Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Falschspieler (eBook)
Falschspieler (eBook)
Falschspieler (eBook)
eBook294 Seiten4 Stunden

Falschspieler (eBook)

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Geschichte einer Literaturfälschung, in perspektivischer Brechung und mehrfach potenziert. Bei seinem Erscheinen im Herbst '08 wurde der Roman von der Kritik einhellig begrüßt. Aber ein so vielschichtiges Werk sollte der Erstling einer unbekannten Autorin sein? Was aufmerksame Leser fast schon geahnt haben, wird jetzt aufgedeckt: Falschspieler entstammt nicht der Feder der Deutsch-Amerikanerin Jutta Roth, sondern der Michael Zellers, der seiner Story damit eine weitere, eine außerliterarische Wendung gegeben hat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Dez. 2015
ISBN9783869133430
Falschspieler (eBook)

Mehr von Michael Zeller lesen

Ähnlich wie Falschspieler (eBook)

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Falschspieler (eBook)

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Falschspieler (eBook) - Michael Zeller

    vivendi

    Inhalt

    I

    MEINE KINDHEIT

    II

    IN DER FREMDE

    III

    PROLEGOMENA ZU EINEM NACHWORT

    IV

    EIN MANN GING VERSCHÜTT

    Der Autor

    I

    MEINE KINDHEIT

    Aus dem Nachlaß Friedrich Fabers

    Ganz für sich stand das Haus oben am Hang des Graubergs, vorm Waldrand, in einem terrassierten Garten. Unter uns das Tal: Der Fluß, die Stadt, die flachen Berge jenseits. Darüber öffnete sich der Himmel weit. Nichts liebte ich mehr als diesen Blick aus unserem Wohnzimmer, durch ein großes Bogenfenster. Dicht aneinandergedrängt die Häuser, Dach an Dach, um den sandsteinroten Machtfinger des Kirchturms gestreut. Doch war’s der Fluß, der mich ans Fenster lockte, wie er sich durch die Wiesen wand, lang genug, ehe er an der Fensterkante abbrach. Diesen Schnitt nahm meine Phantasie nie ernst. In zwei Fernen entschwand der Fluß, wenn ich übers Land schaute, nach links und rechts, und ich konnte sie mir mit meinen eigenen Bildern ausmalen. Das Wasser glänzte hoch, von der Sonne aufgeladen, blinzelte mir ins Auge, als meinte es nur mich. Oder es blieb stumpf unten liegen, ohne Gruß, grau, mochte sich selber nicht leiden.

    Der Fluß kam her zu uns, aus dem Unbekannten, und glitt mit allem, was er unterwegs in den Fernen erlebt hatte, durch diese Stadt. Man mußte nur scharf genug hinschauen. Dann zog er, weiter von hier in eine andere Fremde. Die ­Häuser und Straßen, selbst der wuchtige Kirchen­leib, unumstößlich schwer, für Ewigkeiten festgemauert, zer­bröckelten vor meinen Augen. Der Fluß erzählte eine andere Geschichte. Sie war nicht Stein auf Stein gefügt, unter stolz verzierten alten Jahreszahlen, bot keinen Schutz vor Wind und Regen und Kälte. Doch an das, was das vorüber­ziehende Wasser mir zu sagen hatte, glaubte ich lieber.

    Kein Wunsch des Kindes, kein bloßer Traum: Es war zu sehen, jeden Tag, wenn ich mochte, auf dem Fluß da unten. Leben, ein Leben außerhalb der handgreiflichen Dinge, die mich umstellen und festhalten und kleinmachen wollten. Es gab Bewegung, die Ferne, andere Welten. Darauf setzte meine Neugier, ja meine ganze Lebenshoffnung, und nicht auf das selbstherrliche, starre Gemäuer, das glauben machen wollte, es sei alles und auf ewig.

    Das Bogenfenster unterm Dach, das mir das Bild von Weite schenkte, steht für das Haus meiner Kindheit. Mit diesem Ausblick auf die Welt bin ich groß geworden. Zehn Jahre lang hat er mich begleitet und mein Schauen geprägt. Davon zehre ich heute noch.

