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Drachenblutlinie: Die letzte Magierin
Drachenblutlinie: Die letzte Magierin
Drachenblutlinie: Die letzte Magierin
eBook833 Seiten12 Stunden

Drachenblutlinie: Die letzte Magierin

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Über dieses E-Book

Der Kampf um Merodien und die Liebe geht weiter.
In ihrer neuen Heimat Lohringen versucht sich Lilian in ihrer Aufgabe als Heilerin. Doch ihre Verbindung zu dem Prinzen stößt auf Widerwillen und bringt neue Gefahren mit sich, die ihr Leben bedrohen.
Während sich die Ereignisse überschlagen, scheint sich ihr der von der Elfenkönigin prophezeite Weg immer mehr aufzuzwängen. Unerwartet macht sie Bekanntschaft mit Göttern, Tempelorden und magischen Wesen.
Gleichzeitig rückt der Aufbruch des königlichen Heeres in den Süden des Landes immer näher. Es scheint ganz so, als müsste sie durch den bevorstehenden Krieg um die Liebe ihres Lebens fürchten ...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum1. Feb. 2018
ISBN9783746054438
Drachenblutlinie: Die letzte Magierin
Autor

Jana Nüßler

Im Alter von 17 Jahren konzipierte Jana Nüßler die Anfänge der Trilogie »Drachenblutlinie«. Während ihres Studiums der Germanistik und Kunstgeschichte in Münster setzte sie das Schreiben fort und vollendete schließlich ein Erstlingswerk, das den Leser zu einer spannenden Reise in eine magisch mystische Welt einlädt. Hier müssen sich die Protagonisten ihrer schicksalhaften Vergangenheit stellen, um durch Glaube und Liebe einen Ausweg aus dem verheerenden Chaos zu finden.

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    Buchvorschau

    Drachenblutlinie - Jana Nüßler

    Wasser.

    1. Kapitel: Das verheißungsvolle Geschenk

    Dass Agneta erkrankt war, veränderte für Lilian alles. Auch wenn der Zustand der Heilerin an dem Abend nicht kritisch gewesen war und Lilian sie hätte allein lassen können, war ihr nicht danach, mit Konstantin zu dem Stadtfest zu gehen. Sie würde sich in dieser Stimmung ohnehin nicht amüsieren können. Mit zerrütteter Miene erzählte sie Konstantin von Agnetas Erkrankung, als er sie wie vereinbart abholen wollte. Er war ebenso schockiert wie sie und bot ihr ohne Umschweife seine Gesellschaft an, damit sie nicht allein mit der Kranken war. Dankend lehnte Lilian sein Angebot ab und verabschiedete sich schließlich von dem jungen Mann.

    Die Tage vergingen und einige Stadtbewohner besuchten das Haus der Heilerin. Wenige, weil sie von der verhängnisvollen Krankheit wussten, die langsam ihre Runde machte, die meisten allerdings, um sie um Hilfe und Rat zu bitten. Die Heilsuchenden waren oft schockiert, wenn Lilian ihnen von Agnetas Krankheit berichtete, und noch schockierter, als Lilian ihnen selbst ihre Dienste anbot. Da ihre Angelegenheiten jedoch dringlich waren, vertrauten sie sich der jungen Frau an, die ihnen kompetent Salben oder Sude verschrieb.

    Schnell sprachen sich die Neuigkeiten herum und bald kursierten die Gerüchte, dass Lilian in die Fußstapfen von Agneta treten würde. Lilian wollte davon jedoch nichts hören, als ihr Konstantin, der sie beinahe jeden Tag besuchen kam, von dem Gerede in der Stadt berichtete.

    »Sie reden wirres Zeug. Ich werde niemals Agneta ersetzen können!« Lilian blickte mürrisch in das Kaminfeuer, während Konstantin, der ihr im Sessel gegenüber saß, sie musterte.

    »Nun, das ist es, was sie sagen, Lilian.« Er ergriff ihre kalte Hand. »Du solltest vielleicht eine Pause machen. Die Leute würden sicherlich verstehen, wenn du dich jetzt etwas mehr zurückziehen würdest.«

    Sie schaute ihn an und der junge Mann erkannte erschrocken, dass Tränen in ihren blauen Augen glitzerten. »Ich kann nicht. Es ist das Einzige, was mich nicht ständig daran erinnert, dass sie bald sterben wird.« Sie drückte seine Hand und wischte sich mit der anderen die Tränen aus dem Auge.

    »Ich verstehe.« Konstantin blickte erneut in das Feuer. Er wusste, wie sie sich fühlen musste, denn er hatte ähnlich empfunden, als sein Vater erkrankt war. Er konnte Lilian gut verstehen. Es war nicht einfach mit anzusehen, wie der Mensch, den man liebte, vor seinen eigenen Augen verstarb.

    Ein Gewitter tobte in der Nacht und Lilian wälzte sich unruhig in ihrem Bett hin und her. Sie hatte einen Alptraum. Sie sah schwarze Käfer, die unbemerkt durch einen Spalt in einem Fensterglas krabbelten, in eine Kammer hinein, eine Stallkammer, wie Lilian wenige Augenblicke später erkannte. Ein schwarzer Schleier legte sich jäh über ihre Wahrnehmung, sie konnte sich nicht umblicken, sondern lediglich auf die schwarzen Käfer schauen, die sich einen Weg durch das feuchte Stroh bahnten. Blitze erleuchteten kurz ihren Pfad, den sie so energisch bestritten. Sie krabbelten in einer strikten Reihe hintereinander einem bestimmten Ziel nach, welches für Lilian weiterhin verborgen blieb. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, etwas Dunkles lag in diesem Bild, doch war sie durch ihre eingeschränkte Rolle unfähig zu erkennen, was es war. Die ersten Käfer erreichten den Huf eines Pferdes und die krabbende Masse wurde von Mal zu Mal dichter, sie bewegten sich schneller und wanden sich als Strom das Bein hinauf. Voller Panik erkannte Lilian, dass sie zu einer schwarzen Schlange geworden waren. Ihre Angst lähmte sie. Sie hörte das Pochen des Pferdeherzens. Sie sah die Schlange, wie sie ihr Maul aufriss. Dann schrie sie und wachte schweißgebadet auf. Das Pochen dröhnte noch immer in ihrem Schädel. Schnell stieg sie aus dem Bett und trat in das Zimmer von Agneta, in der die alte Frau jedoch selenruhig schlief. Ihr Schrei hatte sie also nicht geweckt. Erleichtert trat Lilian erneut in ihr Zimmer, doch dann hörte sie es. Das Pochen erklang, doch handelte es sich dabei nicht um das Pochen aus ihrem Traum, jemand klopfte an die Tür.

    »Wer ist denn da?« Agneta war aufgewacht.

    »Ich werde nachsehen!«, rief Lilian zurück. Unsicher legte sich Lilian ihr Umhängetuch über die Schulter und öffnete die Tür. Vor ihr stand eine große Gestalt mit dunklem, durchnässtem Mantel, deren Gesicht von der weitkrempigen Kapuze verdeckt war. Als sie sie zurückschlug, erkannte Lilian den jungen Mann und ein schmerzender Stich traf ihr Herz.

    Airens schwarze Augen durchdrangen sie und Lilian zuckte zusammen, als sie sich an Rang und Status erinnerte. Schnell machte sie eine steife Verbeugung und ließ den Prinzen ohne ein Wort eintreten. Als sie die Tür geschlossen hatte, wies sie ihm einen Platz am Feuer zu, setzte sich jedoch nicht, sondern nahm die Teekanne vom Tisch und trat in einen Nebenraum. Airen konnte durch den Türspalt erkennen, wie Lilian liebevoll Agneta stützte und ihr den Tee einflößte, wobei sie versuchte, keine allzu besorgte Miene zu machen. Auf Agnetas Fragen hin, wer denn gekommen sei, murmelte sie nur etwas Unverständliches, und mahnte Agneta aufzustehen. Airen hatte von seinem vorlauten und manchmal ihm verhassten Kammerdiener bereits erfahren, dass Agneta erkrankt war und kein Weg zur Besserung bestand. Nun vermutete man, dass Lilian Agnetas Arbeit übernehmen würde, aber Airen war sich da keineswegs sicher. Wenn Agneta sterben würde, würde es hier in Lohringen für Lilian nichts mehr geben, was sie halten könnte.

    Airen fuhr hoch: Lilian hatte die Wohnstube betreten.

    »Sie schläft jetzt«, sagte Lilian leise und trat mit der Teekanne an den Tisch, wo sie den Tee in zwei Becher goss und einen davon Airen reichte.

