Patientin unter schwerem Verdacht: Die Klinik am See 15 – Arztroman
Von Britta Winckler
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Über dieses E-Book
Britta Winckler ist eine erfahrene Romanschriftstellerin, die in verschiedenen Genres aktiv ist und über hundert Romane veröffentlichte. Die Serie "Die Klinik am See" ist ihr Meisterwerk. Es gelingt der Autorin, mit dieser großen Arztserie die Idee umzusetzen, die ihr gesamtes Schriftstellerleben begleitete.
Das anhaltende Klingeln beendete die letzte Unterrichtsstunde dieser Woche in der Schule von Auefelden. Markus Hollmann, der bei den Schülern und Schülerinnen ebenso wie bei den Eltern der Kinder sehr beliebte Lehrer, atmete auf. Die vergangenen drei Tage waren doch etwas anstrengend gewesen. Nicht, daß ihm das Unterrichten Schwierigkeiten bereitet hätte, nein, aber seit eben diesen drei Tagen hatte er die doppelte Anzahl von Kindern in seiner Klasse, und zwar Jungen und Mädchen. Die Zusammenlegung war notwendig geworden, weil seine Kollegin Gerda Wehlert, die bisher die Mädchen unterrichtet hatte, ganz plötzlich vor vier Tagen in die Klinik am See eingelegt worden war. Sie erwartete ein Baby, und anscheinend war es da zu irgendwelchen Komplikationen gekommen.
»Also Kinder, verbringt ein schönes Wochenende«, rief er den Jungen und Mädchen zu, während er seine Bücher in seiner Tasche verstaute. »Wir sehen uns am Montag wieder.« Er mußte leise lachen, als er sah, wie schnell sich das Klassenzimmer unter lautem Hallo leerte. Eine Minute später war er allein.
Wer nun geglaubt hätte, daß der sympathische Lehrer, der wie ein durchtrainierter Sportsmann aussah und gar nichts an sich hatte, das auf einen Pauker schließen ließ, ein geruhsames Wochenende vor sich hatte, der irrte sich. Markus Hollmann, mit seinen vierunddreißig Jahren immer noch unverheiratet – und das nicht zuletzt zum leichten Mißvergnügen der Auefeldener, die gern einen verheirateten Lehrer an ihrer Schule gehabt hätten –, hatte noch eine längere Fahrt vor sich. Er mußte seine alte Tante, die Schwester seines verstorbenen Vaters, die in einem kleinen Ort im
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Buchvorschau
Patientin unter schwerem Verdacht - Britta Winckler
Die Klinik am See
– 15–
Patientin unter schwerem Verdacht
Warum will Julia nicht gesund werden?
B. Winckler
Das anhaltende Klingeln beendete die letzte Unterrichtsstunde dieser Woche in der Schule von Auefelden. Markus Hollmann, der bei den Schülern und Schülerinnen ebenso wie bei den Eltern der Kinder sehr beliebte Lehrer, atmete auf. Die vergangenen drei Tage waren doch etwas anstrengend gewesen. Nicht, daß ihm das Unterrichten Schwierigkeiten bereitet hätte, nein, aber seit eben diesen drei Tagen hatte er die doppelte Anzahl von Kindern in seiner Klasse, und zwar Jungen und Mädchen. Die Zusammenlegung war notwendig geworden, weil seine Kollegin Gerda Wehlert, die bisher die Mädchen unterrichtet hatte, ganz plötzlich vor vier Tagen in die Klinik am See eingelegt worden war. Sie erwartete ein Baby, und anscheinend war es da zu irgendwelchen Komplikationen gekommen.
»Also Kinder, verbringt ein schönes Wochenende«, rief er den Jungen und Mädchen zu, während er seine Bücher in seiner Tasche verstaute. »Wir sehen uns am Montag wieder.« Er mußte leise lachen, als er sah, wie schnell sich das Klassenzimmer unter lautem Hallo leerte. Eine Minute später war er allein.