    In der kleinen Mansarde am Grauberg hatten wir Unterschlupf gefunden, nachdem der Krieg uns aus dem Osten Deutschlands hierher getrieben hatte. Das Haus, nehme ich an, war zwischen den beiden Kriegen gebaut worden, als manche Auswärtigen aus den nahen Großstädten hier in dem hübschen Fachwerkort am Fluß Ruhe suchten, an den Hängen seines Tals. Die Nachbarn zu beiden Seiten lagen gerade noch in Sichtweite: eine Gärtnerei und der Park des Müttergenesungsheims. Sein Gemäuer verdunkelte hinter mächtigen Bäumen. Ein Schloß, in meinen Augen damals, wegen der Zinnen auf dem Dach. Oder eine Burg von Raubrittern, die nachts hier ihre Beute aufteilten.

    Besitzerin unserer Dachwohnung war eine Witwe Kiesling, aus Würzburg stammend, dem Bischofssitz. Sie lebte im Erdgeschoß. Ganz unten, neben der Waschküche, hatte ihr Sohn Elmar sein Zimmer, und auf dem Stück Kies davor bastelte er an seinem Motorrad. Tochter Kriemhild sahen wir so gut wie nie. Sie war verheiratet und lebte auf der anderen Seite des Flusses.

    Elmar erlebte ich als einen strahlenden Mann. Groß und kräftig gebaut. Ein wahrer Hüne, so kam’s mir damals vor. Ein Held. Kornblond seine Locken; im Nacken kurzgehalten, drängten sie von den Schläfen in ein sommerbraunes Gesicht hinein. Sein Lachen war im Haus und im Garten ständig zu hören. Denn er war immer da. Arbeiten ging er nicht. Er hatte nichts gefunden, jedenfalls nicht das Richtige für ihn, wie er sagte.

    So blieb ihm genug Zeit für sein Motorrad, eine ziemlich schwere Horch, die er irgendwo aufgespürt hatte, in einem Kohlenkeller der Stadt unten, wo sie den Krieg überlistet hatte. Und ich verbrachte jede freie Minute an Elmars Seite. Die Horch, unterm Vordach der Waschküche auf den Sattel gestellt, war gut in Schuß, aber vollkommen verdreckt. Rost hatte sie auch angesetzt. Stück um Stück mußte sie auseinandergenommen und wieder zusammengebaut werden.

    Zuerst versuchte ich noch, ein bißchen mitzuhelfen und von einem Stück Blech oder einer Schraube den Rost abzuschmirgeln. Elmar sagte nichts dazu. Bis ich selbst spürte, daß er’s nicht gerne sah. Er wollte lieber alles alleine machen. Aber wenn ich kam und mich neben ihn auf den Kies hockte, auf gekreuzten Beinen, freute er sich immer. Er kniete dort vor seiner Horch, mit bloßem Oberkörper, gebräunt die Schultern, der Nacken, die sehnigen Arme. Ständig trug er die kurze graue Hose, die ihm seine Mutter wohl aus einer Wehrmachtshose zurechtgeschnitten hatte. An den Füßen knöchelhohe ausgetretene Schuhe, ohne Riemen. Socken brauchte der keine.

    Auf alten Zeitungen lagen aufgereiht die Schrauben samt ihren Muttern, in allen Formaten, Ventile, Kabel, Muffen, allerlei Hebel, Rohre und Röhrchen, die Kette, der Auspuff, das Trumm einer Blechverkleidung. Merkwürdig geformte Teile, deren Zweck ich nicht mal ahnte. Ich hätte ja bloß zu fragen brauchen, doch ich ließ lieber die Augen wandern und sah zu, wie die Dinge sich in Elmars Händen veränderten, wie sie, gereinigt und geschmiert, mit einem Mal in diese Lücke paßten an der Maschine, genau dahin. Wie er mit den verschiedenen Schraubenziehern und -schlüsseln hantierte, die auf anderen alten Zeitungen lagen, sortiert nach Größe und Gerät, die Feilen und Flachzangen, Stahlwolle, Schmirgelpapier, das Ölkännchen mit der dünnen, endlos langen Schnute und, für alle Fälle, Elmars Hirschfänger, mit dem Griff aus Horn, größer als meiner, an dem mein Herz schon so lange hing.

