neffen eigen war. »Da ist etwas. Ich kann es riechen!«

    »Dann bring mir einen Beweis, der riecht. Oder besser noch: Fingerabdrücke. Und wie wäre es mit einem Motiv? Oder einem Verdächtigen? Einem Opfer?« Er blickte sie streng an. »Eine Schaufensterpuppe in der Bibliothek. Das kann’s ja wohl nicht sein.«

    »Das ist es auch nicht«, erwiderte Henrietta überzeugt. »Das ist nur die Spitze des Eisbergs.«

    »Schau mal, Tante Henry . . .« Schon als Kind hatte der kleine Tassilo – das bedeutete glänzend wie der Tag, und seine Mutter hatte diesen Namen mit Bedacht gewählt, denn Tassilos blondes Haar glänzte schon bei seiner Geburt wie die goldene Sonne – seine Tante mit dieser Abkürzung ihres Vornamens angesprochen, weil ihm der Rest einfach zu lang war. »Du musst doch einsehen, dass die Polizei nicht dazu da ist, Fälle zu verfolgen, die gar keine sind. Gib mir ein Verbrechen, und ich fange an zu ermitteln, aber ohne das . . .«, er hob die Arme, »sind mir die Hände gebunden.«

    »Das weiß ich schon«, pflichtete Henrietta ihm für sie ganz untypisch bei. »Aber ich bin überzeugt, dass es

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