Irrlicht 66 – Mystikroman: Die wilden Hexen
Von Anna Stefany
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Leider hatte sich Ingrid geirrt. Ihr Schwager hatte sich in letzter Zeit zwar zurückgehalten, aber sein Ziel, die schöne Schwägerin zu erobern, nie aus den Augen verloren. Laut lachend lief er mit unsicheren Schritten hinter ihr her. »Magst du mit mir spielen? Ich krieg dich doch!« und während er versuchte, sie an sich zu ziehen, schob er den Rollstuhl seiner Mutter zur Seite, der ihm im Weg stand. Die alte Frau hatte sich kerzengerade aufgerichtet. Ihr Gesicht war von einer unheimlich fahlen, leicht grünlich schimmernden Blässe, und ihre Augen loderten wie riesige schwarze Diamanten. Ihre schmale Hand umklammerte den Arm ihres Sohnes wie ein Schraubstock, und mit unheimlicher Gewalt zog sie ihn von Ingrid fort. Karl war völlig überrumpelt. Wütend gab er dem Rollstuhl einen Fußtritt und versuchte vergeblich, sich zu befreien. Es gelang ihm nicht. Mit einer Kraft, die er seiner kranken und schwächlichen Mutter niemals zugetraut hätte, zwang sie ihn an ihre Seite. »Ich habe dich gewarnt, Karl, du solltest Ingrid in Ruhe lassen und der Familie keine Schande machen. Die Stunde der Abrechnung ist gekommen!« An jedem letzten Freitag im Oktober sahen die Bauern auf den Almwiesen, die den steilen Bergpfad zum Kaisergebirge säumten, mehrere ältere Bergsteigerinnen, die langsam, aber stetig und mit geübtem Schritt den Weg hochstiegen. Sie grüßten so wie in den Bergen üblich beim Vor-übergehen und verschwanden nach der Biegung des Wegs zum Ellmauer Tor hinter den Bäumen. Alle trugen Rucksäcke und sportliche Kleidung. Sie kamen nicht in einer Gruppe, sondern eine nach der anderen aus verschiedenen Richtungen, nahmen aber alle nach der Biegung den gleichen Weg zu einer kleinen Lichtung. Dort befand sich ein völlig zugewachsener Eingang, der geradewegs in den Berg zu führen schien.
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Irrlicht 66 – Mystikroman - Anna Stefany
Irrlicht
– 66 –
Die wilden Hexen
Letzte Warnung!
Anna Stefany
Leider hatte sich Ingrid geirrt. Ihr Schwager hatte sich in letzter Zeit zwar zurückgehalten, aber sein Ziel, die schöne Schwägerin zu erobern, nie aus den Augen verloren. Laut lachend lief er mit unsicheren Schritten hinter ihr her. »Magst du mit mir spielen? Ich krieg dich doch!« und während er versuchte, sie an sich zu ziehen, schob er den Rollstuhl seiner Mutter zur Seite, der ihm im Weg stand. Die alte Frau hatte sich kerzengerade aufgerichtet. Ihr Gesicht war von einer unheimlich fahlen, leicht grünlich schimmernden Blässe, und ihre Augen loderten wie riesige schwarze Diamanten. Ihre schmale Hand umklammerte den Arm ihres Sohnes wie ein Schraubstock, und mit unheimlicher Gewalt zog sie ihn von Ingrid fort. Karl war völlig überrumpelt. Wütend gab er dem Rollstuhl einen Fußtritt und versuchte vergeblich, sich zu befreien. Es gelang ihm nicht. Mit einer Kraft, die er seiner kranken und schwächlichen Mutter niemals zugetraut hätte, zwang sie ihn an ihre Seite. »Ich habe dich gewarnt, Karl, du solltest Ingrid in Ruhe lassen und der Familie keine Schande machen. Die Stunde der Abrechnung ist gekommen!«
An jedem letzten Freitag im Oktober sahen die Bauern auf den Almwiesen, die den steilen Bergpfad zum Kaisergebirge säumten, mehrere ältere Bergsteigerinnen, die langsam, aber stetig und mit geübtem Schritt den Weg hochstiegen. Sie grüßten so wie in den Bergen üblich beim Vor-übergehen und verschwanden nach der Biegung des Wegs zum Ellmauer Tor hinter den Bäumen. Alle trugen Rucksäcke und sportliche Kleidung. Sie kamen nicht in einer Gruppe, sondern eine nach der anderen aus verschiedenen Richtungen, nahmen aber alle nach der Biegung den gleichen Weg zu einer kleinen Lichtung. Dort befand sich ein völlig zugewachsener Eingang, der geradewegs in den Berg zu führen schien. Der Eingang war von der Lichtung aus nicht zu sehen und mit einem Vorhang aus gegerbtem Hirschleder, der sich in der Mitte teilte, nach außen geschützt.