    Suchen mußte er fast nie, um für die festsitzende Mutter den passenden Schlüssel zu finden, und wenn dann Elmar seine Muskeln anspannte, hatte sie, so tief der Kohlenruß auch eingefressen war, keine Chance mehr. Ganz selten mußte doch der Hammer her, und auch dann fluchte Elmar nicht. Es ging ihm alles ruhig und sicher von der Hand. Jeder Griff saß. Nie erlebte ich ihn nervös oder wütend. Er schaute sich die Sache an, überlegte eine Weile, dann fand er den Weg und mußte selten umkehren. Das war es, was mich festhielt an seiner Seite, wovon ich mich schwer losreißen konnte, wenn Mutter mich aus dem Bogenfenster nach oben rief, zum Abendbrot.

    Natürlich war Elmars Motorrad eine Sensation für mich, man sah ja so gut wie keine Maschinen auf den Straßen, und wenn, dann nur von Seitenwagen plump und langsam gemacht. Schon das dunkelbraune rissige Leder der Motorradhauben sah nach Abenteuer aus. Als wäre der Fahrer auf seiner Maschine gerade den Gefahren ferner Länder entkommen.

    Klar, daß Elmar hoch und heilig versprechen mußte, mich als ersten hinten auf dem Sozius mitzunehmen, wenn die Maschine wirklich eines Tages laufen sollte. Kaum zu glauben, wenn ich ihr Skelett jetzt so stehen sah vor der Waschküche. Doch nicht die Vorfreude auf die Ausfahrt hielt mich hier und ließ mich, Stunde um Stunde, die Zeit vergessen. Es war Elmars Art zu arbeiten. Wie unter seinen Händen, in ihrem festen, entschlossenen Griff, eines aus dem anderen folgte. Wie Widerstände überwunden wurden, Kniffliges sich auflöste. Wie aus allem, so unentwirrbar es eine Weile lang schien, dann doch etwas zustande kam, eine Form, ein Ergebnis, ein Abschluß. Das machte mich zufrieden, ja sogar glücklich. Elmar freute sich ebenfalls und zwinkerte mir zu, wenn nach einer längeren Fummelei endlich ein Teil auf das andere paßte, wie angegossen. Viel­leicht stand er dann auf, reckte sich, drückte das Kreuz durch, wischte sich an einem Lappen die Hände ab, schwarz von Ruß und Öl bis hoch zum Ellenbogen, und schob die Haarlocken aus der Stirn. Hockte sich neben mich hin und rauchte eine dieser hellen amerikanischen Zigaretten.

    »Fang nie damit an, Friedrich«, sagte er und zog den Rauch tief ein. »Das hab’ ich auch in dem verdammten Krieg gelernt.« Aber wie er das sagte, lachend, und mit welchem Genuß er an dem Glimmstengel hing, glaubte ich ihm kein Wort und sollte das wohl auch gar nicht. Aber sein Päckchen hat Elmar mir niemals hingehalten.

    Viel zu reden gab es nicht. Wir verstanden uns schweigend. Ich spürte: Er mochte es, wenn ich bei ihm war und ihm zuschaute. Er summte oder pfiff vor sich hin, stramme Melodien, und ich, noch vorm Stimmbruch, übernahm die zweite Stimme.

    Warum er denn nicht singe, habe ich ihn einmal gefragt, in einer Rauchpause.

    »Ach weißt du, die Mutter stirbt vor Angst, wenn ich die alten Lieder singe und Leute hier vorbeikommen.«

    Tatsächlich führte direkt neben dem Grundstück der Sandweg einer Steige hinab in die Stadt, und manchmal sahen oder hörten wir einen Nachbarn oder jemand Fremden an uns vorübergehen.

    »Und das Ave Maria ist halt nicht mein Fall.«

    Er richtete sich auf, schnippte die Kippe, wenn sie sich wirklich nicht mehr halten ließ zwischen den Fingernägeln, in den Kies und beugte sich wieder über seine Schrauben und Zangen.

    Wie alle unsere Bekannten stammte auch Jockel Schulze-Köln nicht von hier. Er trug seine auswärtige Herkunft schon im Namen, noch dazu von eigener Hand verliehen, wie es einem Künstler ansteht.

