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Sieben: Das Buch der polnischen Dämonen
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eBook274 Seiten3 Stunden

Sieben: Das Buch der polnischen Dämonen

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Über dieses E-Book

Paweł, Journalist bei einem auf Fake News spezialisierten Internetportal, fährt mit einem alten Vectra auf der berühmten Landesstraße Nr. 7 von Krakau in Richtung Warschau. An Allerheiligen, dem polnischsten aller Tage, geht es auf der "Königin der polnischen Straßen" mächtig verkatert und mit Vollgas hinein ins Herz der Finsternis. Unterwegs trifft Paweł auf zwielichtige Gestalten und Orte, auf Nationalismus, Chauvinismus und Größenwahn – jene Dämonen, die nicht nur in Polen ihr Unwesen treiben ... Ergänzend zur Lektüre hat Übersetzer Thomas Weiler Anekdotisches und Amüsantes zum Buch hier versammelt.

"Sieben" wurde kofinanziert durch das Programm Kreatives Europa der Europäischen Union.
SpracheDeutsch
HerausgeberVoland & Quist
Erscheinungsdatum7. Okt. 2019
ISBN9783863912604
Sieben: Das Buch der polnischen Dämonen

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    Buchvorschau

    Sieben - Ziemowit Szczerek

    1. Asmodäus

    Da sitzt du also in deinem Vectra, Paweł, sitzt und fährst durch das verkaterte, kaputte Krakau, du selber genauso verkatert und kaputt, fährst aus Krakau hinaus, fährst nach Warschau und steckst im Stau Richtung Landesstraße Nr. 7, der Sieben, der Königin unter Polens Straßen, morgen früh hast du in Warschau ein wichtiges Treffen, also musst du da hin, nichts zu machen.

    Schon kommst du am Rakowicer Friedhof vorbei, ach, du liebst den Rakowicer Friedhof, diese Quintessenz Krakaus, auf jedem Grabstein, vor jedem Namen ein Titel: hier ein Magister, dort ein Ratsherr, hier ein Doktor, dort ein Advokat, und wenn es so gar nichts gab, dann haben sie ein »Bürger der Stadt Krakau« eingraviert, und alles war gut. Du ziehst die Nase hoch und riechst Stearin, siehst den Schein der Grablichter über dem Friedhof und atmest genüsslich ein, Paweł, denn du magst den Geruch von Stearin über dem Friedhof, magst Allerheiligen insgesamt, und heute ist Allerheiligen.

    Geister und verblichene Ahnen kriechen aus ihren Höhlen, kommen aus ihren Sphären und nehmen Polen für ein halbes Jahr in Besitz.

    Uuuuu-huuuu.

    Dir ganz persönlich, Paweł, gefällt diese Dunkelheit und dieses geisterhafte Schlammgeschmatze, die Zeit, in der die zerlumpten slawischen Gottheiten und die verlotterten slawischen Dämonen der Erde am nächsten sind, während Polen, dein Heimatland, außerstande ist, das dunkle Geschmatze in den Griff zu bekommen, das wirst du zugeben. »Das Assipack schmatzt sich durchs Dauerdunkel«, um mit einem Quasi-Klassiker zu sprechen. Polen hat sich ja selbst noch nie in den Griff bekommen. Noch nie, denkst du dir, hat es sich selbst eine Form geben können, ein Erscheinungsbild.

    Und deshalb magst du das polnische Allerheiligen, Paweł, weil es sich als eine der wenigen Errungenschaften der polnischen Kultur ästhetisch wunderbar einfügt in die halbjährige Zeit der Dunkelheit, die eben in Polen wieder anbricht. Weil es der schönste polnische Feiertag ist.

    Inzwischen hast du das Fenster geöffnet, um mehr von diesem Stearinduft einzuatmen, und im Radio laufen die Nachrichten. Der Sprecher meldet erregt, Russland ziehe seine Truppen an der polnischen Grenze zusammen, im Kaliningrader Gebiet, und du betrachtest dein Bild im Spiegel, siehst deine verkaterten Augen, denn wenn heute Allerheiligen ist, war gestern Halloween, und ganz Krakau – in dem du wohnst, weil du dich hier vor Polen versteckst, denn Krakau ist einer der wenigen Orte in Polen, an denen man sich vor Polen verstecken kann – hat sich die Kante gegeben. Ist ja auch ein Anlass: Halloween. Kürbisse, Horrorschocker im Fernsehen, in jeder Kneipe läuft Soul Dracula, in den Theatern die Dziady in immer neuen Inszenierungen. Aber hauptsächlich wird gesoffen. Nicht, dass Krakau einen besonderen Anlass bräuchte, sich die Kante zu geben, aber gut.

