Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Trommeln von Sóller
Die Trommeln von Sóller
Die Trommeln von Sóller
eBook663 Seiten9 Stunden

Die Trommeln von Sóller

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Trommeln von Sóller
„Was weißt du über Mallorca?“ Für die vom Leben gezeichnete, getrennt lebende 47-jährige Carina ist der Fall klar: Ihr Wissen reicht nicht sehr weit über das Ballermann-Klischee hinaus, zumindest glaubt sie das. Und weil sie nichts von Ballermann und Co. wissen will, will sie auch nicht nach Mallorca. Aber sie braucht dringend eine günstige Urlaubsreise, um sich nach dem Trennungsstress von Mann und Kindern und dem erzwungenen Umzug zu erholen. Und so landet sie zum ersten Mal in ihrem Leben doch auf Mallorca, um sich für 14 Tage in Port de Sóller zu entspannen.
Was als erholsame Urlaubsreise geplant ist, entwickelt sich zu einer Reise in die Vergangenheit, in ihre eigene und in die Mallorcas. Da sie der laute Urlaubstrubel der Strandurlauber generell abschreckt und sie einfach Ruhe braucht, verbringt sie viele Stunden allein und philosophiert über Glück, Liebe, Leid, ihre Vergangenheit, über Gott und ihren tiefen Glauben an Jesus Christus. Dabei wird ihr nach und nach klar, dass sie sich immer wieder neu ihrer eigenen Vergangenheit und ihrem christlichen Glauben stellen muss, um mit den sie verbitternden Erfahrungen der Vergangenheit fertigzuwerden.
Und obwohl es nicht „eingeplant“ war, verliebt sie sich, zuerst in die Insel, dann in Sóller und schließlich bei einem Stadtfest in einen Unbekannten. Aber spätestens damit beginnt nicht nur eine in jeder Beziehung sehr ungewöhnliche Liebesgeschichte, sondern gleichzeitig ein Kampf gegen sich selbst und um ihre christlichen Werte. Und obwohl es für sie eigentlich selbstverständlich ist, begreift sie mit der Zeit ganz neu, dass sie als entschiedene Christin einen Auftrag hat, dem sie sich stellen will...
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum14. Aug. 2014
ISBN9783958302112
Die Trommeln von Sóller

Ähnlich wie Die Trommeln von Sóller

Ähnliche E-Books

Religiöse Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Trommeln von Sóller

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Trommeln von Sóller - Dietlind Bouchard

    Die Trommeln von Sóller

    Eine in jeder Beziehung ungewöhnliche Liebesgeschichte

    Roman

    Dietlind Bouchard

    Autorin

    Dietlind Bouchard, geb. 1962 im Nordhessischen Korbach, wuchs in der Landwirtschaft auf. Nach einer Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin in Mainz verbrachte sie ein Jahr in London.

    1992 zog sie mit ihrem Mann nach Fürth in Bayern, sie hat zwei Söhne. Nach Trennung und Scheidung 2011 begann sie zu schreiben. Die bekennende Christin ist seit 1992 Mitglied einer Freien Gemeinde in Fürth.

    Nach langer depressiver Leidenszeit, die über Jahre auf die schwierige Familiensituation geschoben wurde, erkrankte die Autorin 2010 erstmalig eindeutig an einer Bipolaren Krankheit. Diese Diagnose spiegelt sich auch in dem Roman wieder. Ihrer Protagonistin Carina ist am Anfang der Reise eher depressiv, nicht nur wenn sie sich in ihre eigene Vergangenheit und die der Insel vergräbt. Nach der Begegnung mit „Amicus" schlägt ihre Stimmung eindeutig ins manische um. Hier spiegeln sich die beiden Pole der Krankheit wieder.

    Zum Inhalt

    Die Trommeln von Sóller

    „Was weißt du über Mallorca?" Für die vom Leben gezeichnete, getrennt lebende 47-jährige Carina ist der Fall klar: Ihr Wissen reicht nicht sehr weit über das Ballermann-Klischee hinaus, zumindest glaubt sie das. Und weil sie nichts von Ballermann und Co. wissen will, will sie auch nicht nach Mallorca. Aber sie braucht dringend eine günstige Urlaubsreise, um sich nach dem Trennungsstress von Mann und Kindern und dem erzwungenen Umzug zu erholen. Und so landet sie zum ersten Mal in ihrem Leben doch auf Mallorca, um sich für 14 Tage in Port de Sóller zu entspannen.

    Was als erholsame Urlaubsreise geplant ist, entwickelt sich zu einer Reise in die Vergangenheit, in ihre eigene und in die Mallorcas. Da sie der laute Urlaubstrubel der Strandurlauber generell abschreckt und sie einfach Ruhe braucht, verbringt sie viele Stunden allein und philosophiert über Glück, Liebe, Leid, ihre Vergangenheit, über Gott und ihren tiefen Glauben an Jesus Christus. Dabei wird ihr nach und nach klar, dass sie sich immer wieder neu ihrer eigenen Vergangenheit und ihrem christlichen Glauben stellen muss, um mit den sie verbitternden Erfahrungen der Vergangenheit fertigzuwerden.

    Und obwohl es nicht „eingeplant" war, verliebt sie sich, zuerst in die Insel, dann in Sóller und schließlich bei einem Stadtfest in einen Unbekannten. Aber spätestens damit beginnt nicht nur eine in jeder Beziehung sehr ungewöhnliche Liebesgeschichte, sondern gleichzeitig ein Kampf gegen sich selbst und um ihre christlichen Werte. Und obwohl es für sie eigentlich selbstverständlich ist, begreift sie mit der Zeit ganz neu, dass sie als entschiedene Christin einen Auftrag hat, dem sie sich stellen will…

    Impressum

    Die Trommeln von Sóller

    Eine in jeder Beziehung ungewöhnliche Liebesgeschichte

    Roman

    Dietlind Bouchard

    2014

    Alle Rechte vorbehalten.

    Kontakt: d.bouchard@mnet-online.de

    Coverbild: Port de Sóller

    Foto: Dietlind Bouchard 2010

    Rechercheinformationen über Mallorca: Internet und Reiseführer

    E-Book-ISBN: 978-3-95830-211-2

    Verlag GD Publishing Ltd. & Co KG, Berlin

    E-Book Distribution: XinXii

    www.xinxii.com

    Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wiederverkauft oder weitergegeben werden.

    Die Trommeln von Sóller

    Die Wellen, sie kommen und gehen...

    Die Trommeln werden wieder erklingen.

    Und das Größte,

    was man für einen Menschen tun kann,

    den man liebt,

    ist,

    dass man ihn loslässt.

    Dietlind Bouchard

    1. Teil

    24.8.

    Auf der Placa Constitucio vor der großen Kirche Sant Bartomeu in Sóller wimmelte es von Menschen. Sie nahmen, jeder auf seine Weise, am Patronatsfest „Sant Bartomeu" teil.

    Es herrschte Festtagsstimmung. Die Bevölkerung von Sóller, die Händler an den vielen bunten Verkaufsständen und unzählige Touristen wirbelten bunt durcheinander. Dazu kamen viele Musiker, die einheitlich in weiße Hemden und dunkelblaue Hosen oder Röcke gekleidet waren. In den Restaurants rund um den Platz hatten die Besitzer, Kellner und Köche alle Hände voll zu tun, ihre Gäste zu bedienen. Dies geschah mit der üblichen Mischung aus mallorquinischer Gelassenheit und der gebotenen Zügigkeit, um alle Gäste zufriedenzustellen.

    Die zierliche Frau mit den schulterlangen blonden Haaren, die sich seit wenigen Minuten ihren Weg durch die quirlige Menge bahnte, sah sich neugierig um. Sie trug eine Bluse mit einem Blumenmuster auf weißem Grund, eine lange, schwarze Hose, die sie wegen der Hitze lässig hochgekrempelt hatte, und schwarze Sandalen. Sie war eindeutig als „Tourista" zu erkennen.