    Mit geradezu magnetischen Kräften müssen die Fremden einander angezogen haben in der kleinen alten Fachwerkstadt am Fluß. Offenbar gab es so viele von ihnen, in allen Berufen und Schichten, daß man unter sich bleiben und die Eingeborenen links liegen lassen konnte. Die waren die einzig wirklich Fremden. Wenn man sie zur Kenntnis nahm (o ja, das mußte man schon, denn aller Einfluß, Macht und Geld waren und blieben in ihrer Hand, als hätte der liebe Gott es so gewollt), dann tat man es mit Ironie und Spott. Die da von hier, hieß es dann. Die nicht wissen, was Krieg heißt. Die mit dem harten Herzen. Man schüttelte den Kopf, seufzte auf von ganz tief unten. Was sie sich erneut geleistet hatten, die Eingeborenen, und immer aufs Neue leisteten. Respekt gab’s wenig, Verachtung viel, auch Furcht und Wut darüber, daß man von ihnen abhängig war, sich anpassen sollte. Dünkel, Anmaßung und Befremdung auf beiden Seiten der Front. Wer die magische Linie zu ­übertreten wagte, wie Doktor Ungers, der in eine ortsansässige Familie einheiratete, hatte im Grunde bei allen verspielt.

    Jockel Schulze-Köln war einer der wenigen, die nicht hier gestrandet waren, vom Krieg entwurzelt, ohne zu wissen, wie ihnen geschah. Bereits in den Dreißiger Jahren hatten er und seine Frau sich in der Stadt niedergelassen, aus freien Stücken. Wegen seiner Kunst. So hieß es jedenfalls. Ob auch andere Gründe sie bewogen hatten, die Großstadt zu verlassen? Es gab Gerüchte. Schulze-Köln sprach nie über Politik, und auch die meisten anderen ließen dieses Thema ruhen, sobald er in der Nähe war. Oft und gern dagegen schwärmte er von der Schönheit dieser Landschaft.

    Den Fluß lobte er und sein Tal, eingefriedet in die auf- und abschwingenden Weinhänge von Odenwald und Spessart. Dieses lichte Land, »von Flußwasser getauft« (Schulze-Köln). Und gleich daneben der Wald. Ein paar Treppen nur müsse man steigen, ausgetretene Sandsteinstufen, ein steiles Stück Weg, und die Tiefe des Waldes sei um einen. Nachtfinster wie im Nibelungenlied. Und das Schönste, ach ja: Dieser Sandstein, sein Rot, nein, ein ganzes Bündel von Rot, dem keine Palette je gewachsen sei. Ständig war er herausgefordert als Maler. Eine reich gedeckte Tafel fand Schulze-Köln hier vor, voller Motive und Malanlässe.

    Meister Jockel wohnte mit seiner Frau im Herzen des Städtchens, in einem jener Fachwerkhäuser des späten Mittelalters, wie er sie ebenfalls bevorzugt malte, und sei es nur als Hintergrund.

    Nah floß der Main vorbei. Man sah ihn nicht, doch man roch das Wasser und hörte das Ge­zänk der Möwen. Vom ersten Stock ging der Blick auf den Marktplatz mit dem Brunnen. Sommers wucherten Geranien über den Rand des sandsteingefaßten Beckens. Das Erdrot des Steins, mit ­seiner eigenen Schwermut, kontrastierte – oder biß sich – mit dem Jahr für Jahr unbekümmert aufbrechenden grellen Rot der Blumen. Jeder Reisende, der die Stadt besuchte (und im Sommer kamen viele, auch in ersten Bussen schon), stand verzückt an diesem Platz mit dem Brunnen und spitzgiebliger Fachwerkpracht, als hätte es nie diesen Krieg gegeben. Die Menschen durften von besseren Zeiten träumen.

    An der Ecke zum Marktplatz wohnte und arbeitete Jockel, der Kunstmaler, wie’s damals hieß. Und hier verkaufte er auch seine Bilder. In den Fenstern des Erdgeschosses standen und hingen sie und lockten Kundschaft an, gerade auch unter den Touristen. Ein Getreidefeld, sein reifes Korn vom Wind zur Seite gekämmt. Ein Wiesenstück voller Frühlingsblumen oder ein Weinberg, von der Färbung des Herbstes. Eine rote Felswand zwischen Eichen. Glitzernd stürzte Wasser herab. Natürlich der umschwärmte Brunnen am Marktplatz, gleich mehrfach, auch bei Nacht, mit Mond, voll oder als Sichel. Schlecht ging es diesem Maler nicht, selbst in den Jahren nach dem Krieg. Er hatte sein Einkommen und konnte zufrieden sein mit sich und seinem Leben.

