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Der verlorene Schatten
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eBook241 Seiten3 Stunden

Der verlorene Schatten

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Über dieses E-Book

Philip, ein erfolgreicher Arzt, und Sophie, seine attraktive Sekretärin, die ein Traumpaar bilden, entschließen sich, eine Familie zu gründen. Doch aus der leidenschaftlichen Begierde wird ernüchternde Pflichterfüllung, aus dem idyllischen Dorfleben ein Ort des Grauens. Die Wirklichkeit, oder das, was Philip bis zu dem schicksalhaften Tag für diese hielt, vermischen sich immer mehr mit seinem Traum. Die Grenzen scheinen fließend ineinander überzugehen. Als dann auch noch eine Männer verschlingende Apothekerin ihn auf eine harte Probe stellt , sie ist der Traum einer jeden erotischen Fantasie, kommt plötzlich alles völlig anders als er denkt, denn nun holt ihn sein verlorener Schatten ein und seine Welt ist nicht mehr wie zuvor…
Ein sinnliches Porträt erotischer Entfesselung, das nur vom eigenen Traum gestört werden kann.


Der zweite Roman von di Cesare ist so ganz anders als erwartet. Und genau das macht ›Der verlorene Schatten‹ zu etwas Besonderem. Eine Geschichte mit vielen spannenden, erotischen und tiefgründigen Momenten. Wirklich wunderbar...

Farsin Behnam, Korrespondent & Redakteur, Bayerischer Rundfunk
SpracheDeutsch
HerausgeberSpielberg Verlag
Erscheinungsdatum1. Mai 2016
ISBN9783954520763
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    Buchvorschau

    Der verlorene Schatten - Reinhold di Cesare

    www.sllounge.de

    ›Liebe – und dann tue, was du willst.‹

    Dieser Gedanke Augustinus hatte sich unauslöschlich in Philips Gedächtnis eingebrannt. Sein Blick ging in die Ferne, wo er sich in den unendlichen Weiten der Toskana verlor. Die Abendsonne zog langsam über den Horizont hinweg und legte mit ihren warmen Strahlen einen rötlichen Schimmer über die italienische Ebene. Seitdem er mit Sophie das Casale Andrea – er würdigte auf diese Weise seinen gleichnamigen Freund und Franziskanerbruder – vor gut einem Jahr gekauft und zu einer Privatklinik hatte umbauen lassen, genoss er nach Feierabend gerne an dieser Stelle, nur unweit seines Anwesens, die absolute Ruhe und entspannte Atmosphäre, die ihm stets das einmalige Gefühl des vollkommenen Glücks schenkte.

    Das Casale Andrea war in der östlichsten Provinz der Toskana im Val di Chiana gelegen und bot den Patienten, abgeschieden vom turbulenten Alltag, eine wohlige Nische der Entspannung. Und dennoch waren in kurzer Zeit die Altstädte sowohl der berühmten Stadt Siena als auch der Provinzhauptstadt Arezzo, die sich gerne als eine moderne Stadt voller Geschichte präsentierte, zu erreichen. Auf diese Weise konnte man schnell in die temperamentvolle und aufregende Welt der Einwohner der Toskana abtauchen.

    Philip, der leger mit einem weißen Poloshirt und einer Jeanshose bekleidet war, atmete genüsslich den feinen Duft der Rosen ein, der vom angrenzenden, warmherzig gestalteten Garten zu ihm herüberströmte, als er den mit weißen Kieselsteinen bedeckten Gartenpfad entlanglief. Seine Augen waren von Stolz erfüllt, als er die Fassade des ihm gegenüberliegenden Gebäudes abfuhr. Mit dieser Privatklinik hatte er sich einen lang gehegten Jugendtraum erfüllt. Dieses für ihn so wertvolle Fleckchen Erde hatte seine liebevolle Frau namens Sophie in ihre besondere Obhut genommen. Und Philip hatte seiner Freundin gerne die Gartenpflege überlassen, wusste er doch um ihren grünen Daumen. Pflanzen, die er schon lange aufgegeben hatte und die von ihm ohne mit der Wimper zu zucken auf den Kompost befördert worden wären, fanden bei Sophie liebevolle Pflege. Das Geheimnis ihres Erfolges konnte er nie wirklich verstehen, allerdings bewunderte er ein ums andere Mal ihr Talent, tot geglaubte wieder auferstehen zu lassen.