    Bis jetzt hatte sie die große, graue Steinkirche mit dem hohen Portal immer nur von Port de Sóller aus gesehen. Selbst von dort aus bot sie, besonders abends, wenn sie angestrahlt wurde, einen imposanten Anblick. Diese Kirche ragte im wahrsten Sinne des Wortes über ihre Umgebung hinaus. Nun sah Carina zum ersten Mal an der hoch aufragenden, grauen Jugendstilfassade empor. Hier wurde sie, wie bei ihrem Besuch in Palma, wieder mit dem Modernisme, der katalanischen Form des Jugendstils, konfrontiert. Eine breite Treppe führte zum Atrium. Die drei Spitzbögen wurden von zwei Engelsskulpturen des Bildhauers Joan Alcover geschmückt. Die gesamte Eingangsfront deutete wie Pfeile auf ein großes, prachtvolles Rosettenfenster, das in Barcelona angefertigt worden war und Maria und die Märtyrer darstellte. Die luftige Galerie aus neun Rundbögen wirkte auf Carina wie eine Krone über einem Gesicht aus buntem Glas. Diese wurde an den Seiten von zwei weiteren Pfeilern flankiert, die wie lange, spitze Pfeile in den wolkenlosen Himmel ragten.

    Carina hatte eine Fassade wie diese noch nie zuvor gesehen. Sie wirkte auf sie wie ein einziger, zu Stein gewordener Hinweis auf den Himmel, der zu sagen schien: „Mensch, denk nach, es gibt mehr als das Leben auf dieser Erde."

    Vor dem geschlossenen Eingangsportal der eindrucksvollen Kirche versammelten sich die Musiker auf der breiten Treppe. Die einen unterhielten sich, während die anderen ihre Instrumente stimmten. Immer mehr Musiker kamen dazu. Es würde eindeutig irgendwann ein Konzert geben.

    Lange Stuhlreihen luden zum Hinsetzen und Zuhören ein. Sie waren mit Blick auf die Kirche auf einem von einer niedrigen Mauer umrandeten Platz, der unmittelbar vor der Kirche lag, aufgestellt worden. Carina stellte fest, dass ein römischer Brunnen in der Mitte des Platzes einigen Zuhörern die Aussicht auf die Musiker versperren würde.

    Carina betrat den Platz, der den Mittelpunkt der Placa Constitucio bildete, über eine flache Treppe. Sie sah zu den Platanen hoch, die mit ihrem dichten Laub für Schatten sorgten und dem ganzen Platz seinen unverwechselbaren Charme und Charakter gaben. Ohne sie, das wurde Carina sehr schnell klar, als sie sich umsah, wäre er nur halb so schön gewesen.

    Von rechts neben der Kirche hörte sie ein bekanntes Geräusch. Unbeeindruckt von dem quirligen Leben bahnte sich eine alte, hölzerne Straßenbahn, unzählige Warnsignale ausspuckend, rumpelnd und schaukelnd ihren üblichen Weg durch die Menge und an den Verkaufsständen vorbei, um nach Port de Sóller zurückzufahren. Vorhin hatte sie selbst die Fahrt in den luftigen, orangebraunen Wagen und das beeindruckende Panorama der mehr als tausend Meter hohen Berge genossen, die Sóller und das Hafenstädtchen Port de Sóller jahrhundertelang von Mallorca getrennt hatten.

    Carina dachte daran, wie sie noch vor Kurzem neben dem Fahrer gestanden hatte und er ihr die Namen der höchsten Berge, die Sóller umgaben, nannte. Stolz hatte er auf den Puig de l’Ofre, den mit 1098 Metern fünfthöchsten Berg Mallorcas, gezeigt. Und, als sie fast am Bahnhof angekommen waren, natürlich auf den Puig Major, den mit 1445 Metern höchsten Berg der Insel, der zum Ärger manches Bergsteigers und Wanderers schon seit Jahrzehnten teilweise militärisches Sperrgebiet war.

    Erst 1912 hatte die Eisenbahn von Palma nach Sóller die erste Landverbindung mit modernen Verkehrsmitteln durch die unwegsame Berglandschaft möglich gemacht. Zum ersten Mal brauchten die Händler ihre Waren nicht mehr auf Schiffen oder mit Eseln über gefährliche Bergpässe aus der abgeschiedenen Region herauszubringen, sondern konnten den deutlich einfacheren Weg in die Hauptstadt benutzen. Außer den schmalen, gefährlichen, steinigen Saumpfaden über die Pässe hatte es seit der Besiedelung der Insel für die Bevölkerung des abgelegenen Tals nur den Seeweg gegeben, um das Tal zu verlassen. Irgendwann schlängelte sich die Passstraße, der Coll de Sóller, in vielen Windungen fast 500 Meter über die Berge und seit wenigen Jahren erleichterte ein langer Tunnel den Weg in die Kleinstadt.

    Während sie zu der Bahn hinübersah, musste Carina unwillkürlich lächeln, als sie sich an die nur wenige Minuten zurückliegende Szene am Kopfbahnhof von Sóller erinnerte. Sie hatte die alte Eisenbahn und die Straßenbahn zusammen fotografieren wollen und war dafür viel zu nah an das Bahndepot herangegangen, im dem eine Reihe von Fahrzeugen stand. Als einer der Eisenbahner das bemerkte, hatte er sie mit deutlichen Worten und Gebärden zurückgewinkt. Auch wenn sie kein Wort verstanden hatte, so waren seine Gesten doch unmissverständlich. Seinem Gesicht war allerdings deutlich anzumerken gewesen, dass er nicht wusste, ob er streng sein oder sich über so viel Interesse am Fahrzeugbestand von Seiten einer Touristin freuen sollte. Sie hatte die Bilder für ihre Söhne gemacht, die zur Zeit mit ihrem Mann in Urlaub waren.

    Nun sah Carina den gemütlichen Wagen der Straßenbahn hinterher, wie sie sich gemächlich ihren Weg bahnten, um bald darauf in einer Nebenstraße zu verschwinden. Teilweise hätten die Passagiere von der Plattform aus nur die Hand auszustrecken brauchen, um die Waren an den unzähligen Ständen mit Schmuck, Kleidung und vielen anderen, oft in Handarbeit hergestellten Dingen zu erreichen. Das Angebot der vielen Händler war unüberschaubar, bunt und vielfältig und lud zum Bummeln und Stöbern ein. Allerdings bemerkte Carina, dass sie zum Einkaufen schon fast zu spät hier angekommen war. Einige der Händler begannen, ungewöhnlich früh für hiesige Öffnungszeiten, die restlichen Waren zu verstauen und die Stände abzubauen.

    Eine Gruppe junger Männer schob sich in ihr Blickfeld. Sie liefen, wie viele andere Anwesende auch, mit dunklen TShirts herum, auf denen in geisterhafter Schrift der Name Esclatabutzes stand. Carina wusste durch ein Plakat, das seit Tagen in allen Hotels in mehreren Sprachen aushing, dass dies der Name einer Truppe war, die ab ca. 23 Uhr ein buchstäblich teuflisches Schauerstück aufführen würde.

    Als entschiedene, bibeltreue Christin hatte sie es zwar überhaupt nicht mit Teufeln und Geistern, aber, aus welchem Grund auch immer, doch den Eindruck, dass sie das Fest auf keinen Fall verpassen durfte. Allerdings war sie sich immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob sie sich das Schauermärchen wirklich ansehen wollte. Sie setzte sich auf einen der noch leeren Konzertstühle und blieb einen Moment sitzen, um sich in Ruhe weiter umzusehen. Eines wurde ihr immer klarer: Sie musste etwas essen und es war sinnvoll, jetzt, am frühen Abend, einen Platz in einem der Lokale zu finden.

    Sie sah sich auf dem Platz genauer um. Die meisten Häuser waren relativ klein und so dicht aneinandergebaut, als wollten sie eventuellen Angreifern keinen Platz zum Durchbruch bieten. Außer der Kirche ragte links von ihr ein weiteres Gebäude aus dem Ensemble der anderen heraus. Genau wie die Fassade der Kirche war auch die Banco de Sóller von Joan Rubió i Bellver entworfen worden. Die einzigartige Fassade hatte nichts, aber auch gar nichts mit den glänzenden, glatten Fassaden moderner Bankgebäude gemein. Rechts neben der Kirche war ein Gebäude teilweise mit einem Vorhang zugehängt. Carina betrachtete es nur kurz, dann wandte sie sich ab und ließ den Blick weiterwandern.