    Du sitzt also am Steuer, trommelst mit den Fingern aufs Lenkrad, trommel-trommel, dein Vectra steht im Stau, und du rufst dir ins Gedächtnis, was denn da gestern so los war, wegen dieses ganzen Halloween, denn du warst auch mit deinen Kollegen unterwegs, den Leuten vom Online-Informationsportal Światpol.pl, wo du als Redakteur arbeitest, die Startseite redigierst und dir klickfähige Titel einfallen lässt. Damit der unique user klickt, dass es reinhaut. Alles für die Klickung (lat. clicalitas). Wenn es zum Beispiel polnisch-deutsche NATO-Manöver bei Stettin gibt und die Soldaten eine Flussüberquerung trainieren, titelt ihr in der Redaktion: Deutsche Armee überschreitet auf Pontonbrücken die Oder. Eins a. Haut rein. Oder wenn es heißt, ein gänzlich unbekannter Abgeordneter irgendeiner Splitterpartei hätte im Suff vor dem Mickiewicz-Denkmal sein Wasser abgeschlagen, bringt ihr händereibend ein Prominenter Politiker pinkelt auf großen Polen. Und wie das reinhaut! Klicks ohne Ende! Die Clicalitas explodiert! Übrigens, wenn in irgendeiner Schlagzeile die Fügung »prominenter Politiker«, »berühmter Schauspieler« oder »bekannter Musiker« vorkommt, dann kennt diesen Politiker, Musiker oder Schauspieler kein Schwein, weil wenn er wirklich so bekannt wäre, würde er im Aufmacher mit Namen erscheinen, mit vollem Namen. Grzegorz, sagen wir mal, Schetyna, wird dabei gefilmt, wie er beim Abendessen im Élysée-Palast ein kostbares Tafelservice in seiner Tasche verschwinden lässt, Jarosław, zum Beispiel, Kaczyński, springt im Suff in der Ulica Nowowiejska in Warschau wie ein Berggorilla von einem Autodach zum nächsten. So was. Oder, sagen wir, in Tschechien ist Nationalfeiertag und Militärparade, und jetzt, hopp, mach daraus den Eyecatcher. Tschechien: Militärparade am Nationalfeiertag? Um Gottes willen, da kriegst du vielleicht zwei Klicks für, zwei lumpige Klicks, aber du so, zack: Bewaffnete Soldaten in den Straßen von Praga. Das haut so was von rein, geht ab durch die Decke. Und der Witz ist auch, dass keiner kapiert, ob es um Tschechien oder um das Warschauer Praga geht, oder wenn in der Slowakei die Regierung stürzt, dann schreibst du nicht, dass in der Slowakei die Regierung gestürzt ist, sondern du schreibst Nachbarland Polens am Abgrund, weil wenn du schreibst, dass dieses Nachbarland Polens die Slowakei ist, dann interessiert sich kein toter Hund dafür, weil das, was in der Slowakei passiert, nur Studenten der Slowakistik und ein paar Tschechophile interessiert, die ihre Tschechophilie slowakisch erweitert haben. Aber so: »Nachbarland Polens«, da fragt sich der unique user doch gleich: etwa Deutschland? – na bitte, hat er endlich ausgeschissen, der Szkop, so ein schönes Land, he, he, sauber asphaltiert, hübsch angemalt, schade drum … Oder etwa Russland?, denkt der unique user – na also, ist es aus mit dem Kazap, tja, wer andern Gruben gräbt … Oder etwa Tschechien?, grübelt der User weiter – auch nicht übel, die eingebildeten Pepíčeks, gebt uns das Teschener Schlesien zurück, statt in der Hospoda zu sitzen und Bier mit zwei Fingerbreit Schaum zu trinken.

    Jaja, das ist diffizile Feinarbeit, dieses Schlagzeilendrechseln.

