Stadt, Angst, Schweigen: Heraklitischer Fließtext
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Buchvorschau
Stadt, Angst, Schweigen - Norbert W. Schlinkert
Paul
Wie früh es nun, dachte er, dunkel wird. November. Wie trüb es ist. Das hatte er schon den ganzen Tag über gedacht, immer wieder in den Erker an das nach Osten schauende Fenster tretend und auf die Straße blickend. Und dass die Hoffnung, nicht die allgemeine, wohlfeil zu bekommende, sondern die seine, seine als solche, nun aufgebraucht war, auch daran hatte er gedacht. Den ganzen Tag schon. Wann nur war ihm dieser Gedanke gekommen? An langgezogenen, grünen Hälsen hingen die Köpfe der Straßenlaternen zwischen ihm und der Straße unten, um sie herum ein gelblicher Kranz aus Nebel und Dunst mit fast cremiger Konsistenz. Von der Kreuzung her ein Hupen, das Rattern der Tram. An der Apotheke, sah er, jenseits der Kreuzung, flammte jetzt ein Licht auf und übergoss das Trottoir mit Helligkeit. Eine Werbemaßnahme ohne Zweifel, deren positive Wirksamkeit sicher belegbar wäre, denn man müsste nur, dachte er, mit der größtmöglichen Genauigkeit die Umsatzsteigerung und alle notwendigen Werbekosten, also Kauf und Installation der Lampe sowie die zusätzlichen Stromkosten, miteinander in Beziehung setzen. Natürlich würde der Effekt verpuffen, zögen andere Apotheken nach, eines Tages wäre sicher der Gehweg vor jeder Apotheke auf das grellste beleuchtet, was aber durchaus, dachte er jetzt, im Gegenteil vielleicht dann doch einen Gesamteffekt und Gesamteindruck machte, von dem alle profitierten. Aber sind das nicht unnütze Gedanken, dachte er, die Schultern hochziehend. Er wandte sich vom Fenster ab, durchschritt das Wohnzimmer und ging, am Telefon vorbei, in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Wohlgeordnet lagen Butter, Käse und abgepacktes Brot bereit. Er nahm einen kleinen Apfel aus dem sonst leeren Gemüsefach und steckte ihn in die rechte Tasche seiner Hausjacke, ein Vorgang, der zu nichts gut war, außer dazu, dem Gefühl, auf alles vorbereitet zu sein, Nahrung zu geben. Jetzt kann dir nichts mehr geschehen, jetzt kannst du um die ganze Welt reisen, hatte sein Großvater immer gesagt, wenn er, der Enkel, einen besonders schönen Apfel, den der Großvater, auf der Leiter stehend, ihm hinunterreichte, in die Jackentasche gleiten ließ. Hatte er je einen dieser Äpfel gegessen? Das Gefühl aber stellte sich auch jetzt ein, das Gefühl, gerüstet zu sein, allen Widrigkeiten trotzen zu können. Er ging, wieder am Telefonapparat vorbei, zurück ins Wohnzimmer und stellte sich wieder ans Fenster. Eine alte Frau, sah er, zog sich am Haltebügel die schräge Ebene zur Apotheke hoch. Die Tür öffnete sich automatisch. Diente die Beleuchtung vielleicht doch eher der Sicherheit als der Werbung, überlegte er. Und waren Stufen an Apotheken nicht mehr erlaubt? Könnte durchaus sein. Bei Gelegenheit müsste er das erfragen, das mit dem Licht und auch das mit den Stufen, jetzt aber, heute Abend, nur aus diesem einzigen Grunde hinunter zu gehen, kam nicht in Frage, er benötigte vorläufig nichts. Zudem waren diese Fragen nicht wichtig, er stellte sie sich selbst, das war alles. Nicht jede Frage ist es wert, beantwortet zu werden, dachte er. Unwichtig, ob der gewissenhafte Apotheker eher seinen Gewinn oder die Gesundheit seiner Kundschaft und der anderer Passanten im Sinn hatte, als er sich entschied, das Flutlicht anzubringen, das ja tatsächlich den Gehsteig überflutet wie ein unendlich dünner Film aus gleißendem Licht, leichter als Wasser und schwerer als Gas. Unwichtig, dachte er, diesmal fast unwirsch, jetzt eines Handwerkers gewahr werdend, der aus einem Firmenwagen ausstieg, dem Fahrer zunickte und vielleicht ein Bis Montag mit den Lippen formte, ohne tatsächlich die Stimmbänder in Schwingung zu versetzen. Der Mann verschwand im Hauseingang links neben der Apotheke. Möglicherweise steht auch er, so er im Vorderhaus wohnt, in wenigen Minuten am Fenster, um, noch in Arbeitskleidung, hinauszuschauen, auch wenn er anstelle der Apotheke und der Bäckerei den Zeitungsladen und das Wäschegeschäft gegenüber sehen muss. Er selbst brauchte nur das Fenster zu öffnen, sich nur ein wenig hinauszulehnen und nach rechts zu blicken, über die Hochbahnbrücke hinweg, auf der im Augenblick zwei gelbe U-Bahn-Schlangen, ihm den Blick versperrend, sich begegneten, um das Licht des Wäschegeschäfts zu sehen, wie es den Gehweg schwachgelblich überzog, so wie der Handwerker ebenfalls nur das Fenster zu öffnen brauchte, um, nach links blickend, das Apothekenlicht zu sehen. Unwichtig, unwichtig, dachte er wieder, alles von außen Betrachtete ist unwichtig! Doch sobald nur ein einziger Gedanke an das Geschehen angeheftet wird, was fast automatisch geschieht, erscheint es auf einmal wichtig. Einem selbst. Aber auch wenn kein Gedanke, sann er weiter, keine Überlegung und keine Frage auf ein Geschehen folgt, es zu belegen und zu kommentieren, so erfordert allein die Entscheidung zum Nichtbedenken, Nichtüberlegen und Nichtbefragen wieder einen Denkimpuls. Auch ein Nicht-daran-Denken ist, wenn nicht immer, so doch oft, ein Daran-Denken. Er holte tief Luft und tastete zugleich nach seinem Apfel. Ohne Belang, all das, dachte er weiter, nur um nicht das Wort gleichgültig denken zu müssen, welches ihm gleichzeitig in den Kopf geschossen war. Wer noch einen Apfel in der Tasche hat, der hat noch nicht alle Hoffnung fahren lassen müssen, auch das hatte der Großvater gesagt. Oder habe ich, dachte er, mir das hinzugedichtet? Das mit der Hoffnung?