    Die meisten der zahlreichen Lokale, die den Platz umgaben, lagen so, dass man das Kirchenportal und die Musiker von dort aus nicht richtig sehen konnte. Es gab im Grunde genommen lediglich ein nur halbvolles Lokal, von dem aus man die Kirche, die Musiker und den größten Teil des Platzes aus nächster Nähe überblicken konnte. Sie ging zu dem Ständer, auf dem die Preisliste des Lokals auslag. Die Preise entsprachen ihren Vorstellungen und waren für ein Lokal in dieser Gegend relativ niedrig. Sie war nun schon seit neun Tagen hier auf Mallorca und hatte sich nicht nur längst an das Preisniveau gewöhnt, sondern wusste in der Zwischenzeit auch deutlich mehr über diese faszinierende Insel, die sie, entgegen aller Skepsis und Vorurteile, vom ersten Augenblick an in ihren Bann geschlagen hatte.

    Die Hälfte der Tische im Freien war besetzt. Carina setzte sich in die Mitte unter einen der ausladenden, rechteckigen Sonnenschirme und ließ den Blick über den Platz gleiten. Links von ihr ragten die Fassaden der Bank und der Kirche empor. Allerdings wurde der Blick nach oben nun durch den Sonnenschirm begrenzt. Aber das störte sie nicht.

    Sie beobachtete, wie rund um den Platz erstaunliche Mengen an Feuerwerkskörpern angebracht wurden. Die Art, wie sie an langen Kabeln von Hauswänden quer über die Straße zu den Bäumen und Straßenlaternen geführt und dort befestigt wurden, wirkte auf sie als Deutsche teilweise geradezu abenteuerlich und verstieß mindestens gegen ein Dutzend von Vorschriften im deutschen Paragrafendschungel. Bestimmt entsprach kaum einer der Feuerwerkskörper, die über den Köpfen der Menschen hingen, ihrem gewohnten deutschen Sicherheitsstandard, das wurde ihr schnell klar – ohne auch nur eines der betreffenden Gesetze tatsächlich zu kennen. Kopfschüttelnd sah sie den Männern zu, die emsig damit beschäftigt waren, weitere Kabel mit Feuerrädern und anderem Equipment anzubringen. Es war für sie eindeutig: In ihrer deutschen Heimat würde ein Feuerwerk wie das, welches hier in Vorbereitung war, schon allein wegen der Verstöße gegen Sicherheitsnormen vermutlich gar nicht erst genehmigt werden!

    Mit Schaudern dachte sie an den ernst gemeinten Vorschlag von zwei Abgeordneten des deutschen Bundestags zurück, der im Juli 1993 durch die Presse ging: „Mallorca soll deutsch werden." Der Vorschlag enthielt die Überlegung, Mallorca für 99 Jahre auf Erbpacht zu übernehmen, so, wie England es mit Hongkong gemacht hatte, oder es dem spanischen Staat für schätzungsweise 50 Milliarden D-Mark abzukaufen. Wie „ernst" die Regierungen diesen Vorschlag nahmen, konnte man daran erkennen, dass man nie wieder etwas von ihm hörte.

    Im gleichen Jahr versuchte ein Großhändler auf Mallorca, eine deutsche Partei zu gründen und forderte, dass bei den Gemeinderatssitzungen nicht Mallorquin, sondern Castellano, also Spanisch, gesprochen werden sollte, was ein deutlicher Affront gegen die Einheimischen war. Carina hatte keine Ahnung, ob damit die deutsche Partei gemeint war oder der Streit um die Sprachen. Wahrscheinlich aber war es beides gewesen.

    Nachdem sie in den ersten Tagen noch überhaupt nichts über Mallorquin, die hier gesprochenen Sprache, gewusst hatte, hatte sie inzwischen erfahren, dass sie zum Katalanischen gehörte. Die katalanische Sprache war eine Mischung aus den verschiedenen romanischen Sprachen. Mal war sie dem Französischen, dann dem Italienischen oder dem Portugiesischen und selbstverständlich auch dem Spanischen ähnlich. Sie hatte gelesen, dass Katalanisch bzw. Català, wie die Sprache richtig hieß, eine Weiterentwicklung des Vulgärlateins war und als Brückensprache zwischen dem Galloromanischen und dem Iberoromanischen bezeichnet werden konnte. Sie entstand, weil der Herrschaftsbereich des iberischen Westgotenreiches weit bis in das Gebiet der heutigen Provence reichte. Der fränkische Einfluss unter Karl dem Großen erstreckte sich damals über die Pyrenäen bis in die katalanischen Grafschaften. Bis heute wurde Katalanisch in einem relativ schmalen Streifen Spaniens gesprochen, der sich von Alacant bis zur französischen Grenze zog und dort bis fast an Toulouse heranreichte. In dem winzigen Staat Andorra war es die alleinige Amtssprache, und auf den Balearen, nach dem unbeliebten Spanisch, die zweite. Mallorquinisch wiederum war eine Variante des Katalanischen.

    Angeblich war die Diktatur Francos mit daran schuld, dass die Bewohner der Balearen das Spanische nicht besonders mochten. Auch wenn die Mallorquiner im Wesentlichen auf der Seite Francos gewesen waren, so mussten sie, wie andere Regionen auch, hinnehmen, dass regionale Interessen, Bestrebungen und Sprachen unterdrückt wurden. Erst um 1960 wurde der katalanischen Sprache, zunächst im kirchlichen Bereich, wieder etwas Raum gegeben. Nach dem Tod des Diktators bekamen auch die Balearen im Rahmen des Regionalisierungs-und Demokratisierungsprozesses Mitte der Achtzigerjahre einen bedeutenden Teil ihre Eigenständigkeit zurück. Heute ging es den Menschen darum, die katalanische Sprache gegen das allgegenwärtige Spanisch zu erhalten.

    Carina zweifelte nach all dem, was sie in der Zwischenzeit erfahren hatte, sehr daran, dass es nur an der Francoherrschaft lag, dass der Sprachenstreit nicht zu beenden war. Sie glaubte, während der Tage, die sie hier auf Mallorca verbracht hatte, eines begriffen zu haben: Hinter dem Sprachenstreit steckte ein uraltes Trauma. Auch wenn Spanisch oder besser gesagt Kastilisch bzw. Castellano eine der großen Weltsprachen war, ein Status, der dem Katalanischen immer verwehrt bleiben würde, so traf man mit Katalanisch bzw. Mallorquin ins Herz der Mallorquiner.

    Kastilisch war die Sprache der spanischen „Eroberer" und symbolisierte die Macht, die sie auf den Balearen ausgeübt hatten. Natürlich lag die Eroberung Mallorcas durch Jakob I. von Aragón schon Jahrhunderte zurück. Nach der Eroberung der Insel verbreitete sich auch zuerst das Katalanische. Aber spätestens seit 1349 wurde die Herrschaft Spaniens über die Insel unwiderruflich gefestigt. Mallorca war seitdem immer eine spanische Provinz gewesen. Und wie damals üblich, wurde die Insel unter den Gefolgsleuten des Königs aufgeteilt. Für Carina war klar, dass im Laufe der Ereignisse mancher Besitz eines in Ungnade Gefallenen an einen anderen Günstling der Krone weitergegeben worden war. Damit lag für sie auf der Hand, dass Spanisch immer auch die Sprache der Oberschicht war, die häufig alles andere als zimperlich mit den Ureinwohnern umgegangen war.

    Das Kastilische wurde schließlich als spanische Amtssprache durchgesetzt und 1716 per Gesetz als Unterrichtssprache verbindlich festgelegt. Theaterstücke auf Katalanisch wurden 1779 verboten.

    Es war der Tiefpunkt der katalanischen Sprache, die Zeit der decadència. Aber Català oder noch besser Mallorquin, diese ureigene Inselsprache, behauptete sich trotz allem in all den Jahrhunderten gegenüber dem Kastilischen und machte letzten Endes die Seele des Inselvolkes aus. Carina vermutete, dass schon allein deshalb der Sprachenstreit nie enden würde.

    Ihr Blick wanderte wieder zu den Kabeln, die mit Feuerwerk gespickt waren. Was wäre gewesen, wenn der Vorschlag, aus Mallorca das 17. deutsche Bundesland zu machen, tatsächlich verwirklicht worden wäre? Um ein Feuerwerk wie dieses unter deutscher Gesetzgebung zu ermöglichen, hätte es eindeutig einen balearischen Sonderstatus geben müssen. Und was hätte es bedeutet, wenn die Briten ihrerseits Magaluf als Enklave beansprucht hätten? Mal völlig abgesehen davon, dass Carina nicht wusste, wie lange Magaluf schon eine Ferienhochburg der Engländer war.