    »Danke.« Er nahm einen Schluck. »Wie geht es ihr?«

    »Sie hält sich tapfer, aber ich glaube, dass sie die Schmerzen nicht mehr lange aushalten kann.« Airen konnte erkennen, dass ein Zittern Lilians zartes Gesicht einnahm und sich Tränen hinter ihren Lidern sammelten. Doch sie konzentrierte sich mit aller Macht, sich zu beherrschen, und nahm dann ebenfalls einen Schluck Tee, um ihre trockene Kehle zu befeuchten. »Sie kann auch nicht mehr arbeiten«, sagte sie dann und blickte Airen in die Augen. »Wenn ihre Hilfe benötigt wird, dann –«

    »Ich wollte zu dir, Lilian.« Airen setzte die Tasse ab. Er hatte lange mit sich gerungen, ob er diesen Weg einschlagen sollte. Wäre Lilian nicht bei Agneta gewesen, wäre die Entscheidung sicherlich leichter gefallen. Entweder hätte seine Tante ihm trotz ihrer Erkrankung, die ihm einen Teil seines Herzens abschnürte, eine Arznei geben können, oder er hätte die Versuche unterlassen. Doch da nun Lilian hier war, veränderte es alles. »Notoija ist erkrankt«, erklärte er in einem neutralen Tonfall. »Seit dem Gewitter benimmt er sich merkwürdig. Der Pfleger meint, er hätte Tollwut, aber das glaube ich nicht. Ich kenne mich zwar mit einigen Krankheiten aus, aber dieses Mal bin ich ratlos. Ich habe das seltsame Gefühl, dass es mit diesem Gewitter zu tun hat.« Er blickte Lilian an, die ihn mit einer undurchschaubaren Miene anstarrte. Ebenso verschlossen fuhr der Prinz fort. »Ich weiß, dass das Verhältnis zwischen uns nicht gerade gut ist, aber –«

    »Ich werde es versuchen«, unterbrach Lilian ihn und wurde sich des kurzen Funkens von Überraschen in seinen braunen Augen gewahr, ehe wieder alles hinter einer ausdruckslosen Maske verschwand. »Aber ich tue es für Notoija«, fügte sie bestimmend und mit ernster Miene hinzu.

    Airen dankte ihr.

    »So lange man die Möglichkeit hat, Leben zu retten, sollte man sie nutzen.« Mit diesen Worten stand sie auf und bedeutete dem Prinzen damit, dass das Gespräch beendet war. Sie öffnete die Tür.

    »Es wäre gut, wenn du so schnell kommen könntest, wie möglich.« Er starrte über Lilians Kopf hinweg zu dem Zimmer, in dem Agneta lag. »Ich weiß, dass dies nun dein neues Heim ist, aber ich wünsche, sie wieder vermehrt besuchen zu können. Ich möchte in ihren letzten Lebenstagen nicht fort sein.«

    Ihre Blicke kreuzten sich. »Es steht dir frei, jederzeit zu kommen. – In der Regel gehe ich vormittags auf den Markt.« Es war beiden eindeutig, was sie damit hatte ausdrücken wollen. Ihr Blick glitt an ihm vorbei und wurde eigenartig traurig. »Sie sehnt sich nach dir, Airen. Du bist ihr wie ein Sohn.«

    Airen blickte sie überrascht an. Es war das erste Mal, dass sie ihn nicht wie jemanden abtat, den sie kaum kannte und den sie dazu auch noch hasste. Die Kälte aus ihrem Blick war verschwunden und ebenso verrauchte auch sein Gram, den er in der Vergangenheit stets empfunden hatte, wenn er an sie dachte. Agnetas Krankheit veränderte alles. Lilian und er würden einen Menschen verlieren, den sie beide liebten, und das schweißte sie auf eine unbestimmte Art zusammen.

    »Ich werde morgen früh kommen, wenn ich jemanden gefunden habe, der sich unterdessen um Agneta kümmert.« Die spürbare Distanz kam wieder zurück und Lilians Blick wurde wieder kühl. Airen nickte nur zustimmend und verschwand in der Dunkelheit.

    Der Schatten, den die hohen Mauern von Hiokar warfen, ließ Lilian frösteln, als sie mit Mionar an den Zügeln durch das gewaltige Tor schritt, welches von ein Dutzend Wachen bewacht war. Spitze Lanzen und polierte Harnische sprangen ihr ins Auge, sodass Lilians Herz noch schneller in ihrer Brust pochte. Unsicher trat sie zu einem der Wachen, der vor vier weiteren stand, die mit ihren langen Lanzen die Durchfahrt versperrten. Sie meldete ihr Anliegen und wurde mit einem knappen Nicken zum Passieren aufgefordert. Mit respektvollem Abstand vor den messerscharfen Waffen ging sie schnell weiter – und stieß einen Laut der Überraschung aus.

    Ihr Blick fiel unweigerlich auf das riesige, monumentale Hauptgebäude der Burg. Sie hatte bereits aus der Ferne die zwei Türme, die beidseitig das gigantische Portal flankierten, erkennen können, doch hier, während sie auf dem Hof stand, wirkten die hohen Türme mit ihren spitzen Dächern noch eindrucksvoller. Sie kamen Lilian wie zwei Himmelswerke vor, die die Verbindung zwischen den Erdenbewohnern und dem himmlischen Reich der Götter verkörperten. Beeindruckt nahm sie die Burggebäude weiter in Augenschein. Lisenen unterteilten die einzelnen Geschosse und in den stattlichen Rundbogenfenstern brach sich das Sonnenlicht im Fensterglas. Vorgeblendete Arkaden durchbrachen die machtvolle Fassade und ließen das mächtige Bauwerk noch erhabener erscheinen. Es schien wie gemacht für einen König und Herrscher. Wo Airen wohl seine Gemächer hatte?

    Ein auf sie zueilender Diener riss Lilian aus ihrem Staunen und führte sie zu den königlichen Stallungen auf der linken Seite der mächtigen Anlage. Drei längliche Stallgebäude erstreckten sich mit ihrer Stirnseite zum zentralen Hauptweg, der an dem großen Brunnen vorbei bis zur weitläufigen Eingangstreppe der Burg reichte. Der Geruch von Stroh, Heu und Pferd stieg der jungen Heilerin in die Nase und beruhigte ihren schnellen Herzschlag. Der schlaksige Diener erwähnte beiläufig, dass im Innern der Stallungen der Prinz bereits auf sie warten würde. Als Lilian den Namen von Airen hörte, fiel ihr sogleich wieder der unangenehme Anlass ihres Besuches ein. Schon verblasste ihre innere Ruhe, die sie bei dem vertrauten Geruch von Heu und Stroh empfunden hatte, und machte für ein kaltes, ausladendes Gebäude Platz.

    »Hier entlang.« Der Diener trat mit Lilian zu dem mittleren Stall und wies ihr an, ihren Schimmel an einem dafür vorgehsehenen Querbalken festzubinden. Lilian gehorchte und löste den Kräuterkasten, den sie an Mionars Sattel festgebunden hatte. Schweigend folgte sie dem Diener den gepflasterten Weg entlang und trat in seinem Schatten durch die offene Pforte in den Stall. Auch hier war der Weg gepflastert und reingekehrt. Weder Pferdeäpfel noch Stroh befleckten die stoische Reinlichkeit. Lediglich an einigen Stellen stapelten sich ein paar Strohballen, die wohl für die nächste Fütterung vorgesehen waren. An den Seiten grenzten unzählige Stallboxen an, in die Lilian, während sie dem Diener folgte, einzelne Blicke warf. Fasziniert betrachtete sie die stattlichen Rösser, die von einer unvergleichlichen Schönheit waren. Es waren prächtige, intelligente und sicherlich schnelle Pferde. Ihr Herz wurde weit und sie schaute sich mit großen Augen um.

    Der Gang machte alsbald einen Knick und Lilian erkannte in dem dämmrigen Licht des Stalles eine aufrechte, schlanke Gestalt, die sich an den Gittern einer Box abstützte und einen Blick zu dem schwarzen Hengst warf, der unruhig in der Box herumtänzelte.

    »Eure Majestät, die Heilerin Lilian Merell ist eingetroffen.« Der Diener verneigte sich vor dem Prinzen, der sich von Notoijas Box löste und den beiden Besuchern seine Aufmerksamkeit schenkte. Lilian blickte Airen starr an. Er sah müde und angespannt aus. Unmittelbar drang das energische Räuspern des Dieners an ihr Gehör und sie verneigte sich schnell. Aus dem Augenwinkel erkannte sie, dass der Diener ihr einen missbilligenden Blick zuwarf, da sie die Etikette des Königshauses missachtet und keinen Respekt vor Ihrer Majestät gezeigt hatte. Beschämt stierte sie auf den Boden.

    »Ihr könnt Euch erheben.« Airens Schritte näherten sich. »Danke Erobal, du kannst dich nun entfernen, ich benötige deine Hilfe nicht mehr.« Der Diener, der wohl der Kammerdiener des Prinzen zu sein schien, verneigte sich noch tiefer, trat schließlich mit gesenktem Haupt zurück und entschwand. »Es freut mich, dass du so schnell kommen konntest, um dir Notoija anzusehen.« Lilian erhob sich langsam und schaute Airen an. Er hatte eine undurchschaubare Miene aufgesetzt, sodass sie sich seiner Gefühle nicht im Klaren war. Verabscheute er sie noch immer so sehr? Nervös spielte sie mit dem Griff ihres Kräuterkastens.

    »Notoijas Zustand hat sich nicht verändert«, durchbrach Airen Lilians Gedanken, während er sich umdrehte und zurück zu der Box trat, in der der schwarze Hengst panisch und mit rollenden Augen mit den Hufen scharrte.

    »Sein Verhalten hat sich während des Gewitters verändert?«

    »Ja, seitdem ist er wie ausgewechselt. Kein Stallbursche traut sich mehr in seine Nähe.« Er verzog spöttisch das Gesicht. »Sie haben Angst, dass er sie beißt.«

    Lilian umging Airens Ärger und trat an die eisernen Gitterstäbe, die erst vor kurzem auf die hölzerne Abtrennung der Box angebracht zu sein schienen. Konzentriert betrachtete sie den starken Hengst. Seine Augen glitten rastlos durch den Stall, blieben kurz auf Airens Gestalt haften und suchten jäh wieder den Stall ab. Dabei wieherte Notoija ängstlich und stieg.

    »Ich verstehe einfach nicht, was ihm fehlt.« Airen sah betrübt zu seinem Hengst, der sich wild in der Box drehte und wendete, wobei weißer Schaum an seinem Maul hervortrat. Ob es doch Tollwut war?