    Tatsächlich strahlte der kleine beleibte Alte eine Fröhlichkeit aus, Erbschaft seiner rheinischen Herkunft. Kaum einer, der sich in seiner Gegenwart nicht wohlfühlte. Der Kopf mit der Glatze war immer stark gerötet. »Sonnenfirnis« sagte er selbst dazu und kicherte. Am liebsten malte er nämlich in freier Natur. Oft sah man ihn mit seiner Staffelei irgendwo sitzen, und immer war’s ein hübsches Plätzchen, das bald auch so auf der Leinwand erschien.

    Das Auffälligste an Meister Jockel war seine Stimme. Ungewöhnlich hoch war sie und sprang manchmal nach oben weg, als sei er noch im Stimmbruch. Das hatte dann etwas vom Weckruf des Hahnes in aller Frühe, seinem Gefühl von Kraft, von Lebensbehauptung. Wenn Jockel den Mund öffnete, noch dazu in der singenden Tönung seiner Vaterstadt Köln, meinte man zunächst, er mache sich einen Spaß. Daß seine Frau Trude in der gleichen hohen Lage krächzte und ihre Stimme splittern ließ wie er, setzte alle immer wieder in Erstaunen, auch wenn man die beiden schon besser kannte. Das war einfach zum Lachen (und hinter dem Rücken des Ehepaars legte man auch jeden Zwang ab), wie gleich ihre Stimmen klangen und wie komisch.

    Schade nur, daß Frau Trude so ganz die Munterkeit ihres Mannes abging. Geizig war sie außerdem. Sie hielt das Geld zusammen, hieß es, und wachte mit hochgezogenen Brauen darüber, daß Jockel keinen dritten Schoppen bestellte, wenn sie abends die Weinstuben im Städtchen aufsuchten.

    »Mein Mann dankt«, beschied sie dann die Kellnerin. Dieser Spruch hatte Leo Zurmühlen derart begeistert, daß er ihn zu Trudes eigentlichem Namen erhob. »Die Mein-Mann-dankt hat doch neulich wieder …«, hieß es dann in der Runde oben am Berg. »Die Mein-Mann-dankt war natürlich auch mit von der Partie.« Ob es stimmte, daß sie ihrem Mann das Geld abzählte, wenn er mal allein ins Wirtshaus zog (was selten genug vorkam)? Leo Zurmühlen behauptete das so unbeirrbar, daß es bald auch galt.

    So rasch Meister Jockel Freunde gewann durch seine fröhliche Art, so wenig beliebt war Trude, seine Ehehälfte. Ein Jammer, hieß es, daß man den Jockel niemals alleine trifft.

    Auch Mutter schloß sich dieser Meinung an. Möglicherweise hatte sie die beiden bei den Zurmühlens kennengelernt, denn sie verkehrten natürlich ebenfalls auf dem Berghof dort. Oder es war in der Stadt gewesen, am Marktplatz, wenn Mutter in dem Schreibwarenladen ihre Modezeitschriften bestellte. Jockel mit seinem keck übers Ohr gezupften Kunstmaler-Barett war auffällig genug, erst recht seine Stimme im singenden Tonfall. Da Mutter im Rheinland großgeworden war, sprang sofort der Funke über. Sie freuten sich, in der Sprache ihrer Heimat miteinander reden zu können. Nach der ersten Begegnung jedenfalls kam Mutter ganz beschwingt nach Hause, fühlte sich wieder ein bißchen weniger allein in dieser Stadt.

    Und ein Maler war er dazu! Künstler liebte Mutter auf Anhieb, selbst ohne jeden Titel. Und Jockel, der pummelige, kahlköpfige Greis, sah in ihr eine Muse vom Himmel herabgestiegen, eigens für ihn. So gut beäugt er auch war von seiner Gattin: Auf dieses Geschenk mochte er ungern verzichten. Beide schwärmten sie einander an, Jockel und Mutter, aus ganz unterschiedlichen Traumquellen gespeist und überschattet von der Trauerweide Trude.

