Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Chroniken von Leonsk
Die Chroniken von Leonsk
Die Chroniken von Leonsk
eBook134 Seiten1 Stunde

Die Chroniken von Leonsk

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Mit einer klugen Parabel auf das heutige Russland legt der Kritiker und Dichter Alexej Parin seinen ersten Roman vor.
Die russische Stadt Leonsk blickt auf eine eindrucksvolle Geschichte zurück: Einst von venezianischen Adelsfamilien gegründet, entwickelte sie sich zu einer Hochburg der Kunst, Musik und Bildung. Doch noch etwas zeichnet die märchenhafte Stadt und ihre Bewohner aus: Sie haben Zwerglöwen aus Venedig mitgebracht, die in Leonsk heimisch geworden sind. Die sanften und intelligenten Leoncini wurden zum Wahrzeichen der Stadt und ein Symbol ihrer Unabhängigkeit. Doch die Zwerglöwen sind in Gefahr – und mit ihnen die Freiheit von Leonsk. Der undurchsichtige Bürgermeister lässt die Statuen der Löwen in der Stadt demontieren, bald darauf kommt es zu einem folgenreichen Anschlag auf die Tiere und ihre Besitzer und in Leonsk bleibt nichts von der einstigen Größe zurück.
SpracheDeutsch
HerausgeberHollitzer Verlag
Erscheinungsdatum30. Nov. 2016
ISBN9783990123324
Die Chroniken von Leonsk

Mehr von Alexej Parin lesen

Ähnlich wie Die Chroniken von Leonsk

Ähnliche E-Books

Politische Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Chroniken von Leonsk

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Chroniken von Leonsk - Alexej Parin

    DIE CHRONIKEN VON LEONSK

    ALEXEJ PARIN

    DIE CHRONIKEN

    VON LEONSK

    Roman

    Aus dem Russischen von Anastasia Risch

    Lektorat: Teresa Profanter

    Umschlagbild und Satz: Nikola Stevanović

    Hergestellt in der EU

    Alexej Parin: Die Chroniken von Leonsk

    Aus dem Russischen von Anastasia Risch

    Originaltitel:

    Алексей Парин: Хроника города Леонска

    © Novoe Literaturnoe Obozrenie, Moskau, 2015

    Die Übersetzung wurde dankenswerterweise von Tatjana Schischkina großzügig unterstützt.

    Alle Rechte vorbehalten

    © HOLLITZER Verlag, Wien 2016

    www.hollitzer.at

    ISBN 978-3-99012-332-4

    MARIK UND CINO

    Cino¹ knurrte im Schlaf auf: ein kurzer, abgehackter Laut. Seine dunkelgelbe Mähne lag ausgebreitet auf dem Boden; sie war nach der letzten Mode mit gepflegten Löckchen versehen, und die Sonnenstrahlen glänzten darin wie in den üppigen Locken einer Blondine. Cino träumte von einer Verfolgungsjagd. Er rannte mit atemberaubender Geschwindigkeit einer Antilope in der Wüste nach, und sein kurzes, schlaftrunkenes Knurren war ein Ausdruck von Rage. Da war sie, diese wunderbare, geheimnisvolle Kreatur, so hinreißend in ihrer Eleganz. Er war ihr auf den Fersen. Plötzlich stolperte sie und fiel hin. Er musste abrupt anhalten und wäre selbst fast gestürzt. Sie schaute, auf dem Boden liegend, fasziniert zu ihm auf. Er rührte sich nicht vom Fleck. Plötzlich begann er, ihr in einer Art rasender Verzückung die Schnauze zu lecken. Da wachte er auf.

    Cino lag auf der großen Terrasse. Marik spielte neben ihm mit seinen Autos. Kaum hatte sich Cino bewegt, stürmte Marik auf ihn zu, ungestüm, wie nur ein feuriger Fünfjähriger sein kann. „Klein-Cino, warum hast du geknurrt? Hat dir jemand was getan? Denen werde ich es zeigen!" Marik fiel über Cinos Rücken her und knuddelte ihn, so selbstverständlich und familiär, als wären sie beste Freunde. Und das waren sie auch – Freunde, so eng und innig, wie man es sich nur vorstellen kann. Für alle Wolkow-Wulfs war Cino ein Familienmitglied – nicht mehr und nicht weniger. Er war so groß wie ein deutscher Schäferhund und hatte damit genau die richtige Größe für einen Fünfjährigen. Manche Familien in Leonsk ließen ihren Tieren die Krallen schneiden, damit sie die Möbel nicht zerkratzten. Aber Cino hatte von Geburt an einen zauberhaften Charakter: Von allen Eigenheiten eines Löwen hatte er sich nur sein königliches Knurren bewahrt, aber auch dieses entwich ihm höchstens im Schlaf.