    Hätte es dann ein zweites „Gibraltar", mit balearischem Sonderstatus unter deutscher Verwaltung, gegeben...?

    Carina musste über ihre eigene Fantasie lachen, die so absurde Blüten trieb.

    NEIN! Mallorca den Mallorquinern! Que viva Еspaña! Salute!

    In Gedanken hob sie ein imaginäres Glas und prostete Menschen zu, denen sie nie begegnen würde.

    Carina ließ den Blick wieder über die bunte, quirlige Szenerie gleiten, die sich ihr bot. Sie fühlte sich wohl hier. Wenn ihr vor ihrer Reise jemand gesagt hätte, dass ihr diese Insel in kürzester Zeit ans Herz wachsen würde, hätte sie es nicht geglaubt. Viel zu unhinterfragt hatte sie vor der Abreise die unzähligen Klischees im Kopf gehabt, die über Mallorca kursierten.

    Der Nachtportier ihres Hotels, ein schlanker, grauhaariger Mann, ging an ihr vorbei in das Lokal und sie begrüßten sich kurz. Sie blickte hinter ihm her und registrierte, dass er sich in dem gemütlichen Lokal eindeutig wie zu Hause fühlte. Eine junge Kellnerin kam an ihren Tisch. Carina bestellte ein Glas Wein und einen mallorquinischen Eintopf, um dann das Geschehen auf dem Platz weiter zu beobachten.

    Vier große Männer tauchten plötzlich an dem Tisch vor ihr auf, setzten sich und versperrten ihr damit einen bedeutenden Teil der Sicht auf die Musiker und den Platz. Die vier ließen ihre Rucksäcke und Taschen achtlos auf den Boden gleiten und legten Kameras und Zigarettenpackungen auf den Tisch.

    Leiser Ärger über sich selbst stieg in Carina auf. Sie hätte sich vorher ohne Probleme an den Tisch setzen können, an dem die Männer ihr nun die Sicht versperrten. Nun war es zu spät und sie musste die deutlich eingeschränkte Aussicht hinnehmen. Ihr Blick schweifte ohne jegliches Interesse über die lässig angezogene Gruppe und über die Gesichter, soweit sie sie sehen konnte. Zwei der Männer saßen mit dem Rücken zu ihr. Ausgerechnet die schienen die größten der Gruppe zu sein!

    Auf den ersten Blick wirkten die vier wie Studenten, die kurz vor dem Examen stehen, oder aber wie junge Manager oder ähnliches, aber im Grunde genommen waren sie nicht einzuordnen. Die einen hätten auch die jung gebliebenen Mentoren der anderen sein können. Am wahrscheinlichsten war, dass sie, Beruf hin oder her, schlicht und einfach Freunde waren. Wie magisch angezogen, blieb ihr Blick plötzlich an einem der Gesichter hängen.

    Der schlanke, muskulöse, gut aussehende Mann, der sich voll in ihr Blickfeld gesetzt hatte, war, im Gegensatz zu den drei anderen, offensichtlich Spanier oder Mallorquiner. Die dichten, schwarzen, lockigen, ungebändigten, halblangen Haare hätten ohne Weiteres einen Kamm vertragen oder, dachte Carina, noch besser einen Kurzhaarschnitt. Er stach mit einer Lebhaftigkeit und einem Gestenreichtum aus der Gruppe hervor, die Carinas Aufmerksamkeit weckte.

    Das Geschehen auf dem Platz wurde mehr oder weniger zur Nebensache. Ohne dass sie es wollte, aber unerklärlich fasziniert von den prägnanten Gesichtszügen und vor allem von der lebhaften Mimik, begann sie, ihn zu beobachten. Immer wieder blieb ihr Blick an ihm hängen.

    Die vier Männer unterhielten sich lebhaft. Leider verstand sie kein Wort von dem, was sie sagten. Carina hatte keine Ahnung, ob sie Katalanisch, Mallorquin oder Spanisch sprachen, und so lauschte sie einfach nur dem Klang der Worte, soweit sie überhaupt zu hören waren.

    Der Restaurantbesitzer tauchte auf und begann, die Sonnenschirme zu schließen. Parallel bei den vier jungen Männern und bei ihr, da sich die Schirme überlappten. Carina hatte keine andere Wahl, als aufzustehen, um nicht im Wege zu sein, genau wie die vier Männer vor ihr, die nebenbei ihre Bestellung aufgaben. Sie und die Gruppe vor ihr setzten sich wieder an ihre Tische und Carina beobachtete, wie der mit einem Poloshirt und kurzer Hose bekleidete schwarzhaarige Mann mit fröhlichem Lachen und eindeutigen Gesten das Orchester parodierte, das auf der Treppe der Kirche zu spielen begonnen hatte. Nur zu gerne hätte sie verstanden, was er sagte. Fast gegen ihren Willen wuchs Carinas Interesse an ihm von Minute zu Minute. Unwillkürlich genoss sie es immer mehr, ihm und seinen ausdrucksstarken Handbewegungen zuzusehen. Seine Finger imitierten Trommeln und andere Instrumente und immer wieder klang sein impulsives, fröhliches Lachen an ihr Ohr.

    Als sie merkte, dass sie bei den Arbeiten um sie herum eindeutig im Weg war, stand sie auf und wechselte an einen anderen freien Tisch, von dem aus sie ihn weiter im Auge behalten konnte und außerdem wieder besser über den Platz sah. Denn auch das restliche Geschehen um sie herum, besonders das Aufhängen weiterer Drähte für die Feuerwerkskörper an einem der großen Bäume vor ihr, fand ihr lebhaftes Interesse. Aber stets aufs Neue kehrte ihr Blick wie von einem Magneten angezogen zu dem Mann zurück, der sie so faszinierte. Im Gegensatz zu seiner Lebhaftigkeit wirkten seine Freunde wie steife Nordeuropäer.

    Zunehmend verlagerte sich ihre Blickrichtung wieder von seinen Gesten zu seinem freundlichen, ausdrucksstarken Gesicht, dem die pure Lebensfreude und der Spaß am Geschehen so überdeutlich anzusehen waren. Er war braungebrannt, und seine tief liegenden, ungewöhnlichen Augen blitzten fröhlich. Noch nie hatte Carina so nachtblaue Augen gesehen, deren tiefdunkler Ton an der äußeren Peripherie in einen sehr schmalen, aber deutlich sichtbaren, rotbraunen Rand übergingen. Wenn man in sie hineinschaute, hatte man im übertragenen Sinn den Eindruck, einen Sonnenunter-oder -aufgang vor sich zu haben. Eigentlich fehlten nur noch winzig kleine, gelbe Pünktchen, um den Eindruck eines Nachthimmels zu vervollständigen. Aber zugegeben, das wäre des Guten wirklich zu viel gewesen...

    Plötzlich und unvermittelt stand er mit einer resignierten Geste auf und ging an ihrem Tisch vorbei, ohne sie nur eines Blickes zu würdigen. Ruhig sah sie ihm nach, wie er mit schnellen Schritten und hocherhobenem Kopf zielstrebig an ihrem Tisch vorbeiging und verschwand.

    Sie verspürte keine Enttäuschung oder sonst irgendetwas in der Richtung. Sie hatte dem Ganzen nicht nur mit wachsendem Interesse zugesehen, sondern auch mit einer unglaublichen Ruhe und einem tiefen Frieden, die sie wie ein Kokon umhüllten. Es war eher wie das interessierte Beobachten eines Schauspielers in einem großen Freilufttheater gewesen, in dem er für eine kurze Zeit die Hauptrolle gespielt hatte und dem sie als Zuschauer beiwohnte. Nun hatte er die Bühne verlassen. Überhaupt hatte das Ganze weder erotische noch romantische Gefühle in ihr ausgelöst. Sie dachte nicht einmal daran, dass sie sich fest vorgenommen hatte, hier auf Mallorca keine wie auch immer geartete Beziehung anzufangen. Im Moment wäre sie außerdem selbst im Traum nicht darauf gekommen, dass ihr Verhalten, das er, ohne es zu zeigen, bemerkt haben musste, auf ihn mit Sicherheit völlig anders wirkte.

