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Dantes Gesänge - Gerät zum Einfangen der Zukunft: Ossip Mandelstams »Gespräch über Dante"
Dantes Gesänge - Gerät zum Einfangen der Zukunft: Ossip Mandelstams »Gespräch über Dante"
Dantes Gesänge - Gerät zum Einfangen der Zukunft: Ossip Mandelstams »Gespräch über Dante"
eBook61 Seiten37 Minuten

Dantes Gesänge - Gerät zum Einfangen der Zukunft: Ossip Mandelstams »Gespräch über Dante"

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Über dieses E-Book

Tag und Nacht habe Mandelstam die »Divina Commedia" gelesen, erinnert sich Anna Achmatowa; er konnte ganze Passagen auf Italienisch auswendig. Sein »Gespräch über Dante" ist gewiss der wichtigste Essay überhaupt im Werk Ossip Mandelstams. In kühnen Metaphern nähert sich Mandelstam darin dem Werk Dantes und erkundet das dynamische Wesen der Poesie. Sein Essay ist ein Versuch über Bewegung, Gehen und Denken, über das Unterwegssein im Wort. Er ruft unüberhörbar auch nach einer politischen Lesart, ist Vertiefung in das Los eines Verbannten, verschwörerischer Geheimcode zwischen verfemten Dichtern, letztlich ein Versuch, die »Obertöne der Zeit" zu hören und Dantes Gesänge als »Gerät zum Einfangen der Zukunft" für die moderne Dichtung zu gewinnen.
Ralph Dutli, einer der besten Kenner Mandelstams, untersucht diesen zentralen Text in dessen Werk und gibt neue Anregungen zur Erkundung der Strahlkraft des großen Dichters und Philosophen Dante Alighieri in der Weltliteratur.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum2. Jan. 2017
ISBN9783835341210
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    Buchvorschau

    Dantes Gesänge - Gerät zum Einfangen der Zukunft - Ralph Dutli

    M.

    Inferno 1933

    Die Halbinsel Krim, am 18. April 1933. Ossip Mandelstam trifft mit seiner Frau Nadeschda in Staryj Krym ein, einer alten Stadt der Tatarenkhane im Südosten der Krim. Die erneute Begegnung mit diesem Landstrich war ein Schock für den Dichter. Hunger und Terror bestimmten die Zeit. Die Auswirkungen der von Stalin im Rahmen des ersten Fünfjahrplanes vorangetriebenen Zwangskollektivierung der Landwirtschaft waren verheerend. Am 1. Februar 1930 hatte er die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« angeordnet und damit unvorstellbare Not über die Bauern der Ukraine gebracht. Die Entkulakisierung traf nicht nur die Großbauern (Kulaken), die als »Konterrevolutionäre« entweder sofort erschossen oder von ihren konfiszierten Höfen vertrieben und nach Sibirien deportiert wurden. Auch mäßig begüterte Mittelbauern und sogar Kleinbauern wurden von der Vernichtungswelle erfasst, damit die von den offiziellen Stellen vorgegebenen »Orientierungszahlen« erfüllt wurden.

    Die verbliebenen Bauern sollten mit der »Hungerwaffe« zum Kolchosbeitritt gezwungen werden. Die Durchführung lag bei der Geheimpolizei GPU, verstärkt durch Liquidierungskommandos, euphemistisch als »Arbeiterbrigaden« bezeichnet, bewaffnetem städtischem Mob und aus den Gefängnissen rekrutierten Kriminellenschwadronen, die vor keiner Gewalttat zurückschreckten. Es war das planmäßig entfesselte Chaos.

    Die einstige Kornkammer Russlands hatte im 19. Jahrhundert die halbe Welt mit Weizen versorgt. Jetzt war die Landwirtschaft ruiniert. Das Massaker verursachte in der Sowjetunion auf Jahrzehnte hinaus Versorgungsprobleme. Der »Holodomor« (deutsch: »Tötung durch Hunger«) traumatisierte die Ukraine dauerhaft: Noch während der »Orangen Revolution« 2004 und des Euromajdan 2013/2014 in Kiew war die Erinnerung an den »Hunger-Holocaust« akut, als das unermessliche Unheil, das vom stalinistischen Sowjetrussland ausgegangen war.

    Den Erschießungen, Deportationen und Aushungerungskampagnen fielen Millionen Menschen zum Opfer. Es war »die größte menschliche Katastrophe, die jemals einem Volk in Friedenszeiten von seiner eigenen Regierung bereitet worden ist«, schreibt der Historiker Günther Stökl;[1] der britische Historiker Robert Conquest beziffert die Gesamtopferzahl auf 14,5 Millionen Menschen. Nach glaubwürdigen Berichten kam es zu vielen Fällen von Kannibalismus: Eltern, die die Leichen ihrer getöteten oder verhungerten Kinder aßen (Spiegel-Online 20. Januar 2007: »Als Stalin die Menschen zu Kannibalen machte«).

    In welchem Inferno sind wir? Es ist das Jahr 1933. Doch der Dante-Leser wird hellhörig, erkennt die Parallele, eine der schockierendsten Passagen in Dantes Inferno und die berühmteste Stelle der Weltliteratur, die von Kannibalismus handelt. Sie findet sich am Ende des 32. und zu Anfang des 33. Gesangs des Inferno. Wir sind im neunten und untersten Kreis der Hölle, in jener gewaltigen Eiswüste, wo »tausende Gesichter, blau von der Kälte«, ausharren müssen. Dort trifft Dante auf Ugolino della Gherardesca aus Pisa, der gerade wütend am blutigen Schädel des Erzbischofs Ruggieri degli Ubaldini nagt. Der Jenseitsreisende will verstehen, was er als verstörendes Geschehen vor sich sieht.

    Da sagte ich: »O du, du beweist so bestialisch deinen Hass auf den, an dem du herumnagst, sag mir, warum.« […] Den Mund hob der Sünder von dem tierischen Fraß und wischte ihn ab an den Haaren des Kopfes, den er von hinten zernagt hatte.[2]

    Der Kannibale stellt sich vor: »Ich war Graf Ugolino, musst du wissen«, und verkündet dem Fragenden: »So wirst du mich in Tränen reden sehen« (Inferno 33, 9). Er berichtet, wie er von Erzbischof Ruggieri mit zweien seiner Söhne (Gaddo und Uguccione) und zwei Enkeln (Brigata und Anselmuccio) in den Hungerturm von Pisa

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