Wer nun geglaubt hätte, daß der sympathische Lehrer, der wie ein durchtrainierter Sportsmann aussah und gar nichts an sich hatte, das auf einen Pauker schließen ließ, ein geruhsames Wochenende vor sich hatte, der irrte sich. Markus Hollmann, mit seinen vierunddreißig Jahren immer noch unverheiratet – und das nicht zuletzt zum leichten Mißvergnügen der Auefeldener, die gern einen verheirateten Lehrer an ihrer Schule gehabt hätten –, hatte noch eine längere Fahrt vor sich. Er mußte seine alte Tante, die Schwester seines verstorbenen Vaters, die in einem kleinen Ort im Werdenfelser Land lebte, abholen und in die Klinik am See bringen. Mit dem Chefarzt Dr. Lindau hatte er schon darüber gesprochen. Die Tante litt allem Anschein nach an einer Entzündung des Nierenbeckens, die eine klinische Behandlung erforderlich machte. Daß diese in der Klinik am See vorgenommen werden sollte, war der ausdrückliche Wunsch der Tante, die nur Gutes von Dr. Lindau gehört hatte und deshalb in keine andere Klinik wollte.
Diese Tante sollte oder wollte er heute noch abholen. Mit der Tasche in der Hand verließ Markus Hollmann Minuten später das Fachwerkhaus, in dem die Schule untergebracht war. Es wirkte jetzt, nachdem die Kinder sich in alle Richtungen verstreut hatten, still und ruhig. Nur der Schuldiener war noch da. Markus Hollmann wünschte dem schon älteren Mann, einem Invaliden des letzten Krieges, ein angenehmes Wochenende und stieg dann in seinen Wagen.
Die Fahrt ging über Rottach-Egern, vorbei an der Südspitze des Tegernsees und weiter über Kreuth in Richtung Mittenwald. Es hatte inzwischen etwas zu regnen begonnen, so daß sich Markus Hollmann gezwungen sah, etwas vom Gas herunterzugehen. Obgleich auf dieser kurvenreichen Straße nur ein sehr schwacher Verkehr herrschte, war besondere Aufmerksamkeit doch angebracht.
Markus Hollmanns Aufmerksamkeit wurde dann etliche Kilometer hinter dem Wildbad Kreuth besonders geweckt – durch einen weißen Fiat, der am rechten Straßenrand stand und dessen rechtes Hinterrad ein wenig in den Straßengraben abgerutscht war. Dann aber erblickte er auch die junge Frau, die irgendwie hilflos vor der hochgeklappten Motorhaube stand und das Innenleben des Autos zu betrachten schien. Sie war so in diese Betrachtung vertieft – der Regen störte sie anscheinend gar nicht –, daß sie nicht einmal wahrnahm, daß er seinen Wagen ausrollen ließ und wenige Meter hinter dem Fiat zum Halten brachte. Markus Hollmann vermutete, daß die Frau eine Panne hatte und nun anscheinend nicht wußte, was sie tun sollte.
»Tja, dann wollen wir mal sehen, ob man der jungen Dame aus der Klemme helfen kann«, murmelte Markus Hollmann, stieg aus und ging nach vorn. Den feinen Nieselregen beachtete er gar nicht.
*
Verzweifelt starrte Julia Weithold das Innenleben ihres Autos an. Ausgerechnet jetzt mußte der Motor streiken, ohne daß sie den Grund dafür wußte. Sie war zwar eine ganz gute Autofahrerin, aber von der Mechanik ihres Fahrzeuges hatte sie nicht die geringste Ahnung.
Als sie heute gegen Mittag aus München abgefahren war, da war noch alles in Ordnung gewesen. Mit dem Wagen jedenfalls. Mit ihr war es dagegen ganz anders. Eine Flucht war es, die sie angetreten hatte. Ihr Ziel war Innsbruck. Dort lebte ihre beste Freundin. Bei ihr wollte sie zunächst einmal unterkommen und abwarten. Auf jeden Fall wollte sie so schnell wie möglich über die deutsch-österreichische Grenze kommen, bevor man sie noch innerhalb der Bundesrepublik aufgriff. In ihren Zügen war ein gehetzter Ausdruck. Sie wußte, daß man nach ihr suchte. Sogar die Morgenzeitungen hatten es auf der zweiten Seite gebracht. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre den beiden Kriminalbeamten in die Hände gefallen, die in dem Appartementhaus in München, in dem sie eine kleine Wohnung besaß, nach ihr gefragt und gesucht hatten. Es war ihr gerade noch gelungen, in aller Hast ein paar persönliche Sachen einzupacken und unbemerkt zu ihrem Fiat zu kommen und davonzufahren. Eine entsetzliche Angst war in ihr, festgenommen zu werden und in einer Gefängniszelle zu landen – für eine Tat, die sie gar nicht begangen hatte.