    Ich merke gerade, dass ich es verpasst habe, Ihnen das Wichtigste zu erklären, indem ich mich unvermittelt ins Geschehen stürzte. Ich habe nun mal keine Erfahrung mit Prosa. Bisher verfasste ich nur von Zeit zu Zeit Gedichte und führte technische Übersetzungen aus. Wenn ich es nun mit Prosa versuche, dann nur deshalb, weil ich der Einzige bin, der Ihnen diese Geschichte glaubwürdig erzählen kann. Das Wichtigste nämlich besteht darin, dass Cino ein Zwerglöwe ist. Ich werde in einem separaten Kapitel berichten, wie die Zwerglöwen in die Stadt Leonsk an der Wolga kamen. Zwerglöwen sind Löwen, nur kleiner, von der Größe eines Schäferhundes. Sie sind zahm, nichts als prächtige, große Hauskatzen, und vom Charakter her sogar einfacher als Hauskatzen – eher wie Hunde. Man kann sie mit Kuscheltieren vergleichen, so gutmütig und liebenswürdig sind sie. Kinder tollen mit ihnen liebend gern stundenlang am Boden herum. Kennen Sie Neufundländer, diese riesigen, üppig behaarten, zotteligen Bündel an Gutmütigkeit? Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mich seinerzeit im Hause eines berühmten Übersetzers mit zwei solchen Hunden am Boden herumwälzte und vor Glück überzuschnappen drohte. Später sah ich einmal auf der Straße einen solchen Hund und wollte ihn streicheln – worauf er mir fast die Hand abgebissen hätte. Ich trug für den Rest meines Lebens einen Schrecken davon. Zwerglöwen hatten allerdings nichts Aggressives oder gar Blutrünstiges an sich: In Leonsk wurden sie seit dem 18. Jahrhundert als Haustiere gehalten und hätten nicht beliebter sein können. Manche Familien ließen sie sogar auf ihre Kinder aufpassen, wie Babysitter.

    Cino und Marik alberten selbstvergessen auf dem Boden herum.

    „Zeit für den Deutschunterricht!"

    Es war Mariks Großmutter, die die Idylle unterbrach, die Ordnungshüterin Valeria Petrowna, von ihrem Enkelkind stur Valja genannt. Anfang September, wenn die Sonne so mild und wärmend scheint, lässt sich kein Kind gern vom Spielen ablenken. Aber Marik war ein braves Kind – und sprang sogleich auf.

    „Ich wasche mir nur rasch die Hände."

    In der Familie waren es alle gewohnt, dass Marik, der nie besonders streng erzogen wurde, ausgesprochen reinlich war und sich wie ein Schöngeist gebärdete.

    „Fräulein Frieda ist schon da. Beeil dich."

    Die Wolkow-Wulfs stammten von einer der Familien ab, die auf Einladung Katharinas der Großen im 18. Jahrhundert an die Wolga gekommen waren und einen Großteil der ursprünglichen Bevölkerung von Leonsk bildeten. Sie selbst kamen aus Freiburg, aber nebst Deutschen gab es unter den ersten Siedlern auch viele Italiener aus Venedig. Sie waren es auch, die die ersten Zwerglöwen nach Leonsk brachten, welche mit der Zeit zum Wahrzeichen der Wolga-Stadt wurden.

    Marik ließ es sich nicht nehmen, ein wenig herumzuplanschen, aber danach beseitigte er die Wasserspritzer mit der Gründlichkeit eines Erwachsenen. Vor der jungen und sachkundigen Lehrerin namens Olga Wassiljewna Kranz, der die aristokratische Valeria Petrowna im Andenken an ihre eigene Hauslehrerin den Spitznamen ‚Fräulein Frieda‘ gegeben hatte, pflanzte sich ein Junge mit rosigen Wangen und neugierig glänzenden Augen auf.

    „Guten Tag, Fräulein Frieda!"

    „Guten Tag, mein lieber Marik!"

    Valeria Petrowna nickte fröhlich.

    „Marik, sei fleißig!"