Die Bergsteigerinnen gingen auf die Höhle zu, doch sobald eine der Frauen durch das Dickicht in die Höhle getreten war, geschah etwas Seltsames. Anstelle der zeitgemäßen und sportlichen Kleidung trugen sie Gewänder und Hauben, so wie sie bei Frauen aus gutbürgerlichen Familien im Mittelalter üblich waren. Ihre Trachten zeichneten sie als Bäuerinnen aus dem Inntal aus. Ebenso waren die Rucksäcke verschwunden und große Henkelkörbe, deren Inhalt mit groben Tüchern verdeckt war, hingen an ihren Armen.
Das Innere der Höhle war behaglich ausgestattet. An den Wänden loderten Fackeln, der Boden war trocken und festgetreten, auf Hockern lagen Felle. Etwas abseits von den Hockern stand ein geschnitzter Sessel mit hoher Lehne auf einem kleinen Podest.
Zwölf Frauen nahmen auf den Hockern Platz, die dreizehnte und älteste unter ihnen, ebenfalls in mittelalterlicher Bauerntracht, humpelte auf ihren Stock gestützt zu dem Podest und setzte sich in den einzigen Sessel.
Langsam und eindringlich blickte sie in die Runde, sie ließ ihren scharfen Blick von einem Gesicht zum andern wandern, um sich zu vergewissern, daß sie auch die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte.
Schließlich richtete sie das Wort an die anderen: »Liebe Schwestern, seit unserem letzten Treffen haben einige Nachkommen unserer Peiniger das Ende ihres Weges erreicht und sie sollen ihrer Strafe nicht entgehen. Und so muß eine von uns zurück in ihren Heimatort, um unseren Racheschwur zu vollziehen. Es sind allesamt Nachkommen der Männer, die sich Bader und Medicus schimpfen und uns als Hexen auf den Scheiterhaufen geschickt haben. Nur weil wir mit Kräutern und unserer herkömmlichen Medizin armen Menschen und Tieren helfen konnten und damit die anderen um ihren Verdienst gebracht haben. Heute ist es Lina, sie uns verläßt, um nach vierhundert Jahren für Gerechtigkeit zu sorgen und die Familie ihres Folterers auszulöschen. Wenn sie ihren Auftrag erfüllt hat, wird sie zu uns zurückkehren, und wir werden entscheiden, welche von uns dann gebraucht wird. Wir werden nun unsere Kräuter verbrennen und Lina auf ihren Weg vorbereiten.«
Die Frauen nahmen die Tücher von ihren Körben, legten die Kräuter in ein Kupfergefäß in ihrer Mitte und entzündeten sie. Die brennenden Kräuter verströmten einen betäubenden Duft und hüllten die ganze Höhle in dichte Nebelschwaden. Dabei stimmten die Frauen einen eindringlichen und beschwörenden Gesang an. Sie hielten sich nun an den Händen und wiegten sich wie in Trance hin und her.
Langsam vrzogen sich die Rauchschwaden, der Gesang wurde schwächer und schwächer, und als sich der Rauch ganz verzogen hatte, waren nur noch zwölf Frauen in der Höhle.
Ein Hocker in der Runde war leer.
Am nächsten Morgen wurde im Hause Gruber in Wels, einem kleinen österreichischen Dorf in der Nähe von Kufstein, eine Tochter geboren, die nach dem Vater, der Karl hieß, auf den Namen Karolina getauft wurde und später den angesehenen Dorfarzt Heinrich Leithammer aus Kiefersfelden auf der bayrischen Seite heiratete.
*
Dumpf und eindringlich schlug die Totenglocke der alten Dorfkirche von Kiefersfelden. Ein langer Trauerzug begleitete den Arzt Dr. Heinz Leithammer auf seinem letzten Weg von der Kirche zu dem ziemlich entfernten Friedhof.
Der wolkenlose blaue Himmel wollte so gar nicht zu dem traurigen Anlaß passen. Es war ein Wintertag, wie er nur in den Alpen zu finden ist. Die morgendliche Sonne tauchte das schneebedeckte Kaisergebirge in ein strahlendes Licht und verwandelte die Landschaft mit den traditionsreichen Bauernhäusern und alten Wäldern in eine glitzernde Märchenwelt.
Es lag etwas Unwirkliches über der ganzen Szene. Der Schnee knirschte unter den Füßen der Trauergemeinde und beim Ausatmen bildeten sich kleine Wolken vor den Mündern der Menschen. Ernst und schweigsam folgten sie dem Sarg des im ganzen Inntal beliebten Arztes, der so jung hatte sterben müssen.