    Am besten gehen natürlich Apokalypse, Holocaust, Weltuntergang mit Schwerpunkt Polen, ja, der Untergang Polens ist ein Clicalitas-Paradies, klar, alle Asteroiden hauen rein, wenn sie auf Polen zurasen, alle Epidemien, Godzillas, Marsattacken, Viren, Putins – haut alles rein.

    Putin haut rein, aber wie, vor allem in letzter Zeit. Da muss man nicht mal den Titel besonders anspitzen. Na ja, ein bisschen Spitze ist immer gut.

    Russland droht Polen: Tretet den Korridor ab, sonst …

    Gefährliche Russische Raketen an der polnischen Grenze

    Putin wettert: Polen soll sich zurückhalten, sonst …

    Überraschende Manöver der Russen direkt an der polnischen Grenze

    Schockierende Nachricht der NATO-Dienste: Russland nimmt Polen ins Visier …

    Das waren so die Titel der vergangenen Tage.

    Na ja, und gestern Abend dann Halloween.

    Freaks mit geschminkten Totenschädeln hirschten durch die Stadt, verkleidet als Vampire, als irgendwie dämonische Hexen, und die Gothics und Emos konnten endlich in voller Montur vor die Tür gehen, ohne sich zu kompletten Idioten zu machen. Jede Menge Blackmetaller mit Evil-Make-up auf ihren Schwarz-Weiß-Gesichtern waren unterwegs. Auch jede Menge Normalometaller: Matte, Kutte, Patch. Zum Beispiel vor dem Asmodeusz in der Starowiślna, standen im Kreis und ließen die Matten wirbeln wie Windmühlenflügel, und auf dem Boden, mittendrin, lag ein kleiner MP3-Player mit eingebautem Lautsprecher und brüllte wie ein Bär.

    »Wor-sou sitti ät wor«, brüllte er.

    »Woises fromm andergrand«, brüllten die Metaller. »Vispers of friedem!«

    »Nein-tien-forti-for…«

    »Hełp det näver käm!«

    Dann vereinigten sie sich zu einem hysterischen, fast am Falsett kratzenden Schrei:

    »Warszawo, waaaalcz!«

    Sie trugen Nietenarmbänder. Iron-Maiden- und Sepultura-Aufnäher wechselten mit Aufnähern der Untergrundkämpfer und der Kotwica ab.

    Mehrere Abarten der Addams Family waren unterwegs, und an der Ecke Planty/Szewska stand ein Verrückter mit Kreuz und Fiat-Multipla-Gesicht – soll vorkommen –, er trug einen durchgestrichenen, gekreuzigten Halloweenkürbis und brüllte, wir sollten nicht Kürbisse und die amerikanische Kultur anbeten, der Kürbis sei des Teufels, Harry Potter sei auch des Teufels, aber der Kürbis noch mehr, und wir sollten unverzüglich davon ablassen, weil wir die eigenen Traditionen kultivieren müssten, anstatt fremde zu kopieren. Auf der Szewska hatte sich ein Typ als Werwolf verkleidet: mit Wolfsmaske über der oberen Gesichtshälfte, den Pelzmantel offenbar von Oma, als Schwanz hinten einen Fuchskragen angebunden (inklusive Kopf, Pfoten und so weiter). An den Füßen trug er Puschen im Hundepfoten-Look. Er war ziemlich dicht. Der Typ ging auf den Verrückten mit dem Kreuz zu, sah ihm ins Gesicht und sagte:

    »Du hast eine Fresse wie ein Fiat Multipla.«

    »Und du einen Schwanz wie ein Daewoo Tico«, konterte der Verrückte. »Mach doch woanders einen auf Werwolf.«

    Der Werwolf war eingeschnappt, hickste und ging seiner Wege.

    Du warst also mit zwei, na ja, Arbeitskollegen in der Stadt unterwegs. Der eine, Radosław, ging als Marschall-Piłsudski-Zombie, mit Schirmmütze, langem Klebeschnurrbart und Gammelfleischbatzen im Gesicht, die es im Empik in der Abteilung Geschenkartikel gibt, der andere, Spitzname Rumburak, war irgendwie komisch verkleidet: auch mit Schnurrbart, aber einem anderen als Radosław, kürzer, Typ Bürste, dazu trug er einen grauen Pullover, Cordjackett und eine Hose mit hochgekrempelten Beinen.

    »Als was gehst du?«, fragtet ihr Rumburak.