    »Ich muss näher heran. So kann ich ihn nicht untersuchen.« Lilian bemerkte, dass Airen ihr kurz einen Blick schenkte, dann jedoch wieder sein Pferd beobachtete. – »Es ist gefährlich, wenn du zu ihm in die Box gehst. Er könnte dich mit seinen Hufen erfassen.«

    »Wenn ich ihm helfen soll, muss ich zu ihm in die Box.« Lilian wagte einen flüchtigen Blick zu Airen und bemerkte irritiert, dass er sie besorgt musterte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er ein stattliches, dunkelblaues Wams trug, dessen Knopfleiste und Kragen mit goldenen Bordüren bestickt war. Der braune Ledergürtel war locker um seine Hüften gebunden und verlieh dem Prinzen ein lässig elegantes Auftreten. Es war das erste Mal, dass sie ihn in seiner königlichen Gewandung sah, und es verschlug ihr gleich zweimal den Atem. Auf der einen Seite wirkte Airen unwiderstehlich attraktiv, doch wurde ihr auch bewusst, dass der gesellschaftliche Graben zwischen ihnen gigantisch war. – Unwohl in ihrer Haut wandte sie sich ab und betrachtete scheinbar konzentriert den Hengst.

    Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Passe auf dich auf, Lilian.«

    Sie straffte sich, stellte den Kräuterkasten beiseite und schob sich an Airen vorbei in die geöffnete Box.

    Notoija schnaubte irritiert und tänzelte beunruhigend auf der Stelle, während seine dunklen, panisch geweiteten Augen auf Lilian gerichtet waren. Er schnaubte und die Nüstern weiteten sich. Lilian wagte sich vorsichtig näher. Augenblicklich stieg der kräftige Hengst und Lilian konnte sich gerade noch mit einem Sprung in Sicherheit bringen, bevor sich die Hufen in die Erde bohrten.

    »Lilian!« Airen riss blitzschnell die Stalltür auf und zog die junge Frau aus der Reichweite des tobenden Hengstes, welcher abermals ausschlug und stieg. Hastig schlug der Prinz die Tür hinter sich und Lilian zu und setzte sich schnaufend, mit klopfendem Herzen neben Lilian auf einen Strohballen.

    »Ist alles in Ordnung?« Er sah ihr direkt in die Augen und Lilian versank für einen kurzen Moment in den bodenlosen, geheimnisvollen Opalen, die sie einst so begehrt hatte.

    »J-ja.«

    Sie wandte sich schnell ab. Ihm so nahe zu sein, nach allem, was bisher zwischen ihnen geschehen war, schien nicht richtig zu sein. Sie spürte noch kurz seinen bohrenden Blick auf ihrem Körper, ehe sie sich erhob und erneut zu Notoijas Box trat, in der der Hengst noch immer wild, von Panik ergriffen stieg. Als Lilian die eisernen Gitterstäbe berührte, schoss mit einem Mal ein Bild durch ihre Gedanken. Es war ein Ausschnitt jenes Traumes, den sie während des Gewitters in der Nacht empfangen hatte. Die schwarze Schlange bestehend aus Käfern wand sich gefährlich zischelnd an dem Vorderbein des Pferdes hoch, verschmolz mit dessen dunklem Fell und biss zu!

    Lilian zuckte zusammen und glitt in die Realität zurück. Verwirrt starrte sie auf Notoija, der sich allmählich in der Box beruhigte. »Ich muss noch einmal zu Notoija in die Box!« Ihre Stimme war derartig bestimmend und sicher, dass Airen Lilian nur verständnislos musterte, sie jedoch bei ihrem Vorhaben nicht aufhielt, sondern sie eingehend aus der Distanz beobachtete. Er öffnete ihr mit einem unguten Gefühl die Stalltür und Lilian trat ein.

    Unbehagen beschlich Lilian, als sie den nervösen, aufgescheuchten Hengst ansah. Das schwarze Ross riss den Kopf hin und her, als taumelten dunkle Schatten von der Decke und umzingelten es mit ihrem bizarren, unheimlichen Tanz. Notoija wieherte ängstlich. Dann trat Lilian mutig vor. Sie wusste, was Airens Pferd quälte, denn sie hatte es selbst gesehen. Alles passte zusammen: Airens Äußerung, die eigenartigen Symptome wären erst seit dem Gewitter aufgetreten, ihr eigener Traum, in dem ein Schattenwesen ein Pferd angegriffen hatte, und das Bild, welches ihr hier im Stall durch den Kopf geschossen war. Alles mündete in die Erkenntnis, dass der Traum wirklich passiert war, dass das schlangenhafte Schattenwesen das Pferd des Prinzen angegriffen hatte und womöglich gebissen hatte. Langsam machte Lilian einen Schritt auf das verschreckte Pferd zu. Wenn sie feststellen konnte, dass Notoija wahrhaftig gebissen worden war, konnte sie ihn vielleicht heilen!

    Sie trat noch einen Schritt vor.

    Notoija wieherte laut und scharrte unruhig mit dem Vorderbein über den Stroh bedeckten Boden. Es waren nur noch zwei Schritt, ehe Lilian das Ross erreichen würde. Sie musste es schaffen!

    Sie ging einen weiteren Schritt, doch es war zu viel! Der Hengst stieg und die Hufen fuhren gefährlich durch die Lüfte. Doch Lilian sprang rechtzeitig aus der Reichweite der Hufe und griff hastig zu. Im selben Moment tat sich vor ihr ein grelles, weißes Licht auf. Geblendet hob sie die Hand vor die Augen. Unmittelbar ließ die Intensivität des weißen Lichtes nach und Lilian erkannte erschrocken, dass sie sich auf einer grünen, weiten Wiese befand. Eine sanfte Brise trug den Duft von lieblichen Sommerblumen zu ihr und der fröhliche Gesang der Vögel drang an ihr Gehör. Ungläubig drehte sie sich um und erkannte fassungslos, dass Notoija auf sie zutrottete. Der Schaum an seinem Maul sowie die Angst in seinen Augen waren verschwunden und der Rappe erstrahlte in seiner alten Schönheit. Verwundert streckte Lilian die Hand nach dem Pferd aus und augenblicklich schwand ihre Sicht. Einen Bruchteil einer Sekunde später befand sich Lilian wieder in den königlichen Stallungen, in der Box von Airens schwarzem Hengst, der friedlich in einer Ecke stand und aus dem Trog fraß. Bei diesem Anblick wusste sie, dass sie Notoija geheilt hatte. Wie sie das vollbracht hatte, wusste sie nicht und stand gegenwärtig auch nicht zur Debatte. Hauptsache war es, dass Notoija wieder gesund war.

    Glücklich und noch immer etwas benommen von dem eigenartigen Ausgang drehte sich Lilian zu Airen um. Sie stutzte und ihr Erfolgsgefühl wich bitterer Enttäuschung, als sie Airen erblickte, der im selben Moment eine junge, elegante Frau küsste. Lilian erstarrte und der Schmerz in ihrer Brust traf sie tief. Ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass sie in Airens Leben nie eine Rolle gespielt hatte, er war verlobt und diese Frau dort konnte keine andere als seine Verlobte sein! Sie betrachtete betäubt, wie die hübsche Frau ihre Lippen auf die seinen presste, als würde er ohne ihre derartige Liebkosung umkommen. Verärgert ballte sie die Fäuste. Ihre Wut rettete sie über die Tränen hinweg, die sie in ihren Augen zu spüren begann. Wie konnte Airen ihr das nur antun? Reichte es ihm nicht, sie bereits verletzt zu haben? Musste er es nun ein weiteres Mal tun? Machte es ihm Spaß, sie mit diesem Kuss zu quälen? Wollte er ihr zeigen, dass er über sie hinweggekommen war, und sie demütigen?

    Plötzlich bemerkte Airen Lilians Blick und löste sich augenblicklich von seiner Verlobten. Ihre Blicke trafen sich. Unbehagen zeichnete sich auf seiner Miene ab. Die vornehme Dame hingegen erwiderte Lilians forschen Blick mit einem affektierten, unechten Lächeln. Sie trug ein prächtiges, rosafarbenes Kleid mit einem auffallenden, rüschenversehenen Mieder, welches ihren vollen Busen betonte. Sie war Lilian auf Anhieb unsympathisch.

    »Ihr müsst die Heilerin sein.« Sie musterte Lilian auffällig von Kopf bis Fuß, als diese aus der Box trat und sich vor der Adligen verneigte. »Habt Ihr es geschafft, dass Pferd meines Mannes zu retten?« Lilian schaute auf und begegnete kühl dem fragenden Blick. Dabei bemerkte sie, dass Airen, dessen gerade Statur wie ein dunkler Schatten neben seiner Verlobten in die Höhe ragte, Lilian mit seinen bodenlosen Augen ansah.

    »Zu Eurer Freude ist es mir geglückt, Herrin.« Lilian bemerkte mit Wohlwollen, wie über die versteifte, kontrollierte Miene eine Welle von Missfallen huschte. Airens Verlobte hatte wohl gehofft, dass Lilian scheitern würde. Damit nicht mehr das kranke Pferd im Mittelpunkt stand, sondern sie selbst? Was für eine überhebliche, eitle Gans!

    »Nun gut.« Die hübsche Frau kontrollierte sich schnell, der Ausdruck ihrer Abneigung verflog und statt seiner erschien erneut das unechte Lächeln. »Da der Hengst wieder bester Gesundheit ist, obliegt es keiner Notwendigkeit mehr, an diesem Ort zu verweilen.« Sie warf Lilian einen herabschätzenden Blick zu, hauchte Airen einen Kuss auf die Wange und machte auf dem Absatz kehrt.

