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Spuren: Drei Erzählungen
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eBook143 Seiten1 Stunde

Spuren: Drei Erzählungen

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Über dieses E-Book

Herings drei Erzählungen aus den Jahren der deutschen Besatzung Polens galten anderen polnischen Schriftstellern als besonders und bedeutend in ihrer Darstellung der Alltäglichkeit der Vernichtung. In der Erzählung über das "Schlupfloch" in der Ghettomauer, das als Schmuggelweg diente, schreibt Hering: "Das Ghetto lebte von
Warschau – und Warschau lebte vom Ghetto. Jeder zog seinen Nutzen daraus, jene reinen Seelen ausgenommen, die ihren Nutzen zogen, ohne es wahrhaben zu wollen."
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Okt. 2016
ISBN9783940524577
Spuren: Drei Erzählungen

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    Buchvorschau

    Spuren - Ludwik Hering

    Ludwik Hering

    SPUREN

    Mit einem Nachwort von

    Ludmiła Murawska-Péju

    Aus dem Polnischen und

    mit Anmerkungen versehen von

    Lothar Quinkenstein

    edition.fotoTAPETA

    Berlin

    INHALT

    Tadeusz Sobolewski

    EIN UNBEKANNTER

    SPUREN

    DAS SCHLUPFLOCH

    ZIELENIAK

    Ludmiła Murawska-Péju

    NACHWORT

    EIN UNBEKANNTER

    Ludwik Hering (1908 – 1984) ist immer noch ein Unbekannter. Er selbst hatte die Entscheidung getroffen, in den Schatten zu treten. Ausgestattet mit einem großen Talent für die Literatur wie für die Malerei, für die Bildhauerei wie fürs Theater, aber ebenso mit einem überaus kritischen Geist, fand Hering Erfüllung in der Rolle des „Geburtshelfers" für fremde Begabungen.

    Józef Czapski schrieb über ihn: „Ich möchte nicht so kühn sein, ihn meinen Schüler zu nennen, denn ich selbst verdankte ihm seinerzeit meine eigenen Vorstellungen von der Malerei. Die Malerin Ludmiła Murawska, die Nichte Ludwik Herings, sieht sich als Künstlerin durch ihn geformt und „erschaffen. Und selbstverständlich Miron Białoszewski! Hering war sein literarischer Guru. Der dem 18jährigen Miron den Unterschied zwischen wahrer Poesie und „falscher Aufgeblasenheit vor Augen führte. Später war Hering Regisseur, Autor, Kostüm- und Bühnenbildner für das „Eigene Theater, das Murawska und Białoszewski in der Wohnung am Warschauer Dąbrowski-Platz einrichteten.

    Ich hatte das Glück, ihn kennen lernen zu dürfen. Seine Monologe – ein Theater der Gesten, dem zu folgen einiges an Mühe kostete. So viel hatte Hering zu sagen, und so vieles beließ er in Andeutungen, um die Worte nicht über Gebühr zu strapazieren oder abzunutzen. Darin drückte sich seine kluge Demut gegenüber der Wirklichkeit aus, sein scharfes Bewusstsein für die Kunst, der Geistesblitz seines Genies.

    Seine drei Erzählungen über die Jahre der deutschen Besatzung Polens galten Gustaw Herling-Grudziński als besonders bedeutsam in ihrer Darstellung der Alltäglichkeit der Vernichtung. In der Erzählung über das „Schlupfloch in der Ghettomauer, das als Schmuggelweg diente, schreibt Hering: „Das Ghetto lebte von Warschau – und Warschau lebte vom Ghetto. Jeder zog seinen Nutzen daraus, außer jenen reinen Seelen, die ihren Nutzen zogen, ohne es wissen zu wollen. Die schockierenden Schilderungen menschlicher Verhaltensweisen sind unmittelbar der Realität entnommen. Hering arbeitete als Nachtwächter in einer Fabrik, die direkt an der Ghettomauer lag.¹ Er selbst sprach nicht darüber, aber es ist bekannt, dass er Menschen aus dem Ghetto auf die „arische Seite schmuggelte. Und er gab – wie in der Erzählung „Spuren beschrieben – jüdischen Kindern in seiner Nachtwächterstube zu essen, half diesen elend verlorenen „Katzen (wie sie im Jargon der Straße genannt wurden), die sich ins„arische Warschau stahlen, um Lebensmittel zu ergattern. Während des Warschauer Aufstands 1944 brachte Hering seine Familie durch die Hölle des Sammellagers „Zieleniak".