    Das Aufhängen einer großen, aus Stahlbändern angefertigten Kugel über den Köpfen der Restaurantbesucher fesselte ihre Aufmerksamkeit. In ihr lagen deutlich sichtbar Feuerwerkskörper, die irgendwann ihren Inhalt versprühen würden. Die Kugel hing an einem Kabel, das, wie hier scheinbar üblich, über den Tischen der Restaurantbesucher mit einem Draht an einem Laternenpfahl angebracht wurde. Und zwar genau über dem Tisch, wo sie am Anfang gesessen hatte. Es war also richtig gewesen, den Platz zu verlassen.

    Nur aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass ihr Hauptdarsteller mit einer Packung Zigaretten wieder auftauchte. Er setzte sich, riss die Packung auf, zog mit einem routinierten Griff eine Zigarette hervor und begann, genau wie die anderen in der Gruppe auch, zu rauchen. Es blieb im weiteren Verlauf des Abend nicht bei der einen Zigarette.

    Eine Kellnerin brachte zuerst Carina den Wein und entschuldigte sich, dass es so lange gedauert hatte. Dann ging sie zu den vier Männern, um sie zu bedienen.

    An den Gesten in Richtung Stahlkugel war deutlich zu erkennen, dass die vier mit ihr über die Kugel sprachen. Die Kellnerin schien sie nicht richtig zu verstehen, da ihr Hauptdarsteller ein Wort immer wieder wiederholte. Die Kellnerin antwortete offensichtlich, so gut sie konnte, nickte ihnen noch mal zu und verschwand im Lokal, um weitere Bestellungen abzuarbeiten.

    Carinas Augen schweiften nun zwischen ihrem Hauptdarsteller und dem Mann auf der Leiter hin und her. Der Arbeiter hatte offensichtlich Schwierigkeiten aufgrund des Gewichts der Kugel und Carina kam, praktisch veranlagt wie sie war, der Gedanke, ob sie nicht aufstehen sollte, um die Kugel höher zu halten. Aber sie blieb wie alle anderen auch sitzen, da sie sich damit wohl nur lächerlich gemacht hätte. Irgendwann, das wusste sie, würde auch diese Kugel hängen. Beiläufig bemerkte sie, dass auch die vier jungen Männer weiter interessiert das Geschehen an dem Laternenpfahl verfolgten. Carina sah dem Mann auf der Leiter zu, wie er nun das Kabel um einen Ast der sich nach oben verzweigenden Laterne schlug und die beiden Stränge mit einer Kabelklemme und einer Zange verband. Die Kugel blieb in einer eindeutig zu tiefen Position hängen, was der Restaurantbesitzer mit deutlichen Gesten und Worten kommentierte.

    Als Carina dieses Mal von dem Mann auf der Leiter zu ihrem Hauptdarsteller sah, landete ihr Blick ohne jede Vorwarnung in seinen tief dunkelblauen Augen. Ihre Blicke tauchten in einer ruhigen Selbstverständlichkeit ineinander ein. Seine Augen waren in diesem Moment wie weicher Samt. Noch nie in ihrem Leben hatte Carina in so nachtblaue Augen geschaut wie jene, die sie nun festhielten. Je nach Lichteinfall schimmerten sie bis ins Schwarze hinein. Sie nahmen Carinas Augen sofort gefangen und sogen ihren Blick förmlich in sich auf. Weder seine Mimik noch seine Augen zeigten im Moment die geringste Spur von Lebenslust, Härte oder Kälte. In ihnen fand sie die gleiche Ruhe, mit der auch sie ihn ansah. Sie hätte sich in diesem abgrundtiefen, samtenen Dunkelblau seiner Augen lange verlieren können. So lange, bis einer von ihnen lachen musste oder wegguckte. Aber sie empfand keine Gefühle für ihn als Mann. Da war kein Verlangen, keine Begierde, auch nicht der Wunsch nach einem gemeinsamen Abend. Ihr Herz begann nicht in freudiger Erregung wild zu schlagen, es behielt seinen ruhigen gleichmäßigen Takt. Das Einzige, was sie in sich spürte, als sie seinem Blick standhielt, war die wohlbekannte Ruhe, der Frieden und eine tiefe Geborgenheit, die so stark war wie nie zuvor, obwohl sie sie seit einiger Zeit meist begleitete.

    Wie lange hatte er sie wohl schon beobachtet, ohne dass Carina irgendetwas davon bemerkt hatte? Sicher war nur, dass er ihr Interesse am Aufhängen der Kugel genutzt hatte, um sie seinerseits, in Ruhe und unbemerkt, zu betrachten. Sein Interesse an ihr hatte sie spätestens in dem Moment geweckt, als sie sich an den Tisch neben die Gruppe gesetzt hatte. Er musste ihren Blick aber schon längst vorher gespürt haben.

    Im Moment war sein Blick wie eine sanfte, nachdenkliche Einladung. Alles Lebhafte und Spöttische war daraus verschwunden. Er wirkte, als sei er offen für alles, was kommen würde, und gleichzeitig forderte er mit diesem Blick die Entscheidung heraus. Instinktiv wusste Carina, dass er nicht wegschauen würde. Er wollte sie herausfordern und wissen, wie sie reagierte. Es war wie in einem sanften, aber unerbittlichen Duell. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor und sie fragte sich, wie lange sie sich mit ihrem Blick in seinen Augen verlieren durfte, ohne aufdringlich zu wirken. Und doch waren es nur wenige Sekunden oder sogar nur Bruchteile von Sekunden gewesen, in denen ihre Augen sich trafen, bevor sie ihren Blick, getragen von der Geborgenheit in ihrem Inneren, ruhig in Richtung des Platzes schweifen ließ.

    Als sie wiederum nur Sekunden später wieder zu ihm hinsah, war es vorbei, noch ehe es überhaupt begonnen hatte. Für ihn war die Entscheidung gefallen, und sie war aus seiner Sicht klar und eindeutig. Er hatte seine Aufmerksamkeit sofort wieder seinen Freunden zugewandt und sagte lachend etwas zu ihnen, das sie nur zu gerne verstanden hätte. Sein Interesse wurde nur einen Moment später von einer Gruppe junger Frauen angezogen, die an ihren Tischen vorbeigingen. Wenn er nicht durch Carina und seine Freunde abgelenkt gewesen wäre, hätte er sie vermutlich längst gesehen. Mit deutlichem Interesse und eindeutigen Blicken, die schlagartig die Samtigkeit des verzauberten Augenblicks verloren hatten und nun wieder fröhlich-amüsiert funkelten, und eindeutigen Gesten, die er rasch zwischen den Frauen und seinen Freunden hin und her wechselte, drehte er sich lebhaft nach ihnen um und sah ihnen nach, wie sie in der Menge verschwanden. Fast schien es, als wollte er aufspringen und ihnen nachgehen. Auf Carina wirkte sein Verhalten wie eine Demonstration und ein Schlag ins Gesicht.

    Nicht du, sondern Frauen wie SIE.

    Sie hatte von Anfang an nichts von ihm gewollt, aber diese kurze Szene war wie ein kleiner Stich mit einer Nadel in ihre Seele. Für sie selbst völlig überraschend, verengte für einen Moment ein Schmerz der Enttäuschung ihre Brust und sie musste einen aufsteigenden Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken.

    Sie sah hinüber zum Platz, so als wollte sie ihm nicht zeigen, wie enttäuscht sie war. Carina wusste nicht, wie ihr geschah und warum ihr sein Verhalten so viel ausmachte. So, als wäre nichts geschehen, gelang es ihr kurz darauf wieder, ruhig zu ihm hinzusehen. Der kurze Schmerz über sein demonstratives Verhalten war vorüber, und eine vertraute Ruhe umspülte sie wie eine Welle den Strand. Diese innere Ruhe schwemmte das aufkommende Gefühl der Enttäuschung und alle ihr plötzlich in den Sinn kommenden negativen oder ironischen Verhaltensweisen sich selbst gegenüber in einen Ozean der Geborgenheit. Es war gut, dass das kurze Strohfeuer so schnell vorbei war!