Der Apfel wanderte von der einen in die andere Tasche seiner Hausjacke. Wieder begegneten sich zwei U-Bahnen auf der Brücke, passierten einander, und zwar dieses Mal, wie er glaubte erkennen zu können, exakt auf Höhe der Brückenmitte, passgenau. Aber unwichtig, dachte er, unwichtig. Alles, was er beobachtete, was er mit gedachten Sätzen belegte, war ohne jeden Belang. Und auch der Mann, der nun im Türrahmen der Apotheke stand und sich den Hals rieb, bedurfte keiner Kommentierung. Ich schließe die Augen und nichts dort draußen ändert sich, dachte er, es sei denn, ein Beobachter meiner selbst denkt, jetzt schließt er, also ich, die Augen und steht nur da. Nicht wichtig, auch das nicht, natürlich, ob nun wahr oder erfunden. Er öffnete die Augen. Die Brücke leer. Müssten sich die U-Bahnen, fuhren sie exakt im gleichen Takt von drei, vier oder fünf Minuten, nicht immer genau auf Mitte der Brücke treffen? Theoretisch war das sicher so, in der Praxis aber unwahrscheinlich. Zudem fährt die eine Bahn in die nah der Brücke sich befindende Station hinein, während die andere aus ihr herausfährt, die eine bremst also, die andere beschleunigt. Aber auch das wäre sicher zu bewerkstelligen, also theoretisch sicher, der Berechnung nach. Doch was war schon wirklich sicher, ja gäbe es denn Sicherheit, was bräuchte der Mensch Glaube, was bräuchte er, bräuchte ich, Hoffnung, dachte er. Von Liebe mal ganz zu schweigen. Glaube, Liebe, Hoffnung. Seine Hoffnung jedenfalls war ihm verloren gegangen, allein dessen war er sich nun sicher, obgleich eben noch nichts entschieden war in seiner Sache, über die er niemandem gegenüber etwas hatte verlautbaren lassen, eben weil es seine Sache war. Seine Diagnose. Nicht die von irgendjemand anderem. Er musste abwarten, und dazu war er bereit gewesen, doch er hatte nicht gewusst, nicht einmal geahnt, dass die Hoffnung, die ja so eng mit dem Warten auf eine entscheidende Nachricht verbunden ist, überhaupt aufbrauchbar sein könnte. Hieß es nicht, sie stürbe zuletzt, immer. Der Mut, die Liebe, ja selbst die Verzweiflung, all diese Zustände, mochten sie noch so verworren erscheinen, fänden sicher immer ihr Ende, wenn auch Zustände nicht der richtige Begriff ist, wie er wusste. Die Hoffnung aber, stellte er also fest, habe ich immer als unaufbrauchbar betrachtet, gleichsam als einen unendlichen Weg, und mochte der auch letztlich in sich selbst münden, so geschieht dies doch immer unbemerkt, glaubte ich, dachte er. Die Hoffnung ein Selbstbetrug also? Aber wie auch immer, ist nicht gerade das das Wesen der Hoffnung, sich selbst betrügen zu können, ohne es doch eigentlich zu bemerken? Keine Statistik, keine Logik und keine Empirie reicht heran an die Hoffnung, so seine Überzeugung bis heute, bis zu diesem Augenblick der Klarheit. Nun also lag sie hinter ihm, die Hoffnung, doch es war nun nicht etwa so, dass sich stattdessen Verzweiflung einstellte, nein, sie, die Hoffnung, war einfach nur fort, ein Wort ohne Inhalt, unspürbar, also nichtig. Was er jetzt spürte, war also demnach Hoffnungslosigkeit, doch auch wenn sie ohne Zweifel vorhanden war, so war sie doch nicht an die Stelle der Hoffnung getreten. Und selbst wenn jetzt, er wartete bereits seit Stunden auf nichts anderes, das Telefon klingeln würde, er träte nicht mit gleichsam neuer Hoffnung auf eine positive Nachricht auf den Apparat zu, er täte es, er ginge hin, selbstverständlich, er nähme ab, meldete sich mit einem kurzen Ja, wie immer, selbst in seinem Büro sagte er nur immer Ja, aber er täte es nicht mit dem Gefühl, bald von der Hoffnung getrogen beziehungsweise getragen zu werden, worden zu sein, ja, so hatte er immer gedacht, was doch ein einziger Buchstabe allein auszurichten imstande ist, hatte er gedacht, ein a oder ein o, getragen oder getrogen, und die Hoffnung war ihm immer die Mitte gewesen zwischen zwei klar zu benennenden Möglichkeiten, dem Gelingen oder dem Misslingen einer Angelegenheit, sei sie wichtig oder nicht.