    Dann verließ sie das Studierzimmer im Erdgeschoss des Hauses. Und auch wenn es durchaus spannend wäre, Mariks Deutschunterricht beizuwohnen, lassen Sie uns das Zimmer ebenfalls verlassen. Wir setzen uns auf die Terrasse hinaus, auf das Sofa mit den Zierkissen, und widmen uns an diesem warmen Septembertag der Herkunft unserer wundervollen Zwerglöwen.

    DIE HERKUNFT

    DER ZWERGLÖWEN

    Die Zwerglöwen wurden aus Venedig importiert. Dreizehn venezianische Familien waren 1790 nach Leonsk gekommen, als die Stadt bereits ein einheitliches Ganzes bildete. Leonsk gehörte nämlich zu den deutschen Siedlungen, die in den 1770er-Jahren unweit von Astrachan entstanden waren. Die Stadt hatte von Anfang an einen Sonderstatus: Hier siedelten sich in erster Linie Intellektuelle an, die im Sinn hatten, etwas nie Dagewesenes zu erschaffen. Es heißt, hier hätten seinerzeit die bedeutendsten Architekten gewirkt, und das glaubt man gern. Sehen Sie sich in der Stadt um – und Sie werden die Logik einer tadellos durchdachten Stadtplanung erkennen. So zahlreich waren die hochstirnigen Deutschen, die sich hier niedergelassen hatten, gar nicht – nur etwa 600; darunter waren aber solche Namen, dass ihnen die besten Köpfe aus ganz Russland und auch aus Osteuropa nach Leonsk gefolgt waren, ungeachtet des angestammten Russlandhasses von Polen und anderen unterjochten Völkern. Die Stadt wurde ungewöhnlich schnell errichtet und zählte schon sehr bald um die hunderttausend Einwohner. Es entstand eine kleine Universität und ein Theater, in dem Dramen und Opern aufgeführt wurden. An der Wolga prangte eine hohe Promenade, an der abends beinahe alle Bewohner entlangspazierten. Unterschiedliche Sprachen waren zu hören, denn die Familien zollten ihrer jeweiligen Herkunft weiterhin Tribut; aber es war Russisch, das einvernehmlich zur gemeinsamen und verbindlichen Sprache gewählt wurde. Und so gaben sich alle Zuwanderer Mühe, es gut genug zu erlernen.

    Was die Venezianer angeht, so waren es die besten Familien, welche nach Leonsk übersiedelten, weil ihnen der Sturm auf die Bastille einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Die Panik breitete sich damals über Europa aus wie eine riesige Welle, und viele flohen Hals über Kopf in verschiedene Richtungen. Die schönste der Städte fristete sowieso ein ziemlich elendes Dasein, nachdem sie ihre Vorrangstellung im internationalen Handel verloren hatte, und erwartete gleichsam willenlos ihren staatsrechtlichen Untergang. Und so machte sich die Grimaldi-Familie auf den weiten Weg, überredet durch Goldmund Reineke, der in irgendeinem wissenschaftlichen Auftrag für eine Woche aus Leonsk nach Europa gekommen war. Man konnte Goldmund vertrauen; er war in den 1770er-Jahren ein häufiger Gast in Venedig, galt als Kenner der Glasherstellungskunst, kannte alle Glasbläser in Murano und wurde für seinen gesunden Menschenverstand geschätzt. Seine Lobpreisungen auf Katharina die Zweite mit ihrem deutschen Verstand und der russischen Großzügigkeit waren so eloquent und seine Schilderungen von Leonsk so malerisch, dass sich der charismatische Enzo Grimaldi, ein sechzigjähriger Aristokrat, verständiger Bücherfreund, fürsorglicher Vater und zärtlicher Großvater, zu einer überstürzten Flucht vor den Krallen der französischen Aufständischen entschloss. Innerhalb einer Woche waren die Vorbereitungen erledigt – und Sie können sich sicherlich vorstellen, was eine Familie mit zweiundzwanzig Mitgliedern und vierunddreißig Bediensteten alles einpacken musste! Als wäre das nicht genug, hatte Grimaldi seine besten Freunde, allesamt venezianische Patrizier, zu einem Abendessen geladen, bei dem Reineke immer mal wieder einen Satz über Russland einstreute, das sich gerade aus seiner untergeordneten Stellung erhob, über das freie deutsche Leben an der Wolga, über das Leonsker Theater, an dem Opern von Traetta und Piccinni gegeben wurden, über die Universität, an welcher der junge Fichte Gastvorlesungen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1