XX: Lichtenberg-Poetikvorlesungen
Von Marcel Beyer
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Über dieses E-Book
In den Blick nimmt Beyer nicht weniger als das 20. Jahrhundert, die »Faktenlage" - und die Imaginationsarbeit, die notwendig ist, will man sich eine eigene Lebensgeschichte schaffen. Ein Punkt, an dem »Alice im Wunderland" ins Spiel kommt, und sei es auch nur in Form weißer Kaninchen, die durch die Szene laufen und rufen: »Jemine, jemine, keine Zeit, keine Zeit."
Marcel Beyer
MARCEL BEYER was born and raised in Cologne. The author of several novels and collections of poems, he has received numerous awards and was named one of the best young novelists in the world by the New Yorker. He lives in Dresden.
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Buchvorschau
XX - Marcel Beyer
Göttinger Sudelblätter
Begründet von Heinz Ludwig Arnold
Herausgegeben von
Thorsten Ahrend und
Thedel v. Wallmoden
Marcel Beyer
XX
Lichtenberg-Poetikvorlesungen
Marcel Beyer wurde mit der
Lichtenberg-Poetikdozentur 2014 ausgezeichnet.
Die hier abgedruckten Vorlesungen hielt er am 12. und
13. November 2014 in Göttingen.
Erster Abend
I
Der Tag, an dem der Lebensgefährte der Literaturkritikerin meine Tasche mit einem Buch auf den Boden wirft (einem Buch über das Verschwinden der Welt, das Verschwinden der Sprache, das Verschwinden der Erinnerungen), ist der 8. September 2014.
II
Derselbe Tag, an dem ich, im Verlauf des späteren Vormittags, irgendwann notieren werde: »Dies alles für Göttingen, genau dieser 8. September«, hastig, im Rausch, über mein Notizheft gebeugt, ohne mich dabei jedoch der Vorstellung hinzugeben, das Mitnotieren, das Mitschreiben der mich akut umgebenden Welt werde am Ende – in der Nacht, wenn ich in meinem Hotelbett liege und, kurz vor dem Einschlafen, den zurückliegenden Tag rekapituliere – ein lückenloses, sämtliche Eindrücke umfassendes Protokoll ergeben. »Dies alles für Göttingen, genau dieser 8. September«, in hingekrakelter Schrift: ein Tag, so scheint es mir, wie ein aus der Ferne in die Gegenwart hineinreichendes Zitat, »der Rest ist klar, ein Balg, Karnickelfell, steck deine Hand hinein und schließ die Augen«, ein Tag wie ein umgestülpter, mit Kaninchenfell gefütterter Handschuh. Ein Tag, an dem sich, ohne mein Zutun, die Fiktion nach außen kehrt. Wo aber wäre dann dieses ›Außen‹ anzusiedeln?
Indem ich schreibe, lasse ich mich ein auf die Welt, oder: Indem ich schreibe, nehme ich Distanz zu ihr ein. Ein unablässiges Wechselspiel vielleicht: Ich tariere den Abstand aus zwischen mir und der Welt. Wie aber, wenn dieses Protokoll, peinlich darauf bedacht, keine Lücke zu lassen, in einer widersprüchlichen Bewegung denjenigen auslassen, als Leerstelle auffassen würde, der notiert – als gäbe es diese Welt ohne mich?
Es gibt die Welt ohne mich.
Und es gibt, wie ich feststelle, da ich, heute ist der 19. Oktober 2014, anhand meiner Notizen vom 8. September auf jenen Tag zurückschaue, es gibt auch die Lücken, in denen ich mich selbst aufzuhalten imstande bin. Zum Beispiel das Hotelzimmer, in dem ich die Nacht vom 8. auf den 9. September verbracht habe, verbracht haben muß, ohne daß ich mich auch nur im Geringsten an dieses Zimmer erinnern könnte: Ich sehe mich nachmittags bei der Ankunft an der Hotelrezeption, und dann sehe ich mich am nächsten Morgen wieder vor dem Eingang, auf ein Taxi wartend, das mich zum Bahnhof bringen wird.
Keinerlei Erinnerung: War es ein Einzelzimmer, ein Doppelzimmer, stand das Bett rechts, stand es links, welche Farbe hatte der Boden, waren die Wände tapeziert, waren sie geweißt, hing ein – normalerweise scheußlicher, scheußlich geschmackssicherer – Kunstdruck über dem Bett, gab es ein Fenster oder zwei, schaute ich auf die Straße hinaus oder in einen Hof, und wie sah das Badezimmer aus? Weiße Kacheln, mattbraune Kacheln, sandfarbene Kacheln? – Nichts, als wollte meine Erinnerung leugnen, daß ich je eine Nacht in jenem Hotelzimmer verbracht habe, als gäbe es zwar die Figur (eine Figur, der es nicht gelingt, sich aus ihren Tagesaufzeichnungen weitgehend herauszuhalten), nicht aber den Raum, in dem sie sich aufgehalten hat.
Damit – es braucht nicht mehr als anderthalb Seiten Text, braucht nicht mehr als drei Minuten – verwandele ich mich vor meinen eigenen Augen in eine Figur, entstanden irgendwo im Raum zwischen meinen Notizen und meiner NichtErinnerung, entstanden zwischen dem 8. September (dem Tag des Notierens) und dem 19. Oktober (an dem ich diesen Satz schreibe), einem Datum zugleich, an dem sich der Versuch des französischen Schriftstellers Georges Perec zum vierzigsten Mal jährt, einen Platz in Paris erschöpfend zu erfassen, ihn auszuschöpfen, woraus sein rund fünfzig Seiten umfassendes Buch mit dem schlichten, sich selbst erklärenden Titel Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen hervorging.
Drei Tage verbringt Georges Perec, dessen Vorfahren noch den Nachnamen Peretz trugen, seinem Plan gemäß in den Cafés rund um die Place Saint-Sulpice, setzt sich einmal kurz auch auf eine Parkbank und notiert, was sich um ihn herum abspielt. Notiert, nahezu im Minutenabstand, am Freitag, dem 18., am Samstag, dem 19., und am Sonntag, dem 20. Oktober 1974, ohne damit einen anderen Plan zu verfolgen als eben diesen, ohne weitere Absicht (etwa die, Material zu sammeln für einen noch zu schreibenden Text), nicht einmal die Absicht, sich im Verlauf des Notierens in eine Figur zu verwandeln. Perec gibt sich, wie ein Rezensent bemerkt hat, dem Taumel des Gewöhnlichen hin, dem Taumel des Immergleichen: »Ein 96er fährt vorbei. Ein 87er fährt vorbei. Ein 86er fährt vorbei.