    Einzelne Schäfchenwolken tupften das Blau, das immer mehr den pastellfarbenen Anstrich von orangefarbenem Licht erhielt. Nur unweit von dem Chefarzt Philip war ein kleiner Teich angelegt, der von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde und der einen schmalen Bach füllte, der sich in engen, symmetrisch angelegten Läufen durch den Garten schlängelte, um diesen kontinuierlich zu bewässern. Sein leises Glucksen und das Zwitschern der Vögel unterschiedlichster Arten erfüllten die warme Luft. Immer wieder trug eine sanfte Brise einen Hauch von frischem Lavendel und Orangen zu ihm herüber. Endlose Felder ergossen sich vor seinen Füßen.

    Das als Schwemmland bekannte Val di Chiana war ein 100 Kilometer langes Flusstal, das sich von Norden nach Süden zwischen der Ebene von Arezzo und Orvieto zog und mit der Ausnahme eines flachen Streifens in der Nähe des Canale Maestro hügelig war.

    Als Philip und Sophie damals, nachdem sie in Assisi das alte Wissen um die Symbolik der vier Elemente entschlüsselt und anschließend eine passende Immobilie für ihr neues Heim, das sogleich auch Klinik werden sollte, gesucht hatten, fiel die Wahl recht bald auf die beschauliche Gemeinde Civitella, die etwa 9.000 Einwohner zählte. Jedoch wohnten nur wenige Hundert von ihnen im Hauptort Civitella, der sich malerisch auf einem Hügel erstreckte.

    Das junge Liebespaar war bei der Durchschau der Anschauungsfotos unterschiedlichster Objekte, die ihnen ihr Immobilienmakler zur Ansicht zugesandt hatte, sofort von einem einzigen Gebäudekomplex immens angetan gewesen, auch wenn das Gehöft einen noch stark renovierungsbedürftigen Eindruck hinterließ. Es bestach durch seine Imposanz und sein überwiegend landwirtschaftlich geprägtes Umland mit ausgedehnten und weit verzweigten Feldwegen. Diese beiden Faktoren spielten bei der Wahl des Gebäudes eine entscheidende Rolle, sollte doch die Erholung der Patienten nicht zu kurz kommen. Der Anbau eines kleinen, angrenzenden Einfamilienhauses bot zudem die Möglichkeit, etwas abseits der Klinik zu wohnen. Philip und Sophie malten sich sogleich aus, wie sowohl sie selbst als auch die Patienten ausgedehnte Spaziergänge während der therapiefreien Zeiten im Umland unternehmen könnten. Das massive Mauerwerk, das schon einige Jahrhunderte den Launen der Natur getrotzt hatte, spielte natürlich auch eine Rolle. Bis heute hatten die Vorbesitzer dieses prächtigen Anwesens den ursprünglichen Charakter des Landstrichs bewahren können. Es war sozusagen Liebe auf den ersten Blick.