    Schweigend sahen sie sich an. Tamaras Zuneigung gegenüber Dienstpersonal war nie besonders stark ausgeprägt, doch verdiente Lilian den Spott und die anderen Verletzungen nicht. »Lilian, es –«

    »Meine Dienste sind damit getan.« Hass züngelte in ihren blauen Augen auf. Aggressiv riss sie den Kräuterkasten an sich. »Wenn Eure Majestät es gestattet, werde ich nun gehen.« Statt Airens Antwort abzuwarten, trat sie an ihm vorbei und verließ mit großen Schritten die Stallungen. Wütend und verletzt gleichermaßen ließ sie die Burg Hiokar hinter sich und schwor sich, nie wieder herzukommen.

    Nach dem Abendmahl ging der Prinz erneut zu den Stallungen und bewunderte Lilians Heilkräfte. Notoija benahm sich gänzlich normal und fraß aus seinem Trog, keine Anzeichen von Tollwut oder anderem. Beruhigt lehnte er sich an das Gatter und kraulte den Hengst zwischen den Ohren. Er wusste nicht, wie Lilian es geschafft hatte, seinen treuen Gefährten zu heilen. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich Tamara kurzerhand um seinen Hals geworfen und ihn geküsst. Er war davon so überrascht gewesen, dass er unfähig gewesen war zu reagieren. Gewöhnlich mied seine Verlobte jeden Raum, der nach Arbeit, Schweiß oder Exkrementen roch. Ihre Abneigung gegenüber Pferden war sogar noch größer als diejenige gegenüber dem Dienstpersonal.

    Der Prinz runzelte die Stirn, während er seinen Blick weiterhin auf Notoija gerichtet hielt. Seit seiner Rückkehr schien sich Tamara ohnehin merkwürdig zu benehmen. Er konnte sich schlecht vorstellen, dass sie sich innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre, vor denen sie sich zuletzt gesehen hatten, dermaßen verändert hatte. Offensichtlich wollte sie in der Rolle seiner zukünftigen Frau seinen Respekt verdienen und seine Interessen teilen. Sie suchte ihn häufig in seinen Gemächern auf und schreckte sogar nicht davor zurück, sich bei gemeinsamen Erkundungen im Wald ihre teuren Kleider zu ruinieren.

    Notoijas friedliches Schnauben schubste Airen aus seinen Gedanken. Lächelnd strich er seinem Ross über die Nüstern. Er hatte Lilian viel zu verdanken. Hätte sie es nicht geschafft, den Hengst wieder zu heilen, wäre es vermutlich niemanden anderem gelungen. In diesem Moment fiel ihm auf, dass Lilian ihren Kräuterkasten gar nicht benötigt hatte. Er hatte die ganze Zeit über außerhalb der Box gestanden. Aber wie hatte sie dann Notoija heilen können? War sie doch von der Göttlichen Macht berührt worden? Er runzelte die Stirn. Irgendetwas schwirrte um sie herum, eine schicksalshafte Aura, die von Mal zu Mal deutlicher zu werden schien. Vielleicht hatte es auch an dem Schicksalsring gelegen, den sie an ihrem Finger getragen hatte. Verdammt, warum war Tamara gerade in diesem Moment zu ihm gekommen?

    Er stieß die Luft aus. Dieses Rätsel um Lilian würde vorerst bestehen bleiben. Er sollte sich lieber damit beschäftigen, wie er ihren Dienst, wie sie es genannt hatte, angemessen begleichen konnte.

    »Airen.« Der Prinz drehte sich um und wurde sich Bran gewahr, der direkt auf ihn zulief. »Ich habe mir gleich gedacht, dass du dich hier aufhältst.« Er betrachtete schmunzelnd das schwarze Ross. »Notoija ist tatsächlich wieder ganz der Alte«, stieß er verblüfft aus. »Lilian hat gute Arbeit geleistet.«

    »Ja, das hat sie.«

    Bran musterte Airen kurz aus dem Augenwinkel. Des Prinzen Gesicht glich wie so oft einer steinernen Maske, hinter dessen Zügen keine Gefühle sichtbar waren. »Ich habe sie auf dem Weg in die Stadt getroffen.« Airen zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Sie sah sehr getroffen aus.«

    »Das kann ich mir denken.«

    »Warum? Ist etwas passiert, als sie hier war?«

    Airen drehte sich zu dem Hauptmann um und betrachtete ihn einige Augenblicke, ehe er ihm eine Antwort gab. »Tamara kam zu uns in die Stallungen, als Lilian bei Notoija in der Box war. Sie ist nicht gut mit ihr umgegangen. Sie hat sie wie dreckigen Abschaum aus der Gosse behandelt.«

    Bran nickte langsam. Tamaras verachtende Einstellung gegenüber den unteren Schichten und der Dienerschaft war ihm in den wenigen Wochen, in denen er gemeinsam mit ihr auf dem Hof lebte, nicht entgangen. Es war keine Seltenheit, dass sich Adlige gegenüber Mindergeborenen derartig herabschätzend äußerten. Er selbst war allerdings kein Freund dieser Einstellung, weshalb ihm die Entscheidung des Königs, Airen mit dieser aufgeblasenen Ziege zu vermählen, noch unpassender erschien.

    Er warf Airen einen kritischen Blick zu. Irgendetwas in Airens Wortwahl und in seiner Körperhaltung sagte ihm, dass es nicht alles war, was zwischen Lilian und ihm vorgefallen war. »Sie ist jetzt bestimmt nicht gut auf dich zu sprechen«, versuchte er sich langsam dem Thema zu nähern.

    Airen lächelte müde. »Ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, nein. Sie ist ohne ein weiteres Wort an mir vorbeigerauscht. Ich konnte ihr noch nicht einmal meinen Dank aussprechen.«

    Sie schwiegen eine Weile, während ihre Blicke auf den Hengst glitten, der unbekümmert von dem Stroh fraß.

    »Ich habe mir überlegt, Lilians Arbeit angemessen zu entlohnen. Allerdings scheint mir ein Haufen Lorren kaum dafür geeignet zu sein. Sie würde das Geld vermutlich nur als unpersönliche Begleichung für ihre Dienste als niederer Lohnerbringer werten, über den man sich keine Gedanken zu machen braucht – und sie hätte Recht damit«, fügte er nachdenklich und mit einem grimmigen Unterton hinzu. »Das Geld würde sie niemals annehmen, dafür ist sie zu stolz und zu stur.«

    Bran lachte unverfroren. »In dieser Hinsicht ist Lilian nicht die einzige, die mit dem Kopf durch die Wand will.« Airen warf ihm einen erzürnten Blick zu, wandte sich dann jedoch wieder dem Pferd zu.

    »Sie verdient eine offizielle Entlohnung, denn ihr klammheimlich irgendetwas zuzustecken, wäre ihr gegenüber nicht gerecht.« Er seufzte. »Wahrscheinlich wird sie mich nicht empfangen wollen.«

    »Dann hinterlege es bei Agneta, wenn du sie besuchst«, schlug Bran vor.

    Airen runzelte die Stirn, während er über den Vorschlag nachdachte. »Morgen werde ich keinerlei Gelegenheit dafür haben. Ich habe eine Unterredung mit den Truppenführern …«

    »Dann lass es mich Lilian übergeben. Gegen mich hegt sie im Grunde keinen Argwohn.« Er grinste schelmisch, doch bemerkte es Airen nicht. Seine Gedanken schwirrten noch immer ungeordnet in seinem Kopf herum, sodass er Kopfschmerzen bekam. – »So scheint es wohl am besten zu sein. Hab vielen Dank, Bran.«

    »Nicht der Rede wert.«

    Sie verließen die Stallungen und gingen über den Hof, wo einige Bedienstete nach den Wünschen des Prinzen fragten. Nachdem Airen sie wunschlos fortgeschickt hatte, schien es Bran für die richtige Zeit, seinen Freund nach seinen wirklichen Problemen zu fragen.

    Airen schüttelte nur müde sein Haupt. »Deine Fragerei nimmt auch kein Ende mehr.« – Ein kurzer, müder Blick – »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll …« Er sah sich in der Hofanlage um. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass man ihn beobachtete, doch letztlich würde ihn hier niemand hören können. Er stieß frustriert den Atem aus. »Seit ich weiß, dass Lilian lebt, geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Tamara hat mich sogar vor zwei Tagen gefragt, ob ich eine andere Frau ihr vorziehen würde.« Er lachte kalt auf. Seine Verlobte war nicht nur aus diesem Grund lästig … Er dachte wieder an die junge Heilerin, die ihn diesen Morgen besucht hatte. »Ich kann sie einfach nicht vergessen. Sie schwirrt in meinen Gedanken wie eine Libelle, die sich nicht einfangen lässt.«

    Sie blieben an dem großen Brunnen mitten im Hof stehen. Aus der Spitze des spitzzulaufenden Turms, der aus übereinander gestapelten Muschelschalen bestand, plätscherte lautfröhlich Wasser. Langsam äußerte Bran seine Gedanken. »Auch wenn dir viel an ihr zu liegen scheint, solltest du am besten weitere Treffen vermeiden. Lasse mich ihr ein Geschenk in deinem Namen überreichen. Dann wirst du ihr nicht begegnen und die Angelegenheit im Zweifelsfalle besser ruhen lassen können.«

    Airen nickte geistesabwesend.

    Sie verabschiedeten sich. Bran musste zurück zu seinem Anwesen in der Stadt, was dem Prinzen sehr gelegen war. Es lag ihm zwar viel an Bran, um nicht zu sagen, sehr viel, denn schließlich war er sein engster Freund und Vertrauter. Dennoch waren seine Fragen bezüglich Lilian in letzter Zeit nur unangenehm zu beantworten. Bran brachte ihn immer wieder dazu, sich mit Lilian konkret auseinanderzusetzen, und das missfiel ihm. Seine Gedanken über sie zu verbalisieren, machte seine eigene innere Verzweiflung nur noch deutlicher.

