Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Alles Eisen des Eiffelturms
Alles Eisen des Eiffelturms
Alles Eisen des Eiffelturms
eBook358 Seiten5 Stunden

Alles Eisen des Eiffelturms

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Kritiker beschreiben das Werk des Italieners Michele Mari als "magische Enzyklopädie unseres vergangenen Jahrhunderts" – für den Roman "Alles Eisen des Eiffelturms" trifft das ganz besonders zu. Der Ort dafür: die Passagen von Paris vor rund hundert Jahren, als die Stadt noch als die literarische Hauptstadt Europas gelten durfte. Die Protagonisten in dieser Revue der verlorenen Geister: der Deutsche Walter Benjamin und der Franzose Marc Bloch. Mari lässt sie durch die Stadt streifen, gemeinsam mit Geistesgrößen aller Kunstrichtungen und aller Herren Länder, er vermischt auf spielerische Weise Fiktion und Fakten und bietet dabei eine Tiefenbohrung dessen, was europäische Kultur ausmacht.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Juni 2023
ISBN9783949262371
Alles Eisen des Eiffelturms

Ähnlich wie Alles Eisen des Eiffelturms

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Alles Eisen des Eiffelturms

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Alles Eisen des Eiffelturms - Michele Mari

    Combray heißt nicht Combray, sondern Illiers: Heute wird der Ort allerdings auf Straßenschildern und Reiseführern Illiers-Combray genannt. Dort gibt es ein Museum, das Marcel Proust gewidmet ist: acht Räume mit Erstausgaben, Tintenfässchen, Flakons mit Asthmatabletten, Hausjacken, Taschentüchern mit Signet, Spazierstöcken, reichlich Material also, das allerdings durch die Art der Präsentation irgendwie entwertet wird. Die erstreckt sich vom zweiten bis zum achten Raum, folgt aber auf ein einziges Objekt, das im ersten Raum in einer Plexiglasvitrine 35 x 20 x 25 cm zu finden ist: eine Madeleine.

    In den Anfangsjahren des Museums war die Madeleine tatsächlich aus Teig. Der Kustode hatte sich darum zu kümmern und öffnete jeden Montagmorgen die Vitrine, um das alte Gebäck durch ein frisches zu ersetzen. Was der Kustode dann mit der alten Madeleine machte, entzieht sich unserer Kenntnis. Wahrscheinlich hat er sie gegessen, ohne allerdings deshalb eine mnemotechnische Erleuchtung wegen seiner fetten Ohrläppchen erlangt zu haben. Der wöchentliche Austausch der Madeleine war der Tatsache geschuldet, dass sie nicht etwa hart wurde, wenn sie trocknete; der poröse und buttrige Teig neigte vielmehr dazu, seine Form zu verlieren und hinterließ nach etwa einem Dutzend Tagen ein schuppenartiges Pulver, dem sich etwas umfangreichere Fragmente hinzugesellten, wenn jemand gegen das Gehäuse stieß. Der Direktor des Museums hatte den Bäcker gebeten, mehr Butter in den Teig zu geben, aber das Ergebnis war nicht gut: Durch die Hitze der Scheinwerfer verbreitete sich diese zusätzliche Rührmasse bald in bräunlichen Blüten auf der schwammigen Oberfläche der Madeleine, was ihr ein unpassend leopardenartiges Aussehen verlieh