    »Wie jetzt?«, erwiderte er und hielt euch die Hosenbeine vor die Nase. »Das erkennt ihr nicht?«

    »Nein«, sagtet ihr, »du siehst aus wie ein Busfahrer, dem der Keller vollgelaufen ist.«

    »Busfahrer!« Rumburak war beleidigt. »Ich bin verkleidet als Václav Havel, Vášek Havel, mit dem ich mal in Hradčany eine geraucht hab, der ist nämlich ganz normal geblieben und manchmal nach Hradčany raus, eine rauchen, ganz normal, und ich bin auch grad da gewesen, und da haben wir zusammen eine geschmökert, ich bin doch tschechophil, wisst ihr doch, dass ich tschechophil bin, da hättet ihr auch draufkommen können.«

    »Aber wieso«, musstest du nachfragen, »ausgerechnet Václav Havel? Was ist denn daran Halloween?«

    »Na«, meinte Rumburak, »Vášek Havel ist tot, das ist mein persönlicher Tribut, versteht ihr? Was denn, sich als Toter verkleiden soll nicht Halloween sein? Du«, dabei nahm er dich mit seinem Zeigefinger anklagend aufs Korn, »du kannst ganz still sein, hast dich hier konformistisch gar nicht verkleidet und denkst jetzt, du könntest Leute blöd anmachen, die eine Wahl getroffen haben, verstehst du, EINE WAHL GETROFFEN!«

    »Genau«, sprang ihm Radosław-Zombie-Piłsudski bei, obwohl er selber Vášek Havel blöd angemacht hatte. »Scheiß unkostümierter Konformist.«

    Zuerst gingt ihr in den Pies, was eine Schnapsidee war. In den Pies kannst du erst gehen, wenn du schon gut dabei bist, jedenfalls nicht nüchtern, nüchtern ist es da nämlich nicht auszuhalten. Ein Besoffener im Jakub-Szela-Kostüm verlangte nach Aquavit, ein anderer hing als Stadtpräsident Majchrowski besoffen am Tresen und wollte in der »Pchäsidentenkchypta im Silberglockenturm« beerdigt werden. Ein anderer hing am Telefon und erzählte, er sei im magischen Kazimierz und es sei so magisch und besonders hier, dass er nach den nächsten zwei, drei Gläsern abdrehen und sich auf die Suche nach den Schatten und dem verklingenden Nachhall der einstigen Bewohner dieses Stadtteils machen werde. Ihr musstet euch also ranhalten und kipptet euch an der Bar einen, zwei, drei, vier Kurze hinter die Binde. Der Barmann war schon voll und empfahl eine neue Version des Wilden Hundes, die er, wie er behauptete, eben erst erfunden hatte, »für Hardcoreler«, wie er es ausdrückte. Scheinbar nichts Besonderes, der Klassiker, unten Himbeersirup, also Rot, oben Weiß, aber kein Wodka, sondern reiner Spiritus mit einem Tropfen Tabasco für den Geschmack. Das könnte man anzünden, meinte er, wie die Drinks in Asche und Diamant, weil Spiritus brennt, im Gegensatz zu Wodka. Er stellte die Kurzen nebeneinander auf den Tresen und zückte ein Feuerzeug.

    »Zum Gedenken an …«, er sah zu Radosław, »aha, Józef Piłsudski.« Der erste Drink brannte. »An«, er sah sich um, erblickte Rumburak, »aha, an Václav Havel.« Die zweite Flamme.

    »Seht ihr, der hat gleich erkannt, dass ich Vášek Havel bin, mit dem ich mal in Hradčany eine geraucht hab«, sagte Rumburak zu euch.

    »Das hab ich«, erwiderte der betrunkene Barmann, »weil ich tschechophil bin. Ich hab sämtliche Zelenka-Filme zu Hause und die gesammelten Dramen von Vášek Havel und als Klingelton auf meinem Handy ein Lied aus Limonaden-Joe. Sou far tu ju ai mäi. Deshalb arbeite ich auch in der Kneipe, die Kneipe ist nämlich das Allerheiligste für einen echten Tschechophilen, Wohlsein!« Er hob ein Glas, wollte es ungelöscht austrinken, verbrannte sich dabei Bart und Unterhemd, brüllte los, dass sich die halbe Bar auf ihn stürzte und ihn zu löschen versuchte, wobei die restlichen brennenden Drinks auf dem Tresen verschüttet wurden.