    Sie hatte sich gegen ihren Willen und alle inneren Überzeugungen treiben lassen, angezogen von seiner lebhaften Art. Die Unbeschwertheit dieses Abends hatte sie dazu gebracht, etwas zu tun, was nicht nur ihrem rationalen, praktischen Wesen eigentlich fremd war. Oder – sie musste einen leichten Kloß hinunterschlucken – fremd geworden war? Für sie stand fest: Trotz ihres deutlichen Interesses an ihm war sie nicht an einer neuen Beziehung interessiert!

    Schließlich war sie noch verheiratet, und aus ihrer biblisch orientierten Einstellung kam eine wie auch immer geartete Beziehung zu einem anderen Mann überhaupt nicht in Frage. Außerdem würde sie sich hüten, einen neuen Mann in ihre völlig desolaten Familienverhältnisse hineinzuziehen. Aus ihrer Sicht wäre das, völlig unabhängig von ihrem klar definierten moralischen Standpunkt, einem neuen Freund gegenüber schlicht und einfach eine Zumutung sondergleichen. Natürlich wusste sie, dass andere dies völlig anders sahen, aber ihre Haltung war klar.

    Aber träumen! Einfach nur davon träumen, mit einem Mann wie ihm einen unverbindlichen, netten Abend verbringen zu können. Einfach davon träumen, mit einem Mann wie ihm an ihrer Seite dieses Fest zu erleben, und für einen unbeschwerten Moment seine Nähe zu genießen...

    Carina war überzeugt davon, dass es dieser Traum war, der vorhin mit der Realität zusammengeprallt war, die sie für einen Moment daran erinnert hatte, dass alle Träume nichts als Illusionen waren.

    Dieser unbeschwerte Traum, der in ihrer gescheiterten Ehe schon so lange geplatzt war, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte, ihn überhaupt geträumt zu haben –

    Carina wollte es nicht, aber die Schatten der Vergangenheit überfielen sie auch jetzt wieder wie eine langgezogene Welle. Wie so oft in den vergangenen Tagen hatte sie keine Chance, den Gedanken an ihre unrühmliche Ehe auszuweichen. Widerwillig ließ sie zu, dass sich ihre Vergangenheit auch an diesem Abend immer mehr in ihr Bewusstsein drängelte.

    Sie hatte sich so viele Illusionen gemacht, als sie vor über 24 Jahren ihren Mann kennenlernte, dass es sie wie ein Keulenschlag getroffen hatte, als die Traumbilder im Trauma der Realität ihres Ehealltags endeten. Auch wenn sie beide als entschiedene Christen versucht hatten, ihre Ehe im Glauben zu leben, war ihre Beziehung an den Ecken und Kanten ihrer Persönlichkeiten gescheitert. In 22 Jahren Ehe hatte es auch sehr gute Zeiten miteinander gegeben, aber ihre gegenseitige Unfähigkeit, mit Schwächen, Fehlern, Unzulänglichkeiten und all dem umzugehen, was jede Ehe in den Abgrund stürzen kann, hatte ihre Verbindung irgendwann auf ein Niveau gebracht, das für keinen von ihnen gut war. Die auf Gegenseitigkeit beruhende Liebe und Zuneigung war der Kitt gewesen, der sie so lange verbunden hatte, bis auch das letzte Krümelchen durch gegenseitige Schuldzuweisungen, bittere Lebensumstände und einen turbulenten Alltag aufgebraucht war. Zum Schluss waren Alltagstrott, Gleichgültigkeit, gegenseitige Missachtung und routinierte Geschäftsmäßigkeit ein alles vernichtender Sturm geworden, der durch die bröckelnde Fassade tobte und die Familienverhältnisse für alle immer unerträglicher machte. Immer wieder hatte sie Jesus für die Dinge um Vergebung gebeten, die sie als eigene Schuld erkannt hatte, um im nächsten Moment dieselben Fehler wieder zu machen. Sie war immer unfähiger geworden, das Schema F zu durchbrechen, das sich im Umgang miteinander eingeschliffen hatte.

    Wie hieß es doch so schön: „Illusionen sind gefährliche Typen, sie machen keine Fehler. Aber in einer Ehe muss man mit den Fehlern des anderen leben lernen." Und genau das hatten auf die Dauer weder sie noch ihr Ehemann gekonnt.

    Ihr Hauptdarsteller, der sich weiter lebhaft mit seinen Freunden unterhielt, war genauso wenig eine Illusion. Er bestand auf der einen Seite scheinbar aus purer Lebensfreude und geschmeidiger Kraft, und auf der anderen Seite schien er ein ernsthafter Gesprächspartner zu sein. Sie verstand zwar kein Wort von dem, was die vier miteinander redeten, aber die Art und Weise, wie das Gespräch teils lebhaft und mit viel Gelächter und dann wieder ernsthaft geführt wurde, zeigte ihr, zumindest glaubte sie das, das Niveau, auf dem die vier ihre Gespräche führten. Und das lag, so schien es ihr, auf einem Level, auf dem sie sich am liebsten am Gespräch beteiligt hätte. Oder wollte sie trotz seiner Abfuhr, dass es auf einem Niveau geführt wurde, das ihrem Level entsprach?

    Wie auch immer, gerne hätte sie verstanden, was sie sagten, um ihren Hauptdarsteller trotz allem ein klein wenig kennenzulernen. Und trotz der Situation versuchte sie, ihn irgendwo in ihr eigenes Männerbild einzuordnen. Aber ihr Hauptdarsteller schien auf den ersten Blick in kein Schema zu passen, da das Spektrum seines Wesens offensichtlich breit angelegt war. Es wäre für Carina faszinierend gewesen, dessen ganze Bandbreite kennenzulernen. Mit einem Mann wie ihm im Alltag zusammenzuleben, konnte sie sich trotzdem nicht vorstellen. Sie und er kamen eindeutig aus zwei völlig verschiedenen Welten, und die waren nicht nur durch einen Ozean, weite Ebenen und hohe Berge getrennt.

    War es vielleicht gerade diese Mischung, die ihn für Carina hier auf diesem Fest trotzdem so anziehend machte?

    So unwiderstehlich? Oder lag es daran, dass sie sich schon immer in Typen wie ihn Hals über Kopf verliebt hatte, um dann die rosarote Brille gegen die Realität zu tauschen?

    Sie dachte nicht darüber nach.

    Sie wollte auch nicht darüber nachdenken, jedenfalls nicht heute Abend. Sie wollte einfach nur die Situation genießen und sich in Illusionen verlieren, wie sie es so oft tat. Sie beobachtete ihn also weiter, ungeachtet der Distanz, die er zwischen ihnen geschaffen hatte, und die sie ohne mit der Wimper zu zucken akzeptierte. Eine schlechte Beziehung reichte!

    Sie wollte keine neue Beziehung und erst recht kein flüchtiges Abenteuer! Sie hätte vielleicht Probleme mit der gezogenen Grenze bekommen und ihn irgendwie doch noch zu erobern versucht, wenn sie nicht im Stillen angenommen hätte, dass letzten Endes Jesus hinter diesem „Nein" steckte. Für sie war Jesus derjenige, der ihr den Weg zeigte, den sie gehen sollte. Er bestimmte ihr Leben – oder sollte es zumindest. Und er wollte sie offensichtlich davor bewahren, sich wieder in ein Abenteuer zu stürzen, das, wie sie aus langjähriger, bitterer Erfahrung wusste, sehr schnell unerträglich werden konnte.

    Der unnahbare Fremde blieb ihr Hauptdarsteller in diesem bunten Treiben des Abends, bis er und seine Freunde nach mallorquinischer Art und Weise auf dem Tisch das Geld zusammenlegten. Es war üblich hier, so zu bezahlen, wenn es nicht einer schon klammheimlich im Vorfeld getan und die anderen so durch die Hintertür eingeladen hatte. Carina wusste in der Zwischenzeit, dass das sorgfältige Auseinanderrechnen der Rechnung auf den Balearen als kleinkariert und kleinkrämerisch galt. Man legte soviel Geld hin, dass es passte und für den Kellner ebenfalls reichte.