    Bislang wurde Hering immer im Zusammenhang mit anderen Schriftstellern und Künstlern erwähnt – doch hat nicht vor allem er selbst den Titel des „Eigenen Künstlers verdient? Dass seine Persönlichkeit nun mit der erstmals in Buchform publizierten Prosa aus dem Schatten tritt, ist den Bemühungen Ludmiła Murawskas zu verdanken. Erwähnen sollte man auch, dass Miron Białoszewski seinen Meister im „Geheimen Tagebuch porträtiert hat, das 2012 publiziert wurde.² Erhellend dürfte weiterhin die Korrespondenz sein, die Ludwik Hering und Józef Czapski in den ersten Nachkriegsjahren führten. Dieser Briefwechsel wartet noch auf seine Edition.³

    Tadeusz Sobolewski (2011)

    SPUREN

    Sie kommen heraus, wenn es noch dunkel ist, im Schutz der Nacht, wenn an der Mauer Schmuggelwege offen stehen. Sie winden sich durch Löcher und Spalten, schlüpfen durch Ritzen zwischen Mauer und Rinnstein, von denen man nicht glauben wollte, dass eine Katze hindurchgelangen kann. Oder Erwachsene setzen sie auf die Mauer, und dann fallen sie, wie Katzen, auf diese Seite.

    So rief man ihnen in der Stadt auch hinterher: „Eine Katze! … Eine Katze!" Was nichts anderes hieß als Jude [im Original deutsch]. Bündel aus Dreck und Angst. Der in der Dämmerung verborgene Sinn eines jeden heraufziehenden Tags: bettelnde, gehetzte Kinder.

    Bis zum ersten Zwielicht kauern sie wachsam auf der Straße, aus der Ghetto- und Friedhofsmauer alles Leben gesogen haben, um sich in die Geschäftigkeit der frühen Morgenstunden zu mischen, unter die Arbeiter, mit denen sie in Stadtviertel gelangen, die weiter entfernt vom Ghetto liegen.

    Nur weg von der Mauer, so weit wie möglich – dann wird auch der eifrigste Polizist sie nicht mehr zurückbringen. Wozu sollte er den langen Weg bis zum Ghetto-Gefängnis in der Gęsia-Straße auf sich nehmen und wertvolle Zeit verlieren, die so reich ist an einträglicheren Gelegenheiten – in Gestalt eines erwachsenen Juden zum Beispiel?

    Die ganze entsetzliche Psychologie, untrüglich zu lesen in den Augen eines wehrlosen Kindes: Haken schlagen, stehenbleiben, fliehen.

    Diese Augen in den ausgemergelten kleinen Gesichtern – aufmerksam, stets auf der Hut –, wie oft haben diese Augen sie beschützt, und wie oft auch waren sie verräterisch.

    Von arischen Altersgenossen gestellt, an eine Hauswand geschmiegt, wird das Kind sich nicht wehren, nicht beißen, nicht treten. Schweigend steht es im Gejohle der Verhöhnungen, sein Blick versucht, über die Köpfe der Peiniger hinweg zu entkommen, denn es gilt zu prüfen, ob nicht eine andere Gefahr sich nähert: eine Uniform.

    Es wartet, bis die Angreifer gelangweilt sind von seiner Unlust zu raufen, und der Ring sich löst. Dann setzt es seinen Weg fort, mühsam seine Füße schleppend, die in zerschlissenen Bastschuhen und Lumpen stecken – spindeldürre Schienbeine, und die Knie, übergroß und knotig, knicken ein bei jedem Schritt.

    Sie laufen durch hundert Straßen, laufen hundert Etagen ab. Klopfen an jede Tür. Oder sie sitzen entkräftet da, in halb ohnmächtiger Gleichgültigkeit, ohne auf irgendetwas noch zu achten, in Hofeinfahrten und Ladeneingängen.

    Wenn sie abends zurückkehren, wimmern sie vor Erschöpfung. Ihre Blechgeschirre klappern, und sorgsam halten sie die Säume ihrer Mäntel fest, in denen sie zwischen Futter und Oberstoff die unter Tags erbettelten Nahrungsmittel tragen.

    Hinter die Mauer kehren auch die Kinder zurück, die niemanden mehr haben, zu dem sie zurückkehren können. Im Sommer – wenn es warm ist – schlafen einige von ihnen in den Schuppen bei den Lehmgruben, in Ruinen oder einfach unter freiem Himmel, auf den Feldern der Vorstadt.

    Vielleicht, dass sie deshalb, weil sie immer wieder zurückkehrten, weitgehend unbehelligt blieben.