Unmittelbar hinter dem Sarg ging die junge Witwe Ingrid und neben ihr der vierjährige Sohn Heinz, Heinzi genannt, der das alles noch nicht so richtig verstand. Sie selbst schob den Rollstuhl ihrer Schwiegermutter Karolina, Heinzi hatte seine kleine Hand auf die Lehne gelegt und beobachtete mit großen Augen die Geschehnisse um ihn herum. Er wollte öfter die Mutter etwas fragen, aber sie brachte ihn immer wieder zwar liebevoll aber bestimmt zum Schweigen. In der nächsten Reihe folgte Dr. Leithammers jüngerer Bruder Karl mit seiner Frau Elisabeth, die sich dramatisch in einen schwarzen Spitzenschleieer gehüllt hatte.
Vor der Familiengruft der Familie Leithammer machte der Trauerzug halt. Der Geistliche Rat Kronast blickte der Reihe nach die Familie an. Es war nicht immer leicht, Trost zu spenden, er wußte sehr wohl, was in seiner Gemeinde vorging. Ingrid hatte es schon zu Lebzeiten ihres Mannes nicht leicht mit seiner Familie gehabt, besonders mit ihrer Schwägerin, die gerne die Herrin im großen Haus gespielt hätte. Die einzige Unterstützung hatte sie in ihrer Schwiegermutter Karolina gefunden, die ihr allerdings, nachdem sie an den Rollstuhl gefesselt war und ihr Zimmer kaum verließ, keine große Hilfe mehr sein konnte.
Er blickte in das bildschöne Madonnengesicht der jungen Witwe, die hoch aufgerichtet und gefaßt hinter dem Rollstuhl ihrer Schwiegermutter stand. Ihre sonst so strahlend blauen Augen waren stumpf, wenn auch tränenleer, einzig ein leichtes Zucken um die schmalen Mundwinkel verriet ihre innere Bewegung. Sie trug ihre weizenblonden Haare unbedeckt trotz des eisigen Windes, sie schien das frostige Wetter überhaupt nicht wahrzunehmen. Ihr kleiner Sohn neben ihr zog sie ab und zu am Ärmel, aber sie wehrte ihn ab, und so begnügte er sich damit, die Umgebung mit großen verwunderten Augen zu betrachten.
Hinter den beiden und der Gelähmten im Rollstuhl standen der jüngere Bruder des Verstorbenen und seine Frau. Karl Leithammer war ein dunkelblonder Schönling, genauso unbeliebt im Ort mit seiner Frau wie sein großer Bruder und Ingrid fast verehrt wurden. Er hatte einen verantwortungsvollen, aber schlecht bezahlten Posten bei den Kiefersfeldener Marmorwerken einer undurchsichtigen Beschäftigung auf der österreichischen Seite in Kufstein vorgezogen, die ihm mehr Geld einbrachte. Dadurch hatten sich seine finanziellen Verhältnisse ziemlich gebessert, aber seine Unbeliebtheit war noch gestiegen. Es war ein offenes Geheimnis, daß er den Großteil des ererbten Vermögens verspielt hatte und von seiner Mutter, der alten Lina, nichts mehr erwarten konnte. Seine Frau Elisabeth ließ sich sehr wohl anmerken, wieviel Geld sie jetzt wieder zur Verfügung hatten und schon dadurch hatte sie nicht gerade viele Freunde. Außerdem war wohl bekannt, wie sehr sie sich den Heinz eingebildet hatte. Frau Doktor wäre sie sehr gerne geworden, aber gegen Ingrid hatte sie keine Chance gehabt. Und so hatte sie sich eben mit der sogenannten zweiten Garnitur zufriedengegeben. In einem kleinen Ort bleibt nichts unbemerkt und jeder wußte über jeden Bescheid.
Der Geistliche Rat Kronast räusperte sich. Der eigentliche Trauergottesdienst hatte ja schon in der Kirche stattgefunden. So hielt er lediglich noch eine kurze Rede, sprach mit der Gemeinde ein Gebet und wandte sich Ingrid und ihrem kleinen Sohn zu. Er drückte ihr stumm die Hand und strich dem Kleinen über den blonden Schopf. Dann spielte auf ein Zeichen von ihm die Trachtenkapelle, bei der der Verstorbene Mitglied gewesen war, dessen Lieblingschoral, und die Anwesenden reihten sich zur Beileidsbezeugung auf.
Ingrid nahm alles wie im Traum wahr. Es konnte doch nur ein böser Traum sein! Wieso war denn ihr kurzes Glück so schnell wieder zerronnen? Und was sollte denn jetzt aus ihr und Heinzi werden?
Als lediglich nur noch die Familie am Grab stand, trat sie noch einmal zur Gruft und warf den Rosenstrauß, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, auf den schweren Eichensarg. Dann drehte sie sich um, legte wieder Heinzis kleine Hand auf die Lehne des Rollstuhls und fuhr langsam und vorsichtig wegen der Schneeglätte den Hang vom Friedhof zum Parkplatz hinunter. Sie hatten den Wagen dort stehen lassen, denn sie wollten der alten Schwiegermut-ter den langen Weg nach Hause bei der Eiseskälte