    Ihr Hauptdarsteller war derjenige, der aufstand und an ihr vorbei ins Lokal ging, um zu bezahlen, ohne sie auch nur mit einem einzigen weiteren Blick gestreift zu haben. Für ihn war die Beziehung eindeutig beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte, und jeder weitere Blick deshalb verschwendet. Als er wiederkam, nahm er seine teure Spiegelreflexkamera, für Carina eindeutig ein altes Schätzchen, die er bei der Ankunft auf den Tisch gelegt hatte, und packte sie in seinen Rucksack. Die anderen drei gingen voran und er folgte ihnen als letzter, den Rucksack lässig über die Schulter gehängt. Ruhig und ohne jede Emotion sah Carina ihnen nach, wie sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten.

    Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Essen, das ihr gebracht worden war. Plötzlich tauchte ihr Hauptdarsteller wie aus dem Nichts kommend wieder vor ihr auf und ging an ihr vorbei ins Lokal, auch diesmal, ohne sie zu beachten. Kurz darauf kam er zurück, um dann endgültig zu gehen. Wieder folgte sie ihm ruhig mit ihrem Blick, bis er in der Menge verschwand.

    Es war gut so! In ihrer Seele herrschte Frieden!

    Das Orchester hatte schon seit längerem aufgehört zu spielen und machte eine Pause. Die Musiker nutzten die Gelegenheit, um sich die Beine zu vertreten. Nun sammelten sie sich ganz in ihrer Nähe in einer der Seitenstraßen, die zur Placa Constitucio führten, stellten sich zu einer Parade auf und stimmten noch einmal ihre Instrumente. Die Stuhlreihen auf dem Platz vor der Kirche hatten sich in der Zwischenzeit bis auf den letzten Platz gefüllt. Es war eindeutig, dass das eigentliche Konzert jetzt erst beginnen würde. Carina blickte zu den Musikern hinüber, die nur sehr langsam zur Ruhe kamen.

    Ein blondes, nicht mehr ganz so junges Paar kam auf ihren Tisch zu. Carina deutete auf die leeren Plätze neben sich und zeigte ihnen so, dass sie sich zu ihr setzen konnten. Das Paar stellte sich als ein skandinavisches Ehepaar heraus. Schnell kamen sie in eine Unterhaltung, die zu Carinas Überraschung überwiegend in Englisch und Deutsch geführt wurde. Die beiden bestellten und Carina schloss sich, um sitzen bleiben zu können, an die Bestellung an und orderte noch einen Orangensaft.

    Nebenbei beobachtete sie, wie sich das Orchester geordnet in Bewegung setzte. Sie gingen musizierend einmal um den Platz, auf dem ihr Publikum wartete, um dann vor der Kirche endgültig mit dem eigentlichen Konzert zu beginnen. Bekannte Melodien schwebten über den Platz, von denen Carina leider nicht wusste, wie sie hießen. Sie gab sich ihnen hin, soweit das ihre Unterhaltung mit den Skandinaviern zuließ, und verfolgte weiter das Treiben um sich herum.

    Carina bestellte sich zwischendurch noch Brot und wurde von den Skandinaviern zu einem Glas Wein eingeladen. Das Orchester spielte auf sehr hohem Niveau. Im Verlauf des Konzerts veränderte sich der Musikstil buchstäblich dramatisch. Das Stück, das kurz vor Schluss gespielt wurde, leitete eindeutig zu dem über, was heute Abend hier noch stattfinden würde. Es war ein Stück mit tiefen, dunklen Tönen, das wie ein akustisches Drama aufgebaut war. Wie gebannt lauschte Carina der Musik, die offensichtlich nicht nur sie gefangen nahm. Es war fast zehn Uhr, als das Konzert zu Ende war. Wie auf Knopfdruck veränderte sich die Szenerie. Der Applaus der Konzertbesucher war kurz und ohne eine Forderung nach einem weiteren Lied, was Carina sehr überraschte. Bei der hohen Qualität, die das Konzert gehabt hatte, hätte Carina mit nicht nur einer Forderung nach einer Zugabe gerechnet. Aber alle standen wie auf einen geheimen Befehl hin auf und verließen zügig den Platz, auf dem sie noch kurz vor Schluss andächtig einer Sängerin zugehört hatten, die es mit ihrer klaren Stimme kaum geschafft hatte, das Stimmengewirr auf dem übrigen Platz zu übertönen. Carina hatte nur wenig von dem Lied, das die Frau voller Inbrunst sang, mitbekommen.

    Noch überraschender für Carina war, dass, nachdem der letzte Ton verklungen war, überall auf dem Platz ein hektisches Treiben losbrach. Sämtliche Tische, Stühle und noch verbliebenen Sonnenschirme wurden in einer platzweiten Aufräumaktion in Sicherheit gebracht. Die Marktstände waren schon lange verschwunden. Am meisten aber verwunderte Carina, dass die Lokale für mallorquinische Verhältnisse ungewöhnlich früh schlossen. Auch Carina stand auf, nachdem sie bezahlt hatte. Sie ging noch einmal zur Toilette und verließ dann das Lokal.

    Der Platz füllte sich mit noch mehr Menschen. Oder waren es dieselben, die vorhin dem Konzert zugehört hatten und nun den Platz vor der Kirche verließen, der von den Plastikstühlen geräumt wurde?

    Carina war sich sicher, dass das wegen des Feuerwerks so war, das sie sich wenn möglich auf jeden Fall ansehen wollte. Sie liebte Feuerwerk, und das, was hier aufgebaut worden war, versprach großartig zu werden. Erwartungsvoll umrundete sie den Platz, auf dem städtische Arbeiter zügig und routiniert die Konzertstühle auf einen bereitstehenden LKW luden und steuerte auf eine Gruppe der lokalen Polizei zu. Sie fragte die Polizisten auf Englisch, wann die letzte Bahn nach Port de Sóller fahren würde.

    Ihr stiller Ärger, dass sie das nicht schon den Straßenbahnfahrer während der Fahrt von Port de Sóller nach Sóller gefragt hatte, schmolz wie Schnee in der Sonne, als ihr Blick auf einen der Polizisten fiel. Carina wusste nicht, wie ihr geschah. Zum zweiten Mal an diesem Abend wurde sie von einem Gesicht wie magisch angezogen. Schlagartig gerieten die anderen Polizisten zu Nebendarstellern, genau wie die anderen Männer vorhin am Tisch.

    Die Augen des Polizisten blickten ähnlich lebhaft und fröhlich wie vorhin die ihres Hauptdarstellers. Der einzige Unterschied war der, dass die Augen des Polizisten braun waren. Und im Gegensatz zu ihrem Hauptdarsteller waren seine schwarzen Haare glatt und sehr kurz und akkurat geschnitten, was perfekt zu seiner blauen Uniform passte und ihn geradlinig und korrekt erscheinen ließ. Während die freundlichen Polizisten ihr in Englisch erklärten, dass sie selbst auch nur widersprüchliche Informationen hätten und ihr nicht richtig weiterhelfen könnten, trafen sich ihre Augen für einen kurzen Moment. Carinas Herz begann schneller zu schlagen. Wenn sie irgendwie gekonnt hätte, hätte sie sich mit den Männern unterhalten, nur um in der Nähe „ihres" Polizisten bleiben zu können. Am liebsten wäre sie stehen geblieben, um ihn näher kennenzulernen.

    Zum zweiten Mal an diesem Abend waren alle Einwände, die ihrer Meinung nach gegen eine neue Beziehung sprachen, wie weggewischt.

    Vom Winde verweht…

    Hatte es überhaupt jemals Einwände gegen eine neue Beziehung gegeben? Wieder wollte Carina nicht darüber nachdenken, was wäre, wenn…

    Sie gab sich ganz dem Zauber des Augenblicks und der ganzen Atmosphäre um sie hin. Sie wollte stehen bleiben, die Situation genießen und träumen.

    Wovon?

    Sie wusste es nicht.

    Sie wusste nur, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich mit einem „Gracias" zu verabschieden. Sie musste herausfinden, wann die letzte Straßenbahn fuhr. Nach wenigen Schritten konnte sie nicht anders und drehte sich noch mal um. Ein Glücksgefühl durchströmte sie, als sie bemerkte, dass der Polizist ihr nachsah. Und im Gegensatz zu ihrem Hauptdarsteller lächelte er ihr freundlich zu.

    Carina wandte sich nicht nur deswegen ab, weil sie weitergehen musste, sondern auch, weil ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Der freundliche Blick dieses Mannes durchdrang mühelos die harte Schale, die sie im Laufe der Jahre als Schutz um sich aufgebaut hatte. Für einen Moment fühlte sie sich wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Mal verliebt war. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so gefühlt wie jetzt. Es machte ihr im Moment auch nichts mehr aus, dass sie sich von ihm entfernte. Oder vielleicht doch?