Er nahm den Apfel aus der Tasche und wog ihn in der linken Hand. Warum, so fragte er sich, ist die Hoffnung, meine Hoffnung, ausgerechnet jetzt aufgebraucht, in eindeutigem Zusammenhang mit dem, was ihm heute noch, so glaubte er, telefonisch mitgeteilt werden würde? Er hatte darauf bestanden, sofort unter seiner privaten Nummer angerufen zu werden, unverzüglich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit auch immer. Nicht auf dem Anrufbeantworter sei die Mitteilung zu hinterlegen, sicherheitshalber stellte er ihn ab, sondern ihm persönlich zu übermitteln, fernmündlich, wie früher noch gesagt wurde und wie er es auch gerne heute noch formulierte, von Ferne, von anderer Stelle aus mündlich. Man wolle versuchen, seine Angelegenheit vorzuziehen, könne aber nichts versprechen, es gäbe im Labor eine strikte Ordnung, Abläufe, Zuständigkeiten, er verstünde das sicher. Seiner Sekretärin, die ja gar nicht die seine ist, hatte er mitgeteilt, er bleibe heute zuhause, ginge in seine Wohnung, führe also nicht über das Wochenende, wie sonst immer, heim, in die alte Heimat, bleibe also in Berlin, ausnahmsweise. Warum, so dachte er jetzt, hatte er ihr das überhaupt mitgeteilt, an diesem Freitag, um die Mittagszeit herum, zu einem Zeitpunkt also, an dem er ihr normalerweise ein schönes Wochenende wünschte und dann schnurstracks mit der S-Bahn zum Ostbahnhof fuhr, um seine Fahrt Richtung Düsseldorf anzutreten, über Hannover bis nach Dortmund, wo er dann umstiege, gewissermaßen. Heute führe er nicht, hatte er gesagt, und Frau Krämer hatte daraufhin ja gesagt, so wie sie immer ja sagte, teilte er ihr etwas mit. Dass sie nicht meine Sekretärin ist, sondern die des Kollegen Kranzler, ist ihr sicher mehr als bewusst, obgleich sie meine Aufträge immer so schnell und so präzise wie möglich ausführt, wie es scheint. Sie können meine Sekretärin mitbenutzen, hatte Kranzler gesagt, kollegial lächelnd, es sei ja nicht meine Schuld, dass an diesem Ende gespart werde. Kranzler hatte tatsächlich mitbenutzen gesagt, nicht etwa in Anspruch nehmen, und er wusste nicht zu sagen, ob etwa ein frivoler Hintersinn in diesem Wort steckte oder nicht. Unwillkürlich hatte er sie sich nackt vorstellen müssen, nackt in ihrem Bürostuhl sitzend und arbeitend, nicht etwa auf dem Schreibtisch liegend mit gespreizten Schenkeln, nein, durchaus nicht, einfach nur nackt und arbeitend. Sein Verhältnis zu der Krämer, wie sie allenthalben genannt wurde, war aber eher kühl, und er fürchtete, sie nähme ihm die zusätzliche Arbeit übel, obwohl er doch unter normalen Umständen alle Anrufe immer automatisch in sein Büro leiten ließ, was manch einen Gesprächspartner überraschte. Die Krämer also wusste, dass er nicht heim gefahren war, sondern zuhause blieb. Er hatte es für sich immer so und nicht anders formuliert, heim und zuhause, wobei das Heim ja tatsächlich ein wenn auch kleines Haus war, gute vier Zugstunden entfernt, während sein Zuhause aus einer Mietwohnung bestand, einer Zwei-Raum-Wohnung mit Bad und Balkon in Prenzlauer Berg. Hier, wie auch dort, wartete niemand auf ihn. Er stand oft wochentags, wenn er am Abend, wie zumeist, nicht ausging, so wie jetzt, am Fenster und sah hinaus. Anrufe kamen selten, und auch jetzt rechnete er nur mit dem einen, der kommen sollte, kommen musste, den er ausdrücklich erbeten hatte, der ihm Klarheit verschaffen würde, endgültig, wie