    Als ihr kurz darauf angekokelt mit einer Beruhigungszigarette draußen vor dem Pies standet, entdeckte der tschechophile Rumburak noch mehr Tschechophilen-Kumpels, und schon ging die tschechophile Begrüßerei los mit »ahoj«, »jak se máte«, »moc dobře«, »díky«, und anschließend das obligatorische Gemecker darüber, dass man hier nirgends ein Bier trinken kann, weil es in der ganzen Stadt keine richtige, anständige, egalitäre, tschechische Hospoda gibt, in der Professor und Wachmann gemeinsam am Tisch sitzen, und dass sie sich deshalb mit diesen nervigen Marcins und Januszs das Lokal teilen mussten, woraufhin die ganzen Tschechophilen inklusive Rumburak wieder in den Pies gingen, sich jeder ein Bier von einer kleinen lokalen Brauerei kauften, nach traditioneller Rezeptur gebraut, sich aber vor allem mit Kartoffelschnaps abfüllten, den sie soffen, bis sie unterm Tisch lagen.

    Du bliebst allein zurück mit Józef Piłsudski und seinen angesengten Schnurrhaaren, und ihr saht euch, eine Kippe im Mund, die Show vor dem Piękny Pies an und redetet aus Langeweile irgendwann über Russland, denn wenn es nichts zu reden gibt, kann man immer gut über Russland reden.

    »In Russland ändert sich nichts und wird sich auch nie was ändern«, behauptete der Untote Piłsudski, der Russistik an der Jagiellonen-Uni studiert hatte. Schon der Marquis de Custine hat geschrieben, wie es ist, und so ist es immer noch.«

    »Das Russische ist die irdische Verkörperung des Satans«, sagte der Typ im Werwolfkostüm, der jetzt hier rumlungerte, Krakau ist eben ein Dorf, und früher oder später landen alle in derselben Gosse, »weil es alle Hauptsünden verkörpert.« Schon klappte er den Daumen aus. »Hochmut – sind die Russen etwa nicht hochmütig, sind sie nicht dreist, der Putas und sein Lawrow-Fuckoff, dann kommen Geiz und Habgier, ja, sind sie etwa nicht geizig und habgierig, schnappen sie nicht jedem weg, was sie sich schnappen wollen? Mal den Georgiern, dann den Ukrainern, dann den Balten, die kriegen ihren eigenen Mist nicht auf die Reihe, dann greifen sie halt woanders zu und lassen nicht mehr locker! So gierig sind die! Die Tschetschenen wollten ihr eigenes Ding machen, das kleine Tschetschenien, aber von wegen, Scheiße war’s, die haben sie abgeschlachtet und sie nicht gelassen. Als Nächstes: Unmoral. Kann mir doch keiner erzählen, die Russen hätten Moral, Korruption, dass es kracht, Pussy Riot im Knast, dann weiter: Zorn, ja, Himmelarsch, das hört man ja sofort, wie die reden mit ihrem ›suka‹, ›bljaaa‹, da fällst du bald in Ohnmacht, wenn du das hörst …«

    »… oder wenn sie ›pidaras‹ sagen, furchtbar«, pflichtete Piłsudski ihm eifrig nickend bei und ließ betrübt seine Schnurrhaare hängen. »Stimmt schon.«

    »… dann die Unmäßigkeit, ja, Heilandsack, habt ihr mal diese Oligarchen gesehen, diese Villen von denen, wie die in Champagner baden, und am Wochenende fahren sie zum Spaß mit dem Panzer Bären schießen, und der Durchschnittsrusse schmatzt sich durch die Scheiße mit einer Plastiktüte gegen den Regen auf dem Kopf. Dann der Neid, brauch ich euch ja nicht zu erzählen, das mit dem Neid … und Dings hier, die letzte, Trägheit des Herzens …«

    »Tja«, Piłsudski kratzte sich am Kopf, »mit dem Geistigen, das ist bei ihnen so … na ja.«

    »Aber die letzte Sünde kann man auch schlicht als Faulheit interpretieren«, sagte der Werwolf, »und jetzt guck dir mal den Saustall bei denen an, nichts wird angepackt, kein Mensch will …«

    Vor dem Pies waren inzwischen die Balkanophilen aufgelaufen, sie riefen »Eppa«, sangen Lieder, zogen statt der Vokale die Konsonanten in die Länge, schimpften, man könne in diesem spaßfeindlichen Land nirgends ordentlich die Nächte durchfeiern, so richtig ausgelassen, mit Wein und Gesang, immer nur das finster-schwere Wodkagesaufe, und danach gibt es auf die Fresse. Dann gingen sie ins Pies, füllten sich innerhalb kürzester Zeit mit Wodka ab und prügelten sich mit den Tschechophilen.