Es war ein Unfall gewesen. Das versuchte sie sich immer wieder einzureden. Doch ihre Angst wurde dadurch nicht geringer. Sie bereute den Tag, an dem sie Bernd Wolfert, den aalglatten Charmeur, seines Zeichens freischaffender Modefotograf, kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Jetzt war er tot. Erschossen, und wie die Polizei annahm, von ihr. Aber es war ein Unfall gewesen. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, Bernd zu töten, obwohl er sie, nachdem er ihre gesamten Ersparnisse aus ihrer Arbeit als Fotomodell an sich gebracht hatte, mit einer anderen Frau betrogen hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?« erklang es plötzlich hinter ihrem Rücken mit einer sonoren Stimme.
Erschreckt fuhr Julia herum. Richtiggehend verstört sah sie den Mann an, der unbemerkt an sie herangetreten war. »Was… was… wollen Sie?« kam es stockend über ihre Lippen. Hatte man sie doch schon gefunden?
»Ich fragte, ob ich Ihnen helfen kann«, antwortete Markus Hollmann. Verwundert über die eigenartige Reaktion dieser jungen Frau, die er auf Mitte bis Ende zwanzig schätzte, musterte er sie scharf. Sie war nicht häßlich, o nein. Ihr ein wenig herb wirkendes Gesicht war von einer Fülle dunkelblonder Haare umrahmt. Doch es war bleich und bildete einen seltsamen Kontrast zu den dunklen, fast schwarzen Augen. Markus Hollmann fiel bei dieser blitzschnellen Musterung aber auch auf, daß in diesen Augen Erschrecken und Angst stand. Das weckte sein Interesse. Er hatte das untrügliche Gefühl, daß diese attraktive Unbekannte nicht nur Hilfe wegen ihres Autos nötig hatte, sondern – und das wahrscheinlich noch mehr – Zuspruch brauchte. Sie schien sich in einer Situation zu befinden, aus der sie keinen Ausweg wußte. Aber noch etwas stellte Markus Hollmann fest – nämlich daß ihm diese Frau außerordentlich gut gefiel. Innerhalb weniger Sekunden drängte sich in ihm der Wunsch auf, sie näher kennenzulernen. Ihr Anblick hatte plötzlich eine Saite in seinem Innern anschlagen lassen und ein warmes Gefühl in ihm ausgelöst.
Julia zwang sich zur Ruhe. Ihre vorherige Erregung klang zum großen Teil ab. Sie erkannte, daß dieser gutaussehende Fremde nichts von ihr wollte. Jedenfalls nicht das, was sie vor wenigen Sekunden noch befürchtet hatte. »Ach ja…«, stieß sie mit ein wenig brüchig klingender Stimme hervor, »… mein… mein… Motor will nicht mehr. Ich kenne mich nicht aus damit.«
»Tja, dann werde ich mal nachsehen, wenn Sie erlauben.« Markus Hollmann lächelte schwach und steckte den Kopf unter die Motorhaube.
Es dauerte nur wenige Minuten, dann hatte er den wunden Punkt gefunden. Ein Kontakt an der Zündleitung hatte sich gelöst. Das sagte er auch der jungen Frau.
»Kann man das nicht wieder reparieren?« fragte Julia.
»Ich bin schon dabei, Verehrteste«, antwortete der Lehrer aus Auefelden und neigte sich wieder unter die Motorhaube. Es dauerte nur knapp drei Minuten, dann war der Schaden behoben. »So, jetzt muß es wieder funktionieren«, wandte er sich an Julia und drückte die Motorhaube herunter. »Versuchen Sie es einmal!«
Das ließ sich Julia nicht zweimal sagen. Sie setzte sich hinter das Steuer und drückte den Anlasser. Der Motor sprang auf Anhieb an. »Haben Sie vielen Dank, mein Herr«, rief sie Markus Hollmann durch das geöffnete Seitenfenster zu, legte sich den Sicherheitsgurt an, schaltete und gab Gas. Wie eine Rakete fast schoß der Wagen davon.
*
Eine ganze Weile mußte Julia Weithold noch an die Begegnung mit dem hilfsbereiten Mann denken, der ihr das Weiterfahren ermöglicht hatte. Es tat ihr jetzt fast leid, daß sie einfach so sang- und klanglos davongefahren war. In der nächsten Sekunde jedoch rechtfertigte sie ihr etwas unhöfliches Verhalten mit ihrer Eile. Ja, sie hatte es wirklich eilig, über die Grenze zu kommen. Bitterkeit überkam sie, wenn sie