    Nachdem er noch eine Weile in der Bibliothek weitere Bücher über seinen Urahnen gewälzt hatte, entschied er sich, sich endlich schlafen zu legen. Das Lesen hatte an diesem Tag ohnehin keinen Erfolg, weil ihm permanent Lilians Gesicht zwischen den Zeilen erschienen war. Als er den Flur zu seinem Wohngemach entlang ging, hörte er unerwartet zwei aufgebrachte Stimmen, die aus seinem Empfangszimmer zu kommen schienen. Neugierig blieb er stehen und horchte an der schweren, mit goldenen Einschlüssen strukturierten Holztür.

    »Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein hässliches Kleid war! Es war in einem sehr unvorteilhaften Grün gehalten und es war so schlicht wie eine weiße, kahle Wand. Und darüber – oh, ja! –, darüber trug sie eine fleckige Schürze! – Widerlich!«

    Obgleich Airen die Stimme nur sehr verzehrt wahrnehmen konnte, wusste er mit aller Sicherheit, dass seine Verlobte zu den Wartenden gehörte. Niemand sonst schien sich dermaßen mit Äußerlichkeiten beschäftigen zu können wie sie. Obwohl es schon spät war und er sich eigentlich ausruhen wollte, überlegte er kurz, nicht einfach umzukehren und wieder in die Bibliothek zu gehen. Zu einem erneuten Überfall von Tamara verspürte er wenig Lust. Doch dann hielt er inne. Der Reiz, in Erfahrung zu bringen, mit wem sich Tamara offensichtlich verbündet hatte, kämpfte sich in ihm hoch und er verharrte weiterhin vor der Eichentür.

    Tamara fuhr fort: »Wenn du sie doch nur gesehen hättest! Wie sie dort stand, mitten in diesem ganzen Dreck aus Pferdemist. – Ich weiß wirklich nicht, was Airen von diesen Pferden hält.«

    Der Prinz wurde mit einem Mal hellwach. Tamara sprach da nicht über irgendeine Person, wie er zuerst angenommen hatte. Sie sprach über Lilian! Kritisch lauschte er weiter. Hatte Tamara etwa schon in Erfahrung gebracht, dass Lilian die eine Frau war, an die er fortwährend dachte?

    »Meinst du nicht, dass du da ein wenig übertreibst?« Das musste die andere Person sein.

    »Keineswegs! Pferde stinken und machen nur Dreck. Sie sind lediglich dazu zu gebrauchen, eine Kutsche oder einen Karren zu ziehen.« Airen hörte ein spitzes Lachen, was seinen Zorn nur noch mehr entfachte. Er hatte ja gewusst, dass Tamara oberflächlich war, aber auf diese Weise nun ihre ehrliche Meinung zu hören, machte sie in seinen Augen nur noch unattraktiver.

    »Wenn das bloß dein Verlobter hören würde.« Dumpfes Gekicher. »Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Wenn du dich weiterhin an den Plan hältst, steht dir und deiner Hochzeit nichts mehr im Wege.«

    »Meinst du wirklich?« – Die kindische Hoffnung in diesen Worten war kaum zu überhören. – »Ehrlich gesagt, kann ich mir kaum vorstellen, dass diese einfache Magd zu Derartigem fähig sein soll. Sie ist doch nur –«

    »Tamara! Hast du denn alles vergessen, was ich dir erzählt habe?« Die andere Person schien nun erbost zu sein. »Ich habe sie zusammen gesehen! Sie wird nicht eher ruhen, bis sie sich alles unter den Nagel gerissen hat! Alles! Verstehst du? Alles, wofür du je gelebt hast. Und sie wird erst von hier verschwinden, wenn sie ihr Ziel erreicht hat.«

    »Aber sie ist doch bloß eine einfache –«

    »Du scheinst auch nur Kleider und Stoffballen im Kopf zu haben«, fiel der Unbekannte ihr barsch ins Wort. »Natürlich sieht sie äußerlich nicht danach aus, aber du vergisst ihre besonderen Fähigkeiten. Damit kann sie alles erreichen. Vergiss also nicht, was ich dir gesagt habe. Wenn alles nach Plan läuft, wird sie dir nie wieder in die Quere kommen.«

    Das Gespräch schien zu Ende zu sein und Airen entschied sich, den unbekannten Redner zu entlarven. Als er kurzerhand die Klinke herunterdrückte und den Warteraum betrat, saß nur Tamara auf der gepolsterten Sitzbank. Von dem Unbekannten fehlte jede Spur. Skeptisch sah er sich um. Der andere Redner musste entweder durch einen der Geheimgänge für die Dienstboten entschwunden sein oder in seinen eigenen Räumlichkeiten. Wenn er jetzt Tamara danach fragte, würde sie ohnehin alles leugnen. Mit großen Schritten betrat er seine Gemächer. Er spähte in alle Räume, als er sich auf dem Weg zum hinten gelegenen Badezimmer befand, damit Tamara nicht bemerkte, dass er sie belauscht hatte. Doch der unbekannte Sprecher blieb verschwunden.

    Airen verzog sich ins Waschzimmer und täuschte eine beginnende Erkältung vor, damit Tamara ihn in Ruhe ließ. Sie ging auch endlich, nachdem sie ausgiebig dafür gesorgt hatte, dass Airen mit Tees und anderen Kräuterextrakten ausreichend ausgestattet war.

    Als der Prinz in seinem Bett lag, beschlich ihn ein unheimliches Gefühl. Es war keineswegs ein gutes Zeichen, dass seine Verlobte durch die Zureden des Unbekannten Lilian als Konkurrenz ansah. Dadurch geriet Lilian ins Visier einer machtbesessenen, oberflächlichen, aber durchaus einflussnehmenden Grafentochter. Wenn Tamara es wollte, dass Lilian vom Erdboden verschwand, würde sie Mittel und Wege finden, ihren Wunsch in die Tat umzusetzen. Wenn er es sich recht überlegte, war die einfachste Maßnahme jene, Tamara in ihrem Amt als seine Verlobte zu bestärken und ihr eine liebevolle Sicherheit vorzuheucheln, dass sie seine einzig wahre Geliebte war. Damit würde sie vielleicht von Lilian ablassen und gleichzeitig musste er nicht abermals mit Lilian in Verbindung treten, um sie vor eventuellen Rachegelüsten seiner Verlobten zu warnen.

    Müde legte er sich die Hand über die Augen. Ob es die Zofe seiner Verlobten, Merinda, war, die Tamara gegen Lilian aufgehetzt hatte?

    * * *

    Agneta starrte besorgt aus dem Fenster. Mittlerweile war sie nicht mehr in der Lage, das Bett zu verlassen – ein Umstand, der besonders Lilian zu schaffen machte. Sie verausgabte sich täglich und verließ kaum noch das Haus. Zwar war sie den gestrigen Tag zu einem seltenen Hausbesuch aufgebrochen, doch war ihr Gesicht noch immer blass und sorgenzerfressen und ihre Heiterkeit, die zu früheren Zeiten das ganze Haus erfüllt hatte, war gänzlich verschwunden. Das zu sehen, machte Agnetas schwaches Herz mehr zu schaffen als ihre Krankheit.

    Als an diesem Morgen die Heilerin den jungen Molten auf dem Pflasterweg zu ihrem Haus sah, schienen die Götter ihre stillen Gebete endlich erhört zu haben. Zufrieden lauschte sie, wie Lilian dem Wirtssohn öffnete und mit ihm einige freundliche Worte austauschte, bevor sie erklärte, dass sie noch einige Dinge in der Küche zu erledigen hätte. Wie Agneta gehofft hatte, kam Konstantin nun zu ihr, um der Kranken einen höflichen Besuch abzustatten. Ihre Laune wurde immer besser, als der junge Bursche sie über das heutige Stadtfest informierte. Die Dinge konnten an diesem Tag nicht besser stehen!

    »Das klingt ja herrlich. Sag, wird denn auch Musik gespielt?« Agneta richtete sich ein wenig im Bett auf und ihre wachen Augen durchbohrten den jungen Mann, der verlegen auf dem Schemel neben ihrem Bett hin- und herrutschte.

    »Ja, es ist die Rede von einer Musikantengruppe aus einem Nachbardorf, dessen guter Ruf ihnen weit vorauseilt.«

    »Das hört sich ja prächtig an.« Sie schmunzelte, als sie Konstantins Schamesröte bemerkte. »Wie ich sehe, hast du Lilian noch nicht gefragt, ob sie dich begleiten will.« Er schüttelte schüchtern den roten Kopf. »Wie ich sie kenne, wird sie auch nicht zusagen.« – Bei diesen Worten schreckte er auf und blickte der Alten überrascht in die Augen. Agneta schmunzelte erneut. Für sie waren junge Leute so durchschaubar wie die Wasseroberfläche eines klaren Sees. Man musste sie nicht viel fragen und schon offenbarte sich der Kern ihres Denkens und Handelns. Konstantin war heute nicht umsonst zu so früher Stunde gekommen. Er hatte von Anfang an vorgehabt, Lilian zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde, denn, dass er Lilian mochte und begehrte, konnte gar ein Blinder erkennen.

    Es würde Lilian gut tun, wenn sie endlich einmal das Haus verlassen würde und dem trostlosen Alltag für einen kurzen Moment entrinnen könnte. Doch Agneta wusste, dass Lilians Verantwortungsbewusstsein ihr niemals einen Tag ohne Verpflichtungen erlauben würde. Man muss nur ein wenig nachhelfen, dachte sich die alte Frau und ihre Augen begannen zu leuchten.