    Du warst auf dem Heimweg, in Richtung Ulica Dietla, als dir aus unerfindlichen Gründen, wie aus heiterem Himmel, dein Freund aus Kindertagen in den Sinn kam, Belphegor, so hattest du ihn genannt. Nein, Belphegor war keine reine Fantasiegestalt, er hatte einen Körper, den Körper einer ausgestopften Puppe, die schon immer da gewesen war, du wusstest gar nicht mehr genau, woher sie eigentlich gekommen war. Ihr Name, Belphegor, war von Beginn an untrennbar mit ihr verbunden. Belphegor war komplett schwarz und trug eine Ledermaske. Sie war so befestigt, dass man sie unmöglich abnehmen konnte, ohne die Puppe kaputt zu machen.

    Aber Belphegor war mehr als ein Spielzeug für dich.

    Belphegor war wie ein Zwilling, eigentlich ein zweites Du. Wenn du jetzt über ihn nachdachtest, kam es dir vor, als hättest du ihn dir nur ausgedacht, um ihm all deine kindlichen Niederlagen aufhalsen zu können. Belphegor war für alles verantwortlich, Paweł, er bekam nämlich all jene Eigenarten aufgeladen, die du an dir nicht leiden konntest, und wenn du dann etwas verbockt hattest, machtest du dir vor, nicht du wärst es gewesen, sondern Belphegor hätte dich dazu überredet, Belphegor hätte dich angestachelt, Belphegor sei an allem schuld, immer steckte er dahinter, dein kleiner persönlicher Doctor Evil, das Miese in dir.

    Belphegor, Jesus Maria, dachtest du mit schwerem Kopf.

    Und doch hattest du Belphegor gemocht. Ihr hattet euch unterhalten. Ja, Belphegor sprach auch mit dir. Du hörtest ihm zu und machtest manchmal tatsächlich, wozu er dich überreden wollte. Manchmal konntet ihr ganze Nächte durchquatschen. Deine Eltern hörten diese Gespräche aus deinem Kinderzimmer und machten sich Sorgen um dich, sie schickten dich zu Psychiatern, aber denen, diesen Psychiatern, antwortetest du artig, ohne Belphegor je preiszugeben, und ihn wegzuwerfen hätten sich deine Eltern nie getraut. Vielleicht aus Angst, dass du sonst, wer weiß, mit der Nachttischlampe redest – dann lieber mit Belphegor. Das war doch irgendwie normaler. Zurück zu Hause erzähltest du Belphegor dann von deinen Psychiaterbesuchen, und ihr konntet gemeinsam darüber lachen.

    Er verschwand erst, als du im Alter von vierzehn Jahren mit deinen Eltern von Radom nach Krakau gezogen bist. In Krakau hast du Belphegor nicht mehr gesehen. Er war einfach weg. Existierte nicht mehr. Das bekamst du jetzt überhaupt erst mit, es war dir gar nicht aufgefallen.

    Du hattest keine Ahnung, wieso dir Belphegor ausgerechnet jetzt wieder in den Sinn gekommen war, in Kazimierz, auf dem Weg in Richtung Dietla, schließlich hattest du in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht ein einziges Mal an ihn gedacht.

    Du verspürtest sogar eine leise Sehnsucht, aber als du über die Dietla rüber warst, hattest du das auch schon wieder vergessen.

    Die ganze Altstadt sah aus wie ein riesiger Supermarkt, in dem man Alk in allen Preis- und Güteklassen bekam: eine Discoparty mit Ausländern (free rooms, Zimmer frei, szálloda), die um betrunkene polnische Mädels herumschlichen, und ausgerasteten polnischen Marcins mit Macheten im Anschlag, eine Party à la Künstlerliteratenstyle, eine Party à la Berliner Hipster, eine Party à la Magisches Kazimierz, à la Magischer Kleinkunstkeller Pod Baranami, à la Studentcore, à la Shanty, à

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