Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha: Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen 2022
Von Marcel Beyer, Christian Klein und Viktor Schklowski
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Über dieses E-Book
Der Angriffskrieg auf die Ukraine als Zeitwende – nicht nur des Politischen, sondern auch des Erzählens? In seinen Vorlesungen zur Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen reflektiert Marcel Beyer die Bedeutung der Medien für die Konstitution von "Wirklichkeit" in Zeiten des Krieges: Wann berichte ich nur über das, was ich auf Bildern sehe, wann berichte ich und füge unbewusst meine Imaginationen hinzu? Wann berichte ich nicht mehr nur, sondern erfinde? Kann ich von dem berichten, was ich gesehen habe, ohne zu imaginieren? Was meint "Erfindung", was "Bericht" und welche Rolle kommt dem Schriftsteller dabei zu? Ausgehend von der persönlichen Auseinandersetzung mit der medialen Berichterstattung aus der Ukraine im Frühjahr und Sommer 2022 eröffnet Beyer so Einsichten in die Funktionen des Erzählens zwischen Fakten und Fiktionen.
Der Band wird abgerundet durch die erste deutschsprachige Übersetzung eines zentralen Bezugstextes für Beyer, Viktor Schklowskis Beschreibung der Belagerung von Petersburg während des russischen Bürgerkriegs im Winter 1919/20, sowie ein Interview mit Marcel Beyer, in dem er auf die Besonderheiten seiner Schreibpraxis eingeht.
Marcel Beyer
MARCEL BEYER was born and raised in Cologne. The author of several novels and collections of poems, he has received numerous awards and was named one of the best young novelists in the world by the New Yorker. He lives in Dresden.
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Buchvorschau
Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha - Marcel Beyer
Die tonlosen Stimmen beim Anblick
der Toten auf den Straßen von Butscha
Erste Vorlesung, Mittwoch, 18. Mai 2022
I
Ich will nichts erfinden. Ich will berichten, was ich gesehen habe. Und das heißt, auch von dem zu erzählen, was ich nicht sehe. Ich bin dem Geschehen, das ich beschreibe, nicht ausgesetzt. Ich bin nicht Akteur, bin nicht Opfer. Ich nehme nicht einmal die Rolle eines unmittelbaren Beobachters ein, wie etwa ein Kriegsreporter, der damit sein Leben riskiert. Mein Leben ist nicht in Gefahr. Ich bin in Sicherheit.
Ich schreibe Anfang April, zu Frühlingsbeginn 2022. Wir erwarten die Rückkehr der Zugvögel.
Auf den Bildern, die ich seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine am Morgen des 24. Februar gesehen habe, ist mir etwas aufgefallen. Etwas, das es auf diesen Bildern nicht zu sehen gibt. Es fehlen die Krähen.
Ich sehe Felder, die bis an den Horizont reichen, sehe städtische Parks, sehe Grünanlagen in Hochhaussiedlungen, aber nirgendwo auch nur eine einzige Krähe. Auf dem Dach der Tankstelle könnten Krähen hocken. Dort beim Supermarktparkplatz. Krähen könnten zufällig durch das Bild fliegen, wenn die Smartphone-Kamera in den Himmel gerichtet wird. Aber nichts.
Seit dem 24. Februar habe ich vor allem Katzen gesehen und Hunde. Auch Schildkröten, Kaninchen. Einmal sogar ein Buschhörnchen. Exotische Vögel im Käfig. Haustiere allesamt, die von ihren Besitzern mitgenommen wurden auf die Flucht, oder Haustiere, die zurückgeblieben sind, weil ihre Besitzer nur einige Tage haben verreisen wollen, während die Nachbarn die Katze füttern, den Hund ausführen werden, doch dann gibt es keine Rückkehr, gibt es nur die überstürzte Weiterreise hinaus auf die Dörfer, wo der Krieg noch nicht angekommen ist, oder noch weiter in Richtung Westen, weiter ins Nachbarland, und wo sind nun die Nachbarn, ich weiß es nicht, sie sind so wenig zu sehen wie die Krähen, die im Frühjahr über dem Feld darauf warten, dass der Bauer mit der Aussaat beginnt.