    Sie wandte sich bestimmend an den Burschen. »Lilian wird keinesfalls das Haus verlassen, wenn dies bedeuten würde, dass ich allein bleiben sollte. Wenn du also dafür sorgst, dass eine verlässliche Person den Aufpasser für mich spielt, dann hast du gute Chancen, Konstantin, dass Lilian mit dir zu diesem Fest gehen wird. Ich würde es mir so sehr wünschen, dass sie das alles hier einmal einen Tag lang hinter sich lässt.«

    Konstantin sah die Heilerin ernst an. »Ich werde mein Bestes geben, dass Lilian den Tag genießen wird, werte Agneta.« Er erhob sich, verneigte sich und verließ das Zimmer.

    Wenige Stunden später schaute Agneta mit einem breiten Grinsen aus dem Fenster den beiden jungen Menschen hinterher, die gerade zum Fest aufgebrochen waren. Der Bursche hat es also tatsächlich geschafft! Sie lachte amüsiert auf. Ihr neuer Aufpasser hockte gerade in der Küche und füllte ihr etwas Brühe ab, die Lilian noch schnell zubereitet hatte. Zwar war sie nur widerwillig auf Konstantins Vorschlag eingegangen, doch am Ende hatte Agneta sehen können, wie Lilians Augen vor Vorfreude gestrahlt hatten. Endlich.

    Noch bevor sie den Festplatz erreichten, begegneten ihnen dutzende lachende und tanzende Menschen, die Lilian mit ihrem Frohsinn und ihrer Unbeschwertheit zunehmend ansteckten. Ein breites Grinsen schob sich auf ihre Miene und spiegelte sich in ihren blauen Augen wider, sodass sie ihre vielen Sorgen in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verbannte. Konstantin hatte Recht gehabt, sie musste sich auch einmal eine Auszeit gönnen – vor allem nach dem gestrigen Tag.

    »Es ist so schön, dich lachen zu sehen.« Konstantin drückte ihr einen mit Wein gefüllten Becher in die Hand, den er soeben von einem Stand erworben hatte.

    Lilian lachte zu ihm auf. »Das habe ich dir zu verdanken, Konstantin«, rief sie über das Gejohle der Leute hinweg. »Hättest du nicht darauf beharrt, dass ich dich begleite, wäre ich sicherlich eingegangen wie eine Pflanze ohne Wasser. Hab vielen Dank.«

    Der junge Mann griff sich lachend in das goldene Haar. »Wenn’s weiter nichts ist!« Er sah sie fröhlich an und warf dann einen Blick auf den Schal um Lilians Hals, den er ihr einst geschenkt hatte. Er passte hervorragend zu ihrem orangefarbenen Kleid, welches sie trug. »Du siehst wunderschön aus.«

    Lilian lachte verlegen. »Wie lieb von dir.« Sie grinste, dann richtete sich ihr Blick auf einen Punkt hinter ihm. »Dort kommen die Musikanten und bauen ihre Instrumente auf!« Sie wies mit ihrem Finger auf die Bühne, wo sechs Männer auf den Stühlen Platz nahmen.

    »Sie fangen an!«, hörten sie einen kleinen Jungen neben sich rufen, der sogleich zur Tribüne rannte, um die angepriesenen Musikanten zu beobachten. Schon fingen die Männer mit ihrem Spiel an und ihre wohl klingenden Töne und Rhythmen veranlassten die Menschen dazu, sich an die Hände zu nehmen und zu tanzen.

    »Komm!«

    Konstantin ergriff Lilians Hand und führte sie mit sich auf die Tanzfläche.

    »Aber der Wein!« Lilians Sorge ging in ihrem Lachen unter, als Konstantin ihr den Becher aus der Hand riss, mit einem Mal seinen Inhalt leerte und hinter sich in die Menge schmiss.

    »Lass uns tanzen!« Sein Grinsen ging bis über beide Ohren und Lilian ergriff seine Hände und ließ sich von ihm durch die berauschte Tanzmenge führen. Lachend schoben sie sich an den angetrunkenen Paaren vorbei, die sich unbedacht hin und her bewegten, sodass schließlich Konstantin seinen Arm um Lilian legte, um sie vor unerwarteten Ausfallschritten in Schutz zu nehmen.

    Das Fest war in vollem Gange. Der Wein floss, die Musikanten spielten ohne Pause und die Menge tobte. Dennoch stand eine Gestalt völlig starr und reglos an einem abseitigen Baum am Platz. Das Gesicht des Mannes lag im Schatten der Kapuze seines braunen Mantels. Er beobachtete die Menge, so, als würde er jemanden suchen, der sich hier aufhalten musste.

    Dann sah er sie. Der rotorangene Schal enthüllte das lachende Gesicht der jungen Frau. Ihr langes, offenes Haar wurde von den schnellen Bewegungen des Tanzes mitgerissen und verbarg ab und an ihr feingeschnittenes Gesicht. Dann bemerkte er den jungen Mann, der mit ihr tanzte und leicht erkennen ließ, dass er sie liebte. Er hielt sie fest und begehrte sie wie ein Lebenselixier.

    Lilian war sich nicht bewusst, dass sie beobachtet wurde. Sie genoss die Freude des Augenblicks und die zärtliche Umarmung von Konstantin, aus der er sie nicht mehr entließ. Dann, nach unzähligen Umdrehungen und Tanzschritten verließen sie die Tanzfläche, um sich eine Verschnaufpause zu gönnen, und setzten sich auf eine Bank. Konstantin sah Lilian mit roten Wangen an und Lilian bemerkte einen fremden Glanz in seinen Augen. Ihr Atem ging noch schwer und das Herz pochte ihr noch wild in den Ohren, doch sträubte sie sich nicht dagegen, als Konstantin sich zu ihr hinunterbeugte, um sie zu küssen. In dem Moment, wo lediglich eine Handbreite fehlte, dass sich ihre Lippen trafen, trat der Mann mit der Kapuze zu ihnen und zerstörte die intime Situation. Lilian erschrak, als sie das Gesicht des Mannes erkannte.

    »Bran!« Sie fiel dem jungen Ritter freudestrahlend um den Hals. Sie löste sich und starrte den jungen Ritter fassungslos an. Erst dann bemerkte sie, dass Konstantin Bran mit einem argwöhnischen Blick ansah. Hastig machte sie die beiden jungen Männer miteinander bekannt, was jedoch nichts an Konstantins eifersüchtigen Blick änderte.

    »Konstantin Molten«, stellte sie ihn zuerst vor, »Diged Bran.«

    »Der Hauptmann?«, fragte Konstantin überrascht.

    Lilian nickte, während sie Bran angrinste. »Wir waren einst Weggefährten.« Ihr Lächeln verlor eine Spur der Herzlichkeit, als sie sich an die Situation erinnerte, in der sie Bran das erste Mal begegnet war. Ihr Herz und ihr Vertrauen hatten damals Airen gehört … Sie zwang sich zu einem Lächeln.

    »Wenn das so ist, werde ich der alten Zeiten willen etwas zum Anstoßen holen.« Konstantin drückte flüchtig Lilians Hand und verschwand alsbald in der Menschenmenge.

    »Es scheint ihm viel an dir zu liegen.« Bran sah in die Richtung, in der Lilians Begleiter verschwunden war.

    »Was führt dich zu mir? Dein Besuch scheint mir nicht zufälliger Natur zu sein.«

    Bran setzte sich schweigend auf die Bank, sodass Lilian langsam seinem Beispiel folgte. »Du hast Recht«, sagte er dann. »Doch bevor ich dir mein Anliegen mitteilen will, so bitte ich dich inständig, bei der Nennung seines Namens nicht sogleich wieder aufzuspringen und zu verschwinden.«

    Lilian nickte getroffen, denn sie wusste zweifellos, von welchem Namen Bran sprach. Ihre Heiterkeit schwand und ein Gefühl der Ohnmacht erfüllte ihren zitternden Leib.

    Bran fuhr unbeirrt fort. »Ich komme in Airens Auftrag. Er wollte sich bei dir dafür bedanken, dass du sein Pferd geheilt hast. Notoija bedeutet ihm wirklich viel.« Er betrachtete sie kurz und bemerkte eine aufkeimende Wut in Lilians Augen. »Es tut ihm auch Leid, dass Tamara dich so schlecht behandelt hat, und möchte dich wissen lassen, dass sie keinen persönlichen Groll gegen dich hegt.«

    »Wie nobel von ihm!«, zischte Lilian verärgert und starrte gereizt auf den Boden.

    Bran sah sie überrascht an. Er hatte damit gerechnet, dass Lilian die Botschaft von Airen nicht gut annehmen würde, doch dass sie derartig schlecht auf ihn zu sprechen war, hätte er nicht gedacht. Langsam fuhr er fort, wobei er Lilian nicht aus den Augen ließ. »Wie ich von ihm gehört habe, geht es Agneta nicht gut.«

    Der jähe Themenwechsel irritierte Lilian und sie sah den jungen Ritter fragend an. »Sie wird sterben.« Sie starrte erneut auf den Erdboden und ihr Groll schien milder zu sein.

    Bran begann erneut. »Airen weiß, dass dir sehr viel an Agneta liegt, und auch er leidet sehr darunter … Deswegen wäre es mir eine Bitte, wenn du Airens Geschenk« – er holte ein kleines Paket aus seiner Manteltasche hervor – »annehmen würdest, damit er wenigstens glauben kann, dass du seine Entschuldigung annimmst.«

    Lilian hob den Kopf und in ihren Augen erkannte Bran eine solche Gereiztheit, dass er seine vorigen Worte bereits bereute.