    Im Berghof der Zurmühlen gingen wir ein und aus, beinahe täglich. Der Fußweg dorthin, über steile Obstwiesen, dauerte wenig länger als eine Viertelstunde von unserer Mansarde. Das Ehepaar stammte aus Berlin, aber Flüchtlinge wie wir waren sie nicht. Bereits während des Kriegs hatten sie die Hauptstadt verlassen und sich hier, »jottweedee«, wie Leo sagte, ein Haus gekauft. Leo Zurmühlen war Schriftsteller, seine Frau Sophie kam aus dem Bankgeschäft.

    Der Berghof war das letzte Haus auf dem Grauberg. Hier endete auch die Autostraße, die in zwei, drei engen Kehren hochführte. Asphaltiert war sie nur auf halber Strecke, doch breit genug, daß Leo mit dem schwarzen Vorkriegs-­Mercedes bis zur unteren Rampe seines Geländes vorfahren konnte. Er war Städter geblieben, mit Haut und Haar. Sich zu Fuß fortzubewegen, lag außerhalb seiner Vorstellung.

    Es gab kein zweites Haus dieser Größe weit und breit am Hang: ein stattliches zweigeschossiges Landhaus. Auf dem Grundstück, dessen Grenzen nicht zu überblicken waren, führten von mehreren Seiten Treppenwege hoch und eine Zufahrt. Nach hinten lagen die Schuppen für Holz und die Kohlen. In einem anderen, mit schwerem Vorhängeschloß, bunkerten die Zurmühlens ihre Nahrungsvorräte, vor allem den Wein. Interessanter für uns Kinder waren der Hühnerstall und die Drahtkäfige mit den Kaninchen. Ich kannte jedes einzelne von ihnen und wußte auch, was es bedeutete, wenn von einem Tag auf den anderen einer der zutraulichen Mümmelmänner verschwunden war. Dann schwor ich mir, keinen Bissen in den Mund zu nehmen heute, trotz meines ständigen Kohldampfs, und meistens hab’ ich’s auch geschafft. Selbst ein Teil des Waldes, hinter Schuppen und Ställen ansteigend, gehörte den Zurmühlens.

    Mutter hatte bei diesen beiden Berlinern ein Zuhause gefunden. Tante Sophie, wie wir Kinder sie nannten, zwanzig Jahre älter als sie, eine lebenspraktische Frau, war ihr Ratgeberin geworden, ja Vertraute, hier in der Fremde. Außerdem trafen wir dort Menschen, die uns unten in der Stadt niemals begegnet wären. Durchreisende aus Hamburg, Essen oder München, Kollegen aus den Berliner Tagen des Paares, aber auch Einheimische, die sich irgendwann mal hochtrauten auf den Berghof, Kartenbrüder Leos aus der Hopfenperle, irgendwelche Außenseiter, die es hierher verschlagen hatte.

    Ich erinnere mich nur an fröhliche Abende. Wenn wir Kinder nach Hause geschickt worden waren, müssen sie oft genug auch feucht gewesen sein. Mutter verbrachte hier ihre ausgelassensten Stunden in der ungeliebten ­Fachwerkstadt am Main. Nach dem Wegzug hat sie ihnen nachgetrauert, bis zuletzt.

    Für uns Kinder blieben die Zurmühlens eigenartige Leute, besonders Leo. Warm wurden wir mit ihnen nie.

    »Wenn einer von uns beiden stirbt«, sagte Leo gern zu seiner Sophie, »zieh ich sofort nach Mallorca. Höchste Zeit, mit meinem Freund Vigoleis mal wieder einen draufzumachen. Der wird schließlich auch nicht jünger, der olle Spökenkieker mit sei’m zweeten Jesichte.«

    Mit solchen Sprüchen war er der König des Berghofs und zog die Menschen an. Niemand war vor seinem »Schandmaul«, wie Sophie es nannte, gefeit. Als Schriftsteller hatte er die absolute Worthoheit und nutzte sie gnadenlos aus. Sophie fing, wenn’s doch mal brenzlig wurde, das Schlimmste auf mit ihrem versöhnlichen Raucherlachen, und reichte das nicht aus, kam die nächste Flasche Pfälzer Wein auf den Tisch. So verließ noch jede beleidigte Seele, die Zielscheibe von Leos Bosheiten geworden war, den Berghof wieder aufgerichtet und freute sich aufs Wiederkommen.