    Im Winter kehren sie der Wärme wegen zurück. Längst schon sind im Ghetto in allen Hausfluren die Dielenbretter herausgerissen und verheizt worden, alle Fensterrahmen in den Treppenhäusern, die Treppengeländer und oft auch die Treppen selbst. Und jeder noch so kleine Winkel im Ghetto, jede Kammer, jeder Kellerraum, ist mit Menschen vollgestopft. Sie drängen sich zusammen, wärmen sich gegenseitig. Morgens kriechen die Stärkeren unter den Halbtoten und Toten hervor, um auf der anderen Seite der Mauer noch einen weiteren Tag zu überstehen. Oft ist es ein einzelner nur, der noch die Kraft hat, ein einzelner, der versucht, eine Familie zu ernähren.

    Gegen Abend schleppen sie sich die Straßen entlang, aus allen Richtungen, allen Vierteln der Stadt – hinkend, mit ungelenken Bewegungen, wie verletzte Vögel, die zur Nacht in ihre Nester stelzen.

    In großen Scharen sammeln sie sich an den Toren, die in den ummauerten Bezirk führen. Stunde um Stunde harren sie aus im Frost, in der Hitze, im Regen, warten auf das launische Nicken der gleichgültigen Posten, die wie steinerne Götzen-bilder dastehen.

    Manchmal, erschöpft vom Warten, bäumen sie sich auf, verbünden sich zum Angriff. Stürzen sich auf den Konvoi, um ihn zu unterbrechen.

    Drängeln sich hinein – werden „aufsässig, „aufdringlich, „unverschämt".

    Ein Anlauf, sie werden weggestoßen. Versuchen es wieder, werden erneut zurückgedrängt, und heiser klingt ihr Keuchen vor Erschöpfung. Und während sie die Gassenjungen abzuwehren versuchen, die ihren boshaften Spaß dabei haben, halten sie, als wären es die Früchte eines gelobten Landes, ihre Mantelschöße fest, in denen sie das erbettelte Brot und die erbettelten Kartoffeln tragen.

    Oft auch kam es vor, dass sie auf Befehl eines Gendarmen all die mühsam ergatterte Ausbeute eines ganzen Tages auf einen Haufen werfen mussten, um mit leeren Händen ins Ghetto zu gehen, unter Knüppelhieben und Kolbenschlägen.

    Er ist vielleicht sechs Jahre alt. Sitzt auf dem Schemel, hält mit seinen blau angelaufenen Kinderhänden den dampfenden Becher fest. Wie eine Mumie sieht er aus, in ein zerschlissenes Schultertuch gewickelt, das auf dem Rücken sorgsam verknotet ist. Er legt den zu schweren Kopf in den Nacken, den Kopf eines jungen Pharaos auf dünnem Hals, den Kopf mit den großen, abstehenden Ohren. Die langen, leicht geschwollenen Lider sinken über die Augen, die für den Moment nicht mehr wachsam sein müssen. Zwei zarte Linien, die von der Nase zu den Mundwinkeln laufen, zeichnen das wie durchsichtig wirkende Gesicht, verleihen ihm den wissenden Ausdruck reifen Leidens.

    Entschlossen erklärt er:

    Ich will nicht schwindeln. Ich bin schon acht.

    Vor dem Krieg hat Mama noch ein Kind bekommen. Papa war Friseur – und wie das so ist bei der Arbeit … Einmal hat es hier was gegessen, einmal da, nicht immer koscher. Und dann ist es uns weggestorben.

    Warum soll ich sagen, dass ich sechs bin, wenn ich acht bin? Damit der Herrgott böse auf mich wird und mich bestraft?

    Er spricht mit schwacher, singender Stimme, zieht die Wörter am Ende der Sätze in die Länge. Keine Spur von Zweifel ist in dem, was er sagt. Und mag er auch aufbegehren gegen diese Wirklichkeit – Verwunderung äußert er nicht.

    Sachlich erklärt er:

    Das Wichtigste ist, dass die Beine nicht schwellen, denn dann ist es vorbei. Und damit die Beine nicht schwellen, muss man wenigstens einmal am Tag etwas essen. Nur wie soll man etwas bekommen, wenn wir schon alles verkauft haben, was wir hatten?

    Als wir nur noch das Bett hatten und das Plumeau, hat Mama nicht mehr aufgehört zu weinen und dauernd meine Beine aufgedeckt, um nachzuschauen, ob sie nicht geschwollen sind.

    Aber es hilft ja nichts, wenn man weint.

    Dort bekommt man von niemandem etwas. Hier sind die Leute nicht so gierig. Dort

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