    Vielleicht hätte er ihr einfach nur das Geschenk geben sollen, statt zu versuchen, sich als Vermittler zu geben.

    Lilian fuhr ihn barsch an. »Du verlangst von mir, dass ich Airen die Genugtuung gebe, sich seiner Sorgen zu entledigen?« Sie sprang heftig auf und funkelte Bran erbost an. »Ich soll ihm das Leben in seiner Feste mit Saus und Braus, mit allem, was sich ein Mensch nur wünschen kann, erleichtern? Ich soll ihm die womöglich einzige Sorge nehmen? Ihm? – Pah! Eher diene ich dieser aufgeblasenen Hofdame, die sich zu fein ist, einen Pferdestall zu betreten, als diesem verlogenen Kerl auch nur einen weiteren Gefallen zu tun!«

    Bran erhob sich nun ebenfalls. Traurigkeit bemannte ihn angesichts des Zornes, den Lilian empfand. »Es wäre mir wirklich wichtig, wenn du mir den Gefallen tun würdest, Lilian. Die Krankheit von Agneta nagt sehr an ihm, mehr, als du dir vielleicht vorzustellen vermagst. Letztendlich wäre es ein Schritt, den du auch für Agneta tun würdest –«

    »Was weißt du schon von Agneta?«, unterbrach sie ihn bissig.

    »Ich weiß, dass sich diese alte Dame nichts sehnlicher wünscht, als dass sich ihr Pflegesohn und ihre junge Pflegetochter gut verstehen.« Bran wurde nun ebenfalls lauter. Er mochte es nicht, den Vermittler zu spielen und damit zwischen den Stühlen zu stehen. »Du weißt selbst, Lilian, dass Agneta ihn wie ihren eigenen Sohn liebt. Es täte ihr gut, wenn sie wüsste, dass dieser Sohn daheim auch erwünscht ist.«

    »Du verlangst also auch noch, dass ich Airen wie einen ganz normalen Menschen behandele?« Sie brach zornig ab, weil in ihren Augen Tränen brannten. Wütend stapfte sie mit dem Fuß auf und fuhr sich harsch über das Gesicht. Sie atmete einmal tief durch. »Ich habe mir nicht mit Absicht ausgesucht, bei Agneta zu wohnen und zu leben. Es hat sich bloß durch Zufall so ergeben.« Sie grinste bitter. »Ich wusste nicht, dass sie seine Amme war. Aber wenn ich es gewusst hätte, wäre ich lieber als alte Frau auf der Suche nach dem Heilmittel gegen den Fluch anderswo gestorben …« Ihre Unterlippe bebte, doch fing sie sich wieder. »Ich möchte ihm nicht die letzten Tage mit seiner Amme nehmen.« Sie blickte ihn traurig an. »Sage ihm, dass ich sein Geschenk annehme, wenn er Agneta häufiger besucht.«

    Bran nickte besiegelnd. »Ich danke dir.«

    Er übergab ihr das in Leinen eingewickelte Päckchen. Eine Pergamentrolle war unter dem Stoffband, welches das Leinentuch zusammenhielt, befestigt. Fragend zog Lilian die Rolle hervor und las die wenigen Zeilen, die in einer geschwungenen, akkuraten Schrift verfasst waren.

    »Lilian,

    ich danke Dir vielmals für Deine Hilfe. Vor Notoija war dies mein liebstes Pferd. Airen«

    »Sein Vater hatte es ihm geschnitzt«, erklärte Bran, als Lilian verwirrt zu ihm aufschaute. »Bevor ich ihn kennenlernte, war es sein meist behüteter Schatz«, fügte er lächelnd hinzu und bemerkte, dass Lilian ihre Gefühle vor ihm verschloss. »Ich werde nun gehen.« Er wusste, dass Lilians Begleitung jeden Moment zurückkehren würde, und er hatte das Gefühl, dass der junge Bursche ihn, den Vermittler, fälschlicher Weise als Rivalen ansah. Es war sicherlich das Beste, weitere Missverständnisse zu umgehen. Er verabschiedete sich unmittelbar und ließ Lilian allein auf dem Marktplatz zurück.

    Nachdenklich schaute Lilian auf das Paket in ihren Händen. Sie zögerte, doch dann löste sie das feine Stoffband und entfernte das weiße Leinentuch. Überrascht zuckte sie zusammen: In ihren Händen lag kein schlichtes Holzpferd, es war ein goldener Dolch, in dessen prunkvollen Griff ein roter Stein eingefasst war.

    »Was ist das?«

    Lilian schreckte auf und erkannte Konstantins skeptischen Gesichtsausdruck.

    »Es ist ein Geschenk«, sagte sie tonlos und starrte perplex auf die Klinge. Von einem eigenartigen Impuls gepackt berührte sie mit dem Finger die Schneide und schnitt sich regelrecht in den Zeigefinger.

    »Ach, welch unsinniges Geschenk! Wozu sollst du den denn benutzen? Zum Kräuter schneiden?« Konstantin zückte sogleich ein Taschentuch und wickelte es um Lilians Finger. »Ist das etwa ein Geschenk vom Hauptmann?«

    »Nein, er hat es mir nur überbracht.« Lilian starrte noch immer auf den Dolch in ihrer Hand. »Es hätte ein Holzpferd sein sollen.« – »Wie?« Konstantin sah sie verdutzt an.

    »Hier auf dem Pergament stand, dass das Geschenk ein Holzpferdchen sein müsste. Auch Bran sprach davon.« Erklärend fügte sie hinzu: »Ich habe gestern das Pferd des Prinzen geheilt und als Dank sollte mir ein Holzpferdchen überbracht werden.«

    »Vielleicht hat der Hauptmann dir einfach das falsche Geschenk überbracht. Wer weiß, wie viele persönliche Dinge er im Namen des Prinzen überbringen muss.« Er grinste flüchtig, doch erstarb sein Lächeln schnell, als er bemerkte, dass Lilian noch immer perplex auf den Dolch starrte. »Vielleicht solltest du es zurückbringen. Wenn der Hauptmann ebenfalls von einem anderen Geschenk gesprochen hat, dann liegt höchstwahrscheinlich ein Missverständnis vor. Ich meine, du kannst nichts falsch machen, wenn du nachfragst.«

    »Ja, da magst du Recht haben.« Lilian lächelte müde und suchte alsbald nach einer Ausrede, um das Fest zu verlassen und nach Hause zu gehen. Mit Mühe schaffte sie es, Konstantin davon zu überzeugen, dass ihr Heimweg wirklich keine Verstecke für Banditen oder sondergleichen enthalte, sodass sie schließlich allein zum Haus der Heilerin lief.

    Während sie die kleine Brücke passierte, zermürbten sie zahlreiche Gedanken über das merkwürdige Paket, welches sie von Bran erhalten hatte. Es war unpassend für Bran, ihr versehentlich ein falsches Päckchen überbracht zu haben und noch unstimmiger, dass Airen im laufenden Band Päckchen verteilen ließ! Was hatte es also mit diesem Ganzen auf sich?

    Als Lilian die Tür zu ihrem Zuhause öffnete, legte sie den Dolch auf den Küchentisch. Sie wusste nun, was sie damit anstellen würde.

    Vollkommen ahnungslos trat der junge Konstantin Molten durch die Gassen. Er hatte sich mehr von diesem Abend für sich und Lilian erhofft. Schließlich hatte es doch so gut zwischen ihnen angefangen.

    Er hätte sie beinahe geküsst und sich endlich das genommen, was sein Verlangen so sehr begehrte. Doch dann war der Hauptmann mit seinem ach so tollen Geschenk aufgetaucht! Natürlich war es ein Geschenk des Prinzen, welches sofort erkennen ließ, dass es unpersönlicher nicht hätte sein können. Wie konnte man denn einer jungen Frau wie Lilian ein solches Geschenk machen? Was sollte sie denn bloß mit einem Dolch anstellen? Sie war doch eine Frau!

    Schnaufend bog Konstantin in die nächste Seitengasse. Hier war es beinahe stockduster, doch störte es ihn nicht, denn er kannte dieses Viertel wie kein anderes in der Stadt, sodass er das Licht nicht brauchte, um sich zu orientieren. Früher hätte er sich nicht allein hierher gewagt, doch mit dem Alter hatte er seine Ängste vor dem Gesindel, auf welches man gelegentlich stieß, abgelegt.

    Vollkommen aufgewühlt von seinen Emotionen bemerkte Konstantin nicht, dass sich ihm Schritte näherten. Tief in Gedanken versunken ging er durch die finstere Gasse, als er plötzlich grob nach hinten gerissen wurde und kurz danach gegen eine Wand krachte. Nach Luft ringend versuchte er, sich aufzurichten und sich zu wehren, doch erkannte er voller Panik, dass man ihn an den Händen und Füßen festhielt, sodass ein Fluchtversuch undenkbar war.

    »Wenn du dich ruhig verhältst, geschieht dir nichts!« Die Stimme einer Frau drang an sein Gehör und er erspähte einen Augenblick später eine kleinere Gestalt, die auf ihn zutrat. Ein schwarzer Mantel mit einer weitkrempigen Kapuze ließen sie beinahe vollständig mit der Dunkelheit verschmelzen. Mit einem mulmigen Gefühl in der Brust starrte Konstantin die Unbekannte an.

    »Was wollt Ihr von mir?«, blaffte er sie an.

    »Nun, das kommt ganz darauf an, wie sehr wir dir vertrauen können.« Ein kaltes Lachen erklang. »Was war in dem Päckchen, welches die junge Frau heute auf dem Stadtfest erhalten hatte?«

    »Ich weiß es nicht.«

    Ein Schlag von einem der kantigen Männer, die ihn festhielten, traf seine Magengrube.