    Philip hatte es sich gerade auf einem Flecken Wiese hinter dem Casale Andrea in Nähe des Teichs gemütlich gemacht. Alle Viere von sich gestreckt, nahm er einen tiefen Atemzug, um den angestauten Stress des arbeitsreichen Tages in die Weite zu entlassen. Da stieg plötzlich die Erinnerung an den Tag des ersten Besuchs des Val di Chiana in ihm auf. Er und Sophie hatten zu jener Zeit leichte Schwierigkeiten, das historische Gebäude in unmittelbarer Nähe zu Civitella ausfindig zu machen, wo sich ihr gewünschtes Besichtigungsobjekt befand. Einheimische mussten ihnen letztendlich erklären, nachdem sie bereits einige Zeit ziellos im Ort umhergeirrt waren, dass sie in Richtung des Oratoriums der Madonna di Mercatale fahren sollten. Dort würden sie am alten Handelsweg zwischen Val di Chiana und Val d'Ambra fündig werden – so die Erklärungen. Als sie dann dort eintrafen und den ersten Eindruck in sich aufgenommen hatten, war es sogleich um die beiden geschehen: Es übertraf bei Weitem ihre Erwartungen. Die von ihnen angesehenen Abzüge waren im Vergleich mit dem Live-Eindruck nur ein billiger Abklatsch. Eine zweidimensionale Aufnahme hätte auch niemals die einzigartige Atmosphäre dieses Ortes wahrheitsgetreu transportieren können. Wie auch? Es war einer jener wenigen Punkte auf Erden, die einem beim Anblick vor Ehrfurcht die Sprache verschlagen. Und nur wenige Wochen später waren sie an diese pittoreske Stelle mit Sack und Pack umgezogen.

    Umgeben von ausgedehnten Feldern, auf denen saftige Reben und eine scheinbar unüberschaubare Anreihung von silbrig glänzenden Olivenbäumen das Umland um das Casale Andrea neben den Lavendelfeldern und Orangenhainen ebenfalls prägten, bot dieser Ort den Menschen mehr als nur Ruhe und Erholung inmitten einer zauberhaften Natur. Sie ernährte die dort Ansässigen auch und brachte so herausragende Weine wie den Poventa Valdichiana hervor, der an ein exzellentes Gemisch aus Trauben und Sauerkirschen erinnerte. Der Landstrich war zudem geprägt von hohen Zypressen und majestätisch wirkenden Pinienbäumen, gesäumt von prachtvoll blühenden Oleanderbäumen. Das Paradies, so beliebte Philip gerne zu sagen, könnte für ihn nicht schöner sein.

    Philip versuchte, die lästigen Gedanken des stressigen Arbeitstags als Chefarzt aus seinem Kopf zu verbannen. Er liebte seinen Beruf und ihm machte es auch nichts aus, als Chefarzt seiner eigenen Klinik keine geregelte Arbeitszeit zu haben. Umso mehr wertschätzte er seine Nischen der Freizeit, die er immer wieder in den Alltag einband, unabhängig davon, ob die Welt um ihn herum unterzugehen drohte. Das war ihm ein besonders wichtiges Anliegen. Denn mittlerweile hatte er gelernt, wie wichtig nach einer Phase der Anspannung die Regenerationsphase für das allgemeine Wohlbefinden war. Viele seiner Patienten verschlossen, mehr oder weniger unbewusst, die Augen, wenn es darum ging, an sich selbst zu denken. Warum sonst war ein Großteil seiner Patienten mit der Diagnose Burn-out bei ihm?

    Die Arme zwischenzeitlich hinter dem Kopf verschränkt, lag Philip auf dem frisch gemähten Rasen und starrte in den Himmel. Er atmete ganz ruhig und folgte mit seiner Aufmerksamkeit dem Rhythmus des Lebensflusses. Auf diese Weise verebbte die immerwährende Stimme in seinem Kopf zusehends, die gerne den emsigen Tag Revue passieren ließ, unterbrochen von steten, kurzen Einblendungen aus seiner Vergangenheit oder von Gedanken, die mehr oder weniger in der Zukunft verlagert waren. Er hatte sich bewusst entschieden, alle auftauchenden Bilder in seinem Kopf loszulassen, statt sich von ihnen hinwegtragen zu lassen. Seine Augenlider wurden immer schwerer. Sich wiederholende Trommeltöne, welche einige Patienten als Tagesausklang im Innenhof spielten, schmeichelten sich in seine Gehörgänge. Die einzelnen Schläge schienen mit ihm zu verschmelzen und es fiel ihm zunehmend schwerer, die bleiernen Deckel vor seinen Iriden nicht das Tageslicht ausknipsen zu lassen. Allerdings wogen sie zu schwer.