Ich sehe Bäume am Feldrand, geborsten und schwarz. Geborstene, schwarze Bäume am Straßenrand. Sträucher, die keine mehr sind.
In einem Garten abseits der Stadt sehe ich Hausgänse, die vor einem zerstörten russischen Panzer umherlaufen.
Eine Handvoll Tauben, wie sie unter einer Staffel russischer Militärhubschrauber durchs Bild fliegen.
Zwei, drei Möwen im sonnigen Morgenhimmel über Mykolajiw, zufällig von der Überwachungskamera eingefangen, als eine russische Rakete im Gebäude der Gouverneursverwaltung einschlägt.
II
Es mag obszön klingen, auf die An- oder Abwesenheit von Krähen auf Fotografien und in Videosequenzen zu achten, wenn von Bildern aus einem Krieg die Rede ist, der jetzt, unmittelbar während ich diese Sätze schreibe, mit bestialischer Wucht gegen ein Land geführt wird, das zwei Flugstunden entfernt liegt. Oder, wie sich berechnen lässt, von meinem Wohnort Dresden aus mit dem Auto acht Stunden und 26 Minuten, sofern man die Strecke über Breslau, Kattowitz und Krakau wählt, um über die Entfernung von 851 Kilometern in die westukrainische Stadt Lwiw zu gelangen, oder neun Stunden und 59 Minuten für 1011 Kilometer, sofern man den Weg über Prag vorzieht.
Weit entfernt von meinem Schreibplatz, von Ihrem Schreibplatz liegt Lwiw nur im Kopf, lässt man sich zum Vergleich etwa die schnellste Route von Wuppertal nach Mailand berechnen: acht Stunden und 27 Minuten für 866 Kilometer, also sogar eine Minute und 15 Kilometer mehr als von Dresden nach Lwiw.
Lwiw, Kraków, Katowice, Wrocław, Praha, Lemberg, Krakau, Kattowitz, Breslau, Prag – alle diese Städte sagen mir etwas. Von Kattowitz abgesehen, woher meine Urgroßeltern stammten, habe ich alle diese Städte kennengelernt, habe sie besucht.
Es mag obszön klingen, von Tieren zu sprechen, die fehlen. Möglich, dass es so ist. Wir werden sehen. Ich will versuchen, die Obszönität zugleich zu vermeiden und sie zu thematisieren. Mir ist klar, ich betreibe Volksetymologie, wenn ich den Begriff »obszön« wortgeschichtlich nicht auf das lateinische ›obscenus‹ (schmutzig, schamlos) zurückführe, sondern ihn als eine Zusammenziehung auffasse: »obszön«, »auf offener Szene«, »vor aller Augen«, so wie Russland seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine vor aller Augen führt, vor den Augen der Welt.
III
In jener heute unendlich weit zurückliegenden Zeit, in jener mittlerweile zwei oder drei oder vier oder fünf oder sechs oder acht oder mehr Wochen zurückliegenden, ein für alle Mal abgeschlossenen Epoche, als man noch versuchen konnte, sich angesichts eines allgegenwärtigen, unentrinnbaren Grauens wenigstens geistig in Sicherheit zu bringen, wurde von Ukrainern immer wieder mit grimmigem, auch mit naiv befreiendem und albernem sowie, äußerst wirkungsvoll, drastisch obszönem Humor auf die imperialen Gelüste Russlands reagiert.
Eine Karikatur, die Wladimir Putin als Zentaur darstellt: der freie Oberkörper, wie ihn der russische Präsident in besseren Zeiten so gerne öffentlich zur Schau gestellt hat, montiert auf den Geschlechts-, Verzeihung: montiert auf den Gefechtsturm eines russischen Panzers, dessen Geschützrohr sich schlaff dem Boden entgegenneigt.