    Wie sehr ich mich auch anstrenge: Ein Bild von Leo Zurmühlen ist mir nicht geblieben. Sicher, der Mann war lang und dünn. Aber das galt nur im Vergleich mit seiner kleinen runden Ehehälfte Sophie. Wenn die beiden nebeneinander standen, gaben sie wirklich ein komisches Paar ab. Diesen Anblick vergißt man nicht. Ob Leo aber wirklich so groß war, weiß ich einfach nicht mehr.

    Der Kopf, sein Gesicht? Kein Bild erscheint. Hatte er eine Glatze? Trug er eine Brille? Ich vermute beides, kann’s aber nicht beschwören. Aber der Mund, dieser zahnlose Mund, mit dem er so drohend schmatzen konnte, wenn ihm irgendetwas über die Leber gelaufen war: Strichgerade und strichdünn zogen sich die Lippen durch sein Gesicht, von einem Ohr zum andern. Wenn er sie aufriß, um über seine eigenen Witze lauthals loszulachen, konnte ich sogar die Zunge hinten in der klaffenden dunklen Mundhöhle tanzen sehen. Die beiden künstlichen Gebißhälften, die er in der Jackettasche bei sich trug, habe ich selten im Einsatz mitbekommen, selbst beim Essen so gut wie nie.

    Mehr habe ich nicht gespeichert in meiner Erinnerung, und auch da drängt sich gleich die Erwartung nach vorn, daß dieser eingefallene, häßlich zerrissene Mund sich öffnen und einen dieser legendären Sprüche entlassen wird, die immer wieder zitiert wurden und derentwegen man Leo in einem liebte und fürchtete.

    Tante Sophie, die mir kaum näher stand als Leo, habe ich in allen möglichen Situationen vor Augen. Lachend, weinend, zeternd. Zärtlich und streng, auch böse und hart. Und pausenlos rauchend. So leibhaftig, daß ich sie zeichnen könnte, wenn ich das Talent dazu hätte. Bei Leo Zurmühlen versagt mein Bildvermögen. Als hätte er außer seinem Mund kein Gesicht gehabt, keinen Körper. Alles aufgelöst in seine Worte.

    »Augen zu. Vollgas! Rin in die Kurve!« war eine dieser Redensarten. Immer wieder gehört, hat dieser ja nicht gerade geheimnisvolle Spruch sich meinem Gedächtnis eingebrannt. Denn Leo verstand es, ihn in Situationen anzubringen, meist mit einem heftigen Abwinken des Arms, wo er überhaupt nicht paßte für mein Gefühl. Wenn zum Beispiel jemand etwas Trauriges erzählt hatte und ich darauf wartete, daß gleich die Tränen flössen, knallte Leo ihm sein »Augen zu. Vollgas! Rin in die Kurve!« hin, mit einem Ausdruck im Gesicht, der voller Verachtung war. Eine Sekunde des Erstarrens. Bis der erste in der Runde auflachte, den nächsten mitzog und dann sich alle trauten. Nicht selten lachte der Traurige von eben am lautesten mit.

    Lange Zeit hat Leo mich damit verblüffen können, wie er mit den Worten spielte und außer mir auch die Erwachsenen damit an der Nase herumführte. Und nur ihm gelang diese Wirkung. Als der treuherzige Baurat Stroibl einmal den Spruch aufsagte, mit dem gemütvoll-erdigen Zungenschlag des Allgäus, schauten sich alle im Zimmer an, als habe er gerülpst oder einen fahren lassen. Kein Mensch lachte. Baurat Stroibl hat es nie wieder versucht, und auch niemand sonst.

    Keiner hatte unseren Grauberg so fest im Griff wie Doktor Ungers mit seiner Nuckelpinne. Es ging ein Dröhnen um den Berg, sobald sie sich näherte, zweimal am Tag, frühmorgens und irgendwann am Nachmittag. Längst waren unsere Ohren auf dieses Ereignis geeicht. Von fern kam

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1