    Dann plötzlich, völlig unvorhergesehen, erhellte ein bemerkenswertes Strahlen sein Gesicht. Vor seinem geistigen Auge zeichneten sich überraschenderweise die kurvigen Konturen seiner Sophie ab. Immer wieder zauste der Wind an ihren blonden, langen Haaren, die sich nach ihm zu strecken schienen, so, als wollten sie ihn berühren. Ihr unverwechselbarer Wohlgeruch war zum Greifen nah und ihre samtweichen Gesichtszüge glänzten im warmen Licht. Sie stand hinter seinem Kopf und blickte ihn von oben herab direkt an. ›Ich liebe dich‹, glaubte er aus ihrem Mund zu hören und in seinem Inneren breitete sich ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit aus. Auch sie schien nun mit ihm zu verschmelzen. Philips Atem wurde immer ruhiger. Wie unsichtbare Geister schlichen sich nun beinahe unmerklich die Worte ›Welt‹, ›Bewusstsein‹ und ›ICH BIN‹ in seinen Kopf und hallten darin wie ein Echo wider. Das lärmende Knirschen, als ein Wagen auf die kieselbedeckte Einfahrt rollte, nahm er nur noch aus weiter Ferne wahr. Die Worte ›Welt‹, ›Bewusstsein‹ und ›ICH BIN‹ wechselten sich in ihrer Reihenfolge ein paar Mal ab, bis plötzlich aus dem Hintergrund erneut eine sanfte, weibliche Stimme ertönte. Die Frau, oder das Mädchen, sprach zuerst so leise, dass er seinen Namen beinahe überhört hätte. Jedoch gelang es ihr nach einer kleinen Ewigkeit, sich endlich durch Lärm in Philips Kopf durchzusetzen und sich so Gehör zu verschaffen.

    »Philip?« Eine Person mit wohlgeformter Silhouette blickte ihn fragend an. Ein fahler Dunstschleier behinderte die Sicht auf die Unbekannte und ihre herabbaumelnden Haare erledigten den Rest.

    »Sophie?… Bist du es, Sophie?« fragte er gedehnt. Seine Stimme klang beinahe unwirklich, als gehöre sie ihm nicht. »Aber wie …« Er konnte seine maßlose Verwunderung über ihr unangemeldetes Erscheinen nicht verbergen. Sie passte so überhaupt nicht in das Bild, in dem er gerade in seiner Fantasie schwelgte.

    »Ja, mein Lieber«, legte die Erscheinung beschwichtigend eine Hand auf seine rechte Schulter. Die Wärme, die von ihr ausging, beruhigte sein aufgewühltes Gemüt, das ebenfalls leichte Verunsicherung beherbergte. Warum, erschloss sich Philip nicht wirklich. Noch zweifelte er, ob es sich bei diesem Menschen tatsächlich um ›seine‹ Sophie handelte. Erst zu dem Zeitpunkt, da die Frau sich ganz nah über ihn beugte, da war er sich zu einhundert Prozent sicher: Es war Sophie. Er erkannte sie an ihrem köstlich-frischen Parfum, das sich mit dem Duft ihrer sonnengebräunten Haut zu einer unverwechselbaren Blüte vermischte.

    »Wir sollten gehen«, drängte Sophie eindringlich, als würde sie keinen Widerspruch dulden. »Unsere Aufgabe hier ist erfüllt. Lass uns nach Civitella gehen.«

    Die Szenerie vor Philips geistigem Auge hatte nun schlagartig gewechselt. Er blickte noch einmal nach unten in das frisch aufgerissene Loch. Ein erdiger Geruch stieg in seine Nase. In sein Gesicht war Verwunderung geschrieben, glaubte er doch, obwohl Sophie vor wenigen Augenblicken noch neben ihm verweilt hatte, sie nun dort unten im Schein unruhigen, schwachen Lichts erkennen zu können. Sie schien sich mühsam durch die Dunkelheit zu kämpfen. Erst jetzt bemerkte er, dass die Düsterkeit auch ihn wie ein schwerer Mantel umfangen hatte und ihn nicht mehr freigeben wollte.