Auf einem Bild hält Wladimir Putin eine Nadel an einen Luftballon in den Nationalfarben der Ukraine. Auf dem nächsten Bild sieht man den Luftballon unversehrt, während der russische Präsident platzt wie ein Luftballon.
Die Collage einer Katze in ukrainischer Tracht, mit ebenjenem unversehrten Luftballon, nun in Herzform, in der Pfote.
Eine andere Katze, die auf die blau und gelb gefärbte Wand im Hintergrund den Schatten eines Löwen wirft. Man sollte dieses Haustier nicht unterschätzen. Zugleich setzt die Katze mit Löwenschatten aber auch eine Absage an die Raubtiermetaphorik ins Bild, derer sich kriegsliebende Staatsführer gerne bedienen. Staatsführer allesamt, die keinen Humor kennen, nur Schadenfreude.
Die Präsenz der Tiere in Zeiten der Bestialität.
Zwischendurch scheint es sogar, als breche erneut eine Ära der Bärenwitze an, wie man sie in der Sowjetunion kannte. Ein Cartoon zeigt den großen, sich allmächtig fühlenden russischen Bären, der allerdings nicht grimmig brummt, nicht markerschütternd brüllt, sondern winselt, weil seine Kronjuwelen, seine Hoden, seine Eier in einer Bärenfalle eingeklemmt sind, in den Nationalfarben der Ukraine bemalt.
Tierdarstellungen, um sich Mut zu machen. Um sich und anderen für einen Augenblick über das allgegenwärtige Grauen hinwegzuhelfen. Tierdarstellungen aber auch, um die russische Propaganda der Lächerlichkeit preiszugeben.
So rechtfertigte der Botschafter der Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen, Wassili Nebensja, am 11. März bei einer Dringlichkeitssitzung des Sicherheitsrates der UNO vor seinen versammelten Kolleginnen und Kollegen den russischen Einmarsch in die Ukraine mit einer Verschwörungsgeschichte, gleichermaßen haarsträubend und niederträchtig, gleichermaßen unverfroren und die Vernunft beleidigend. Demnach arbeite die Ukraine gemeinsam mit den USA insgeheim an einem Programm zur Entwicklung einer biologischen Waffe. Man sei damit befasst, ein gefährliches Virus zu züchten, genetisch in einer Weise manipuliert, dass sich an ihm ausschließlich Slawen mit einer tödlich verlaufenden Krankheit infizierten, gegen die es keine Therapie gebe und keinen Impfstoff.
Dieses Killervirus solle nicht nur von Vögeln, es solle auch von Fledermäusen und Reptilien verbreitet werden, und zwar während der Frühjahrs- oder der Herbstmigration dieser Zugvögel – und, wie man ergänzen muss: auch der Zugfledermäuse und Zugreptilien –, deren Route über das russische Staatsgebiet führt. Dort, so die geheimen Pläne der Ukraine und der USA nach den Worten des Botschafters der Russischen Föderation bei den Vereinten Nationen, würden die Vögel die russische Bevölkerung, offenbar nach seiner Überzeugung die einzige slawische Bevölkerung auf der Welt, heimtückisch dem Virus aussetzen, um auf heimtückische Weise Völkermord zu begehen.
Nachdem Russland der befremdeten Weltöffentlichkeit in anklagendem Ton seine sprachlos machende Killervögelverschwörungsgeschichte serviert hatte, mit bitterernstem Gesicht, ohne das leiseste Zucken im Mundwinkel, reagierten Menschen in der Ukraine darauf mit bitterem, schwarzem Humor. Jemand präsentierte eine kurze, woher auch immer und aus welcher Zeit auch immer stammende Filmaufnahme von einem Taubenschlag, der vermutlich anlässlich eines Brieftaubenwettbewerbs geöffnet wird, worauf sich nach und nach ein großer Schwarm Tauben in die Luft erhebt. Wenn Russland bekennt, sich nun schon vor gewöhnlichen ukrainischen Brieftauben zu fürchten, dann ist es um die Eier des russischen Bären tatsächlich nicht gut bestellt.