    Trotzdem ging Carina jetzt deutlich beschwingter durch die Menschenmenge über den Platz und schlug dann den Weg zum Bahnhofsgebäude ein. Sie hatte zwar keine große Lust dazu, aber ihr war klar geworden, dass sie dorthin gehen musste, um endgültig herauszufinden, wann die letzte Straßenbahn nach Port de Sóller fahren würde. Sie wusste, dass sie auch mit einem Taxi zurückfahren konnte, aber da sie keine Ahnung hatte, was die Fahrt kosten würde, nahm sie lieber die Straßenbahn, die mit ihrem altmodischen Charme außerdem ein Erlebnis war, das sie sich ohnehin nicht oft gönnen konnte. Zumindest würde sie so keine unangenehme finanzielle Überraschung erleben, die sie sich überhaupt nicht leisten konnte. Sie hoffte, dass die Bahn, die sich weiter halbstündlich ihren Weg durch die Menge gebahnt hatte, so fahren würde, dass sie das Feuerwerk auf jeden Fall sehen konnte.

    Sie betrat den überdachten, weißen Innenhof des Bahnhofs, von dem eine große Treppe zu den Bahngleisen führte, von wo aus die Eisenbahn seit 1912 regelmäßig von Sóller nach Palma pendelte. Aber das Bahnhofsgebäude selbst war viel älter. Das antike Gästehaus „Can Mayol", das 1606 gebaut worden war, wurde in den Jahren 1911-1912 zum Bahnhofsgebäude umgebaut und war damit das älteste Bahnhofsgebäude der Welt. Gleichzeitig war es das ungewöhnlichste, da es auch als Museum diente. In den renovierten Innenräumen des Bahnhofs wurden Werke von Joan Miró, dessen Mutter aus Sòller stammte, und Pablo Picasso ausgestellt. Fotos, die die Künstler gemeinsam zeigten, schmückten die ehemalige Wartehalle.

    Der helle Raum, in den sie von der Straße her eintrat, war menschenleer. Von einem Angestellten, den sie eher zufällig traf, erfuhr sie, dass die Straßenbahn wie immer pünktlich um halb 12 fahren würde. Carina verließ das ungewöhnliche Gebäude und ging auf einem anderen Weg als dem, den sie gekommen war, zurück zur Placa Constitucio. Dabei kam sie an grell beleuchteten und von vielen Menschen umlagerten Imbiss-und Verkaufsständen vorbei, deren Betreiber nicht im Traum daran dachten, jetzt schon zu schließen.

    Als sie zurück auf der Placa Constitucio war, stieß sie wieder auf die Polizisten. Ihr Herz schlug schneller, als sie auf sie zuging. Sie wusste plötzlich, was sie tun musste, um noch einmal ohne aufzufallen in die Nähe „ihres Polizisten zu kommen. Sie gab die Information über die Abfahrt der letzten Bahn weiter, was mit einem „Gracias und einem freundlichem Lächeln aller beantwortet wurde. Die lächelnden Gesichter der anderen nahm sie zwar wahr, aber ihr Blick suchte nur einen. Wieder bedauerte sie es, dass sie keinen Anlass hatte, noch länger bei den Polizisten stehen zu bleiben. Widerwillig verließ sie die Gruppe, um den Schienen bis zur nächsten Haltestelle zu folgen, auf die sie bei der Hinfahrt nicht geachtet hatte. Sie war zwar schon einmal die Strecke vom Bahnhof nach Port de Sóller gefahren, aber auch da hatte sie sich die Streckenführung nicht gemerkt. Sie ging den Schienen nach und stellte schnell fest, dass die nächste Haltestelle ganz in der Nähe in einer der Zugangsstraßen zum Platz war. Nachdem sie den Fahrplan noch einmal studiert hatte, kehrte sie zum Platz zurück.

    Plötzlich und für Carina völlig überraschend, begannen Trommler zu spielen. Es war nur ein einfacher Rhythmus, aber so tief und im Gleichklang geschlagen, dass er schnell den ganzen Platz erfüllte und alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Gepackt und fasziniert von dem unwiderstehlichen Rhythmus der tiefen, dunklen Töne, die alle ihre Sinne erfassten und jeden Gedanken auszulöschen schienen, stand Carina an eine Hauswand gelehnt da und hörte wie gebannt zu. Ihr Blick glitt dabei zu den Polizisten, die ihren Standort nicht geändert hatten und von da, wo sie stand, gut zu sehen waren. Zu ihrem Glück konnte sie auch „ihn" gut sehen und sich für kurze Zeit in seinen Gesichtszügen und in ihren Träumen verlieren. Er schien ihren Blick nicht zu bemerken oder tat zumindest so. Zum zweiten Mal an diesem Abend ließ sie sich und ihre Gefühle einfach treiben, ohne über irgendwelche Folgen nachzudenken.

    Die Unterhaltungen um sie herum verstummten.

    Minutenlang erfüllte der schwere, akkurat geschlagene, einfache Rhythmus der Trommeln den Platz und drang weit in die Stadt hinein und an den hohen Bergen, die die Stadt wie eine natürliche Mauer umgaben, empor zu den Sternen, die über ihnen im wolkenlosen Himmel funkelten. Nichts existierte in diesem Augenblick für Carina als dieser rhythmische Klang, der Mann, den sie beobachtete, und die ganze Atmosphäre um sie herum.

    So plötzlich, wie sie begonnen hatten, hörten die Trommler auf zu spielen. Enttäuschung breitete sich in Carina aus. Sie hätte den Trommlern noch lange zuhören können, gepackt und wie gebannt von dem unwiderstehlichen, mitreißenden Klang, der sich in ihren Gedanken mit dem Mann verband, der wenige Meter von ihr entfernt stand und ihr Herz höher schlagen ließ. Zu ihrem Leidwesen hatte er nicht ein Mal zu ihr hinübergesehen. Sie löste sich von der Wand, an die sie sich während des Trommelspiels gelehnt hatte, und verabschiedete sich von den Skandinaviern, die sie dort wieder getroffen hatte. Das Ehepaar wollte mit der nächsten Bahn zurück nach Port de Sóller.

    Carina dachte nicht daran, jetzt schon zu fahren, sie genoss dieses unbeschwerte Fest zu sehr. Außerdem wollte sie unbedingt das Feuerwerk sehen und hoffte weiterhin, dass es angezündet wurde, bevor die letzte Straßenbahn fuhr.

    Die Polizisten verließen ihren Standort und sie verlor „ihn" aus den Augen. Ziellos ließ Carina sich weiter durch die Menge treiben, nun jedoch ohne sich sehr weit von der Haltestelle zu entfernen, an der sie später einsteigen würde. Unzählige, in dunkle Sweatshirts oder Pullover gekleidete Kinder und Jugendliche tauchten auf und gingen zu einem Brunnen, um Baseballkappen, Kapuzen, Mützen oder Tücher nass zu machen. Lachend setzten sie sie auf und vermummten sich die Gesichter.

    Kopfschüttelnd sah Carina den Kindern und Jugendlichen zu. Feuerwehr und Sanitäter stellten ihre Fahrzeuge in Position, um im Fall der Fälle gerüstet zu sein. Während auf den Uniformen der Sanitäter das vertraute rote Kreuz zu sehen war, prangte, für Carina ungewohnt, auf den Jacken der Feuerwehrleute in großen Lettern „Bombers".

    Carina stellte sich wieder in die Nähe der Polizisten, die ihren alten Standort wieder eingenommen hatten, um von einer ruhigeren Lage aus das Geschehen auf dem Platz weiterzuverfolgen. Außerdem konnte sie von dort aus „ihren" Polizisten weiter beobachten.

    Plötzlich spürte Carina, dass sie beobachtet wurde. Einer der Polizisten hatte sich von den anderen gelöst und war unbemerkt näher zu ihr herangetreten. Nun sah er mit seinen braunen Augen mit offenem, eindeutigem, aber trotzdem unaufdringlichem Interesse im Blick fast scheu zu ihr hinüber.

    Carina schaute kurz zu dem schlanken, gut aussehenden Mann hin. Im Gegensatz zu

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1