    ›Schlafe ich?‹ Zweifel nistete auf Philips Miene. ›Ich lag doch eben noch in meinem Garten, oder etwa nicht?‹ Nach Anhaltspunkten suchend, wanderte sein Blick unruhig umher, als forsche er nach einer Bestätigung für den Traum, in dem er nun zu wandeln glaubte. Oder würde er zu einem gegenteiligen Schluss kommen? ›Und Sophie? Erst beugt sie sich über mich und dann… wie kann das nur sein?‹

    Noch bevor er auch nur eine sinnvolle Erklärung hätte finden können, die dieses scheinbare Durcheinander in eine gewisse Ordnung gebracht hätte, wurde es um ihn herum auch schon überfallartig enorm hell. Das Licht schien die Finsternis, die ihn zuvor fest im Griff gehabt hatte, wie ein gefräßiges Monster zu verschlingen. Seine immer noch geschlossenen Augen kniff er krampfhaft zusammen. Philip versuchte sich zu wehren: ›Nein, ich will nicht in das Loch hineinfallen! Nein, bitte nicht!‹ Sein auf dem Rasen liegender Körper wurde von unkontrollierbaren Muskelzuckungen erfasst. Jedoch schien der tiefe Sturz nun unausweichlich. Ein Wirbel aus gleißenden Strahlen erschien am Horizont und drehte sich nun immer schneller auf ihn zu, umkreiste ihn und zog ihn unwiderstehlich in sein Zentrum. Philip schrie vor Schreck gellend auf. »Was …« Der Wirbel duldete keine Widerrede und riss ihn einfach mit sich.

    Nachdem er eine kleine Ewigkeit durch Raum und Zeit geirrt war, konnte sich sein Geist langsam aus seinen Fesseln befreien. Sein Blick war ganz entrückt, als er blinzelnd über sich die wurmzerfressenen und über die Jahre marode gewordenen Holzbalken erfasste, die zersplittert durch das Erdreich wie umgefallene Mikadostäbe spitzten. Er konnte nicht abschätzen, in wie weit ihn die Erde verschlungen hatte. Die Vorstellung von Unendlichkeit drängte sich ihm auf. Unter seinen Füßen befand sich jetzt tatsächlich die geheime Schreibstube des Ubertino da Casale. Er vermisste Sophie, die er doch zuvor an genau dieser Stelle gesehen hatte. Oder hatte er sich einfach nur getäuscht? Von ihr fehlte jedoch jede Spur. Nachdem seine Augen sich an dieses dämmrige Licht gewöhnt hatten, erforschte er neugierig seine Umgebung. Allerdings zeigte sich ihm der Raum anders, als er ihn in Erinnerung hatte. Er machte zwar einige Details aus, die mit seiner abgespeicherten Vorstellung übereinstimmten, im Großen und Ganzen aber wirkte die Szenerie auf mysteriöse Art und Weise surreal. Der Glorienschein auf dem Kreuz ›Ianua nuntii, rus immortalitas‹ – das Tor des Boten eröffnet das Land der Unsterblichkeit – erhellte wie ein beabsichtigter Blickfang den viel zu kleinen, unterirdischen Bereich.

    Bei diesem Anblick stieg die Erinnerung seiner vergangenen Erlebnisse und an das Kreuzbild von San Damiano augenblicklich in Philip auf. Er spürte die Energie der zentralen Erkenntnis durch seinen durchtrainierten Körper fließen, die vom damaligen Geheimbund gut behütet, die Jahrhunderte überdauert hatte. Die anfänglich fehlende Liebe zu Beginn seiner abenteuerlichen Reise, die seit jeher die Wurzel allen Übels gewesen war und zur Verblendung des Geistes geführt hatte, strömte langsam aber stetig in jede Körperzelle zurück. Mit der allumfassenden Liebe und der harmonischen Vereinigung aller vier Elemente in seinem Innenraum erfuhr Philip wieder die göttliche Ganzheit.