    »Lüge mich nicht an, Konstantin Molten! – Was war in dem Päckchen, welches die junge Frau bekommen hatte?« Die Stimme der unheimlichen Frau wurde schärfer. Woher kannte sie bloß seinen Namen?

    »Ich weiß es nicht!«, erwiderte er wieder und fing sich erneut einen Schlag ein. Dieses Mal traf er ihn ins Gesicht, sodass seine Lippe aufplatzte und das Blut den Konturen seines Kinns folgte und schließlich auf den Erdboden tropfte.

    »Rede endlich oder willst du, dass meine Männer dir das Leben aus dem Leib prügeln?«

    »Was schert es Euch, was in dem Päckchen war?« Konstantin musterte die Frau unverwandt, doch die Kapuze verbarg noch immer ihr Gesicht, sodass er es alsbald aufgab zu versuchen, seine unangenehme Unbekannte zu erkennen.

    »Beantworte gefälligst ihre Frage!«, fuhr einer der unbekannten Männer ihn an und versetzte Konstantin abermals einen kräftigen Schlag gegen die Brust.

    Schwer atmend holte Konstantin Luft. Die Schmerzen in seinem Körper schienen immer unerträglicher zu werden, doch glaubte er zu erahnen, dass Lilians Leben in Gefahr schwebte, wenn diese Leute von dem merkwürdigen Inhalt in dem Päckchen erfahren würden. Er konnte und durfte ihnen also nicht die Wahrheit sagen, auch wenn eine Stimme in seinem Kopf permanent zu ihm schrie, er solle es tun. Was war schon dabei, wenn sie es wussten?

    »Ich weiß es nicht«, stöhnte er leidend und zog sich abermals einen Faustschlag zu.

    »Ich habe euch zusammen gesehen, als sie das Päckchen öffnete! Was war darin?« Die unheimliche Frau trat einen Schritt auf ihn zu und hob den Kopf an, sodass die Kapuze nach hinten glitt. Erstaunt blickte Konstantin in das hübsche, junge Gesicht einer Frau mit langem, braunem Haar, welches sie im Nacken mit einem schwarzen Band zusammengebunden hatte. Ihre grünen Augen funkelten ihn hasserfüllt an. »Du besitzt tatsächlich die Frechheit, mich weiterhin anzulügen?« Sie umschlang mit ihrer kalten Hand seine Kehle und drückte zu. Augenblicklich verspürte Konstantin eine unangenehme Kälte in seinem Leib, die von der Hand der Unbekannten ausging und seinen Körper malträtierte.

    »Was war in dem Päckchen?« Ihr Griff wurde immer fester und Konstantin bekam mit einem Mal Angst um sein eigenes Leben. Doch konnte er ihnen Lilian ausliefern?

    »Ich werde nichts … sagen …«, röchelte er.

    »Das war ein Fehler, Herzchen.« Mit einem eiskalten Lachen packte sie zu und Konstantin sackte zu Boden.

    * * *

    Noch am selben Abend trafen sich im Burggarten zwei Gestalten. Sie mieden es, erkannt zu werden und versteckten sich im hintersten Teil des Anwesens, im kleinen eingeschlossenen Wäldchen. Hier hatten sie sich schon einmal getroffen, damals, als sie die Anfänge ihres Plans geschmiedet hatten. Wäre das Rauschen des Windes nicht gewesen, so hätte man vielleicht im Burggarten die Stimmen gehört. Doch der Wind gab nicht nach und die Stimmen wurden eins mit dem Rauschen und Tosen des kühlen Nachtwindes.

    »Hast du es noch rechtzeitig geschafft?«

    »Natürlich, aber es war auch nicht schwer, in seine Gemächer zu kommen. Schließlich genieße ich in dieser Hinsicht ein gewisses Privileg.« Schadenfrohes Gelächter erklang, woraufhin die andere Person, sie zum Schweigen mahnte. – »Sch, wenn uns jemand hört, bringt das unseren Plan in Gefahr!«

    »Ach, du übertreibst. Wir werden einfach sagen, wir genießen den Nachthimmel!«

    Ihr Gegenüber lachte leise auf. »Wenn du das als Ausrede verwendest, fliegen wir sogleich auf. Hast du schon einmal einen Blick in den Himmel geworfen? Er hat sich vollkommen zugezogen. – Manchmal denke ich, dass es ein Fehler war, dich in diesen Plan einzubeziehen. Du gehst viel zu naiv an die ganze Sache heran.«

    Tamara winkte die Sorge mit der Hand ab. »Ohne meine Hilfe würde der Plan gar nicht zu realisieren sein.« Sie schwiegen kurz, ehe sie fortfuhr. »Ich habe es genau an die Stelle getan, an der er es hingelegt hatte. Es sah einfach identisch aus. Selbst die Größe hat gepasst. Und du hast Recht gehabt, er blieb heute auf der Burg.«

    »Ganz, wie ich es dir gesagt habe. Wenn alles so laufen wird, wie geplant, haben wir Airen genau da, wo wir ihn haben wollen!« Ein grausiges Lachen erklang, doch wurde es von dem Aufjaulen des Windes fortgetrieben.

    * * *

    Als Airen am nächsten Morgen spät aufstand, glaubte er, dass es noch Nacht wäre. Doch ein Blick aus dem Fenster genügte. Dunkle, dicke, schwere Wolken hingen am Himmel, vertrieben die goldene Barke des Sonnengottes Shepzuhank und ließen den Tag zur Nacht werden. Missmutig und das Schlimmste erwartend ging Airen sich ankleiden. Schnell streifte er sich ein von seinem Diener bereits zurechtgelegtes blaues Hemd und eine schwarze Weste mit goldenen Stickarbeiten über und zog sich anschließend eine Hose an. Dann trat er in den großen Wohnraum. Sein Kammerdiener Erobal erhob sich sogleich und verneigte sich. »Eure Hoheit, soll ich Euch das Frühstück bringen?« –»Ja, danke, Erobal.« Airen ließ sich in einen gepolsterten Sessel nieder und starrte aus dem großen Fenster, welches einen Blick auf die Koppel gewährte. Dort erkannte er erfreut seinen schwarzen Hengst, der friedlich unter einem Baum graste.

    Doch seine eben empfundene Heiterkeit verpuffte, als er sich an die Heilerin erinnerte, der er es zu verdanken hatte, dass sein edles Ross noch lebte. Ob sie wohl sein Geschenk angenommen hatte? Von Bran hatte er bisher keine Nachricht erhalten, weil ihn die Unterredungen mit seinen Truppenführern den ganzen gestrigen Tag gekostet hatten. Er war regelrecht ins Bett gefallen, als sie endlich ihr Ende gefunden hatten. Nachdenklich starrte er weiter aus dem Fenster heraus. Was Lilian wohl in diesem Moment machte? Wahrscheinlich sorgte sie sich um Agneta, deren Krankheit immer schlechter wurde, wie Airen wusste. Das Wissen, dass sie bald sterben würde, drückte ihm jedes Mal, wenn er daran dachte, eine unerträgliche Last auf seinen Brustkorb. Er hatte das Gefühl, dann nicht mehr atmen zu können und ebenso wenig in der Lage zu sein, sich davon zu befreien. Er musste sie unbedingt in den nächsten Tagen besuchen. Ganz gleich, dass zwischen Lilian und ihm diese Kluft entstanden war, Agneta war wie eine Mutter für ihn gewesen, er konnte sich nicht einfach von ihr fern halten.

    »Eure Hoheit.« Erobal stellte das Tablett mit frischem Brot, Fleisch, Käse und Obst auf den kleinen silbernen Tisch. »Wünscht Ihr noch etwas?« Erobal beobachtete vorsichtig den Prinzen, der noch immer auf die Koppel stierte.

    »Nein, Ihr könnt Euch nun zurückziehen.« Sein Blick blieb unverändert auf die Koppel gerichtet.

    Plötzlich durchdrang ein qualvoller Schrei die Stille. Airen sprang alarmiert auf. »Was war das?« Seine Frage blieb im Raume stehen, als der Schrei – es klang nach einer Frau – ein weiteres Mal erschallte. Blitzartig rannte Airen aus dem Raum, ließ den Diener perplex stehen und lief aus seinen Gemächern, bis er den Gang, der zu seinen Wohnräumen führte und längs am Innenhof zum Burggarten hin verlief, erreichte. Ungläubig riss er ein Fenster auf und erfasste das sich vor ihm befindende Spektakel. Von dem Fenster aus blickte er an der Front des Hauptgebäudes vorbei zu dem Brunnen vor der ausladenden Terrasse. Fassungslos erkannte er die zwei Frauen, die sich daneben gegenüberstanden. Airens Herzschlag setzte aus, als sich die mit dem Rücken zu ihm gewandte Frau umdrehte und niedersackte. Tamaras Kleid war voller Blut und hinter ihr stand wider Erwarten Lilian!

    »Bei den Göttern!« Erobal war dem Prinzen neugierig gefolgt und starrte mit dem gleichen, blassen Gesicht auf die sich ihnen dargebotene Szenerie.

    »Das kann nicht sein!« Airen schüttelte sprachlos den Kopf. »Das kann nicht Lilian sein!« Bestürzt rannte er den Gang entlang und ließ den verdutzten Kammerdiener abermals allein. Während er die langen Gänge der Burg passierte, Treppen heruntereilte und das schaulustige Personal beinahe zu Boden riss, hörte der Prinz die vernichtenden Marschschritte der Königsgarde. Panisch ging ihm die Frage durch den Kopf, was passieren würde, wenn die

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