Ich sah das Smartphone-Video eines Mannes, der ein Huhn in den Händen hält und ihm zuflüstert, es solle sich einprägen, ab jetzt sei es kein gewöhnliches Huhn mehr, irgendwo auf dem Land Tag für Tag vor sich hin lebend, Eier legend, Futter pickend, im Boden scharrend, sondern ein gefährliches Killerhuhn. Ab sofort habe das Huhn eine Mission, die weit über alles hinausgehe, was ein Huhn üblicherweise vom Leben erwarten könne. Der Hühnerhalter flüstert – so wirken seine Sätze eindringlicher, und zugleich flüstert er, weil es darauf zu achten gilt, dass niemand Drittes von der bevorstehenden Geheimoperation erfährt. Außer weiteren Hühnern jedoch ist niemand in der Nähe.
Das Huhn betrachtet seinen Einflüsterer, scheint nicht ganz zu wissen, was es von dessen Ansprache halten soll, gackert ein wenig. Schließlich lässt der Besitzer es fliegen. Doch das Huhn verspürt offenbar gar nicht den Drang, sich in Richtung der russischen Grenze in Bewegung zu setzen. Es flattert auf, verschwindet für eine Sekunde aus dem Bildausschnitt, dann landet es wieder zu Füßen seines Besitzers. Dieses Huhn nimmt seine Mission anscheinend nicht sonderlich ernst, ihm ist anzusehen, es wird niemals nach Russland fliegen, um ein tödliches Virus auf die Menschen zu übertragen. Keinerlei Expansionsgelüste unter ukrainischen Hühnern beobachtbar.
Dass schwarzer Humor eine Waffe gegen den Ernst des Tötens darstellt – die Ukrainer haben es begriffen. Und selbst wenn dieser schwarze Humor das Töten nicht beenden kann, kann er doch helfen, sich für einen Moment lebendiger zu fühlen, während man Stunde um Stunde in Todesangst verbringt.
IV
Mag der innere Widerstand dagegen derzeit auch groß sein – gerade jetzt erweist es sich als aufschlussreich, wenn man den Abscheu überwindet und noch einmal die innere Bildergalerie abschreitet, in der – dicht an dicht, in Petersburger Hängung – die ikonographischen Fotografien der Putin-Ära versammelt sind.
Während seiner KGB-Zeit in Dresden Ende der achtziger Jahre sieht man Wladimir Putin als ganz gewöhnlichen Kaffee-Sachsen an einer Konditoreitheke stehen, sieht ihn als Beamtenmäuschen im schlecht sitzenden Anzug am Gasthaustisch hinter zwei bauchigen Flaschen Radeberger Pils und einem Dekostrauß Nelken, wie man sie nach der hierzulande verbreiteten Blumensymbolik einem Toten aufs Grab stellt. Später sieht man Wladimir Putin, den Besucher mit Machtfülle, auf der Brühlschen Terrasse stehen, der wie ein Tourist in der eigenen Stadt den Blick über die Elbe schweifen lässt.
Mit seiner auf Ewigkeit angelegten Präsidentschaft dann verwandelt sich Putins persönliche Eremitage nach und nach in eine Menagerie, zu der niemand außer dem Präsidenten selbst Zutritt hat.
Wladimir Putin, der Kraftvolle, wie er mit freiem Oberkörper und Sonnenbrille auf einem wuchtigen Rappen in der malerischen Berglandschaft von Tuwa umherreitet.
Wladimir Putin, der Geduldige, wie er als Angler still sitzt und abwartet, bis ein mächtiger Fisch angebissen hat, den er blitzschnell aus dem Wasser ziehen und an der Luft ersticken lassen wird.
Wladimir Putin, der versierte Jäger und fürsorgliche Veterinär in einer Person, wie er sich über einen am Boden liegenden Tiger beugt. Ob dieses Raubtier zahm ist und für