    Die Liebe war nie wirklich aus seinem Inneren verschwunden gewesen, er hatte nur vergessen, wer er tatsächlich war. Bevor er Sophie kennengelernt hatte, war er wie kein anderer auf seinen physischen Körper fixiert und wie besessen vom Kampfsport gewesen. Während des Abenteuers quer durch die Metropolen Europas durchlief er nun nochmals wie in Zeitraffer seine persönliche Entwicklung bis zu jenem Punkt, da er auf die Schreibstube hinabschaute. Während des tiefgreifenden Prozesses, der alle vier Lebensebenen umfasste und von seinem Anfangspunkt dem physischen Körper, über die Emotionen, dann den Verstand und schließlich in der ausgewogenen Zusammenführung der Spiritualität aller vier Elemente als eine Einheit gipfelte, hatte er sich auf eine nie zuvor gekannte Art und Weise kennengelernt. Seine Sichtweise auf die Welt hatte sich von einer Minute auf die andere auf den Kopf gestellt.

    Philips Bild über sein jüngstes Abenteuer brach jäh ab, als er wahrnahm, wie seine Hand von einer weichen, ihm vertrauten Frauenhand umfasst wurde. Ein leichter Zug bedeutete ihm, dass er der Person folgen sollte. Jedoch konnte oder wollte er sich noch nicht lösen. Zu angenehm war es, in diesem Gefühl der Liebe zu baden. Der Griff wurde fester. Er versuchte, sich mit einer Geste des Widerwillens der Umklammerung zu entziehen. Lange, gepflegte Fingernägel krallten sich tief in seinen Handteller.

    »Philip!«

    Auch der zweite Zuruf verpuffte ohne Reaktion. »Philip!«, klang die weibliche Stimme nun energischer.

    Ungläubig deutete er auf die eigene Brust.

    »Nun komm schon! Es ist Zeit zu gehen!«

    Erst jetzt konnte Philip die Stimme einordnen – so glaubte er zumindest. Zum wiederholten Male, seit er sich zum Relaxen zurückgezogen hatte, war seine große Liebe in seiner fantastischen Geschichte wie aus dem Nichts aufgetaucht. »Ach Sophie, wenn ich dich nicht hätte«, stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

    »Ja, ja«, lächelte seine Freundin ihn mit zum Kuss geformten Lippen an. Es war so ansteckend, dass Philip zurücklächelte, zumal er ihre Antwort bereits voraussah. »Dann hättest du eine andere, die deine Seite schmücken würde!«, sprachen sie wie aus einem Guss diesen altbekannten Satz aus, mit dem sie sich immer wieder ein wenig neckten.

    Wie ein Astronaut in der Schwerelosigkeit trieb er immer tiefer in die gähnende Unendlichkeit hinaus, die sich erneut vor ihm ausbreitete und an die Unvergänglichkeit des Universums erinnerte. Die Wirklichkeit, oder das, was er für diese hielt, vermischte sich immer mehr mit seinem Traum. Die Grenzen schienen fließend ineinander überzugehen.

    Nachdem Philip scheinbar endlos lange an Myriaden glitzernder Sterne vorbeigeflogen war, wurde er plötzlich in ein schwarzes Loch gesogen. Sein Herz drohte zu zerspringen, da er nicht verstand, wie ihm gerade geschah. Ihm war, als würde er mit allem verschmelzen, sogar mit dem Nichts, bis alles zu einer homogenen Einheit zusammengeschrumpft war. Und dennoch war dieses EINE zugleich alles und unermesslich riesig. Das Eine war schwarz wie die tiefste Nacht, die man sich nur vorstellen konnte. Und plötzlich, ohne jede Vorwarnung, wurde er aus den Fängen des verdichteten Einen abgelöst und konnte mit Abstand das Mirakel beobachten. Auch nach der scheinbaren Trennung vom Einen blieb er mit ihm durch Hilfe von unsichtbaren, unzertrennbaren Bändern verbunden.

    Am Himmel strahlten die letzten Himmelskörper im schwachen Licht, bevor sie völlig ausgeblasen waren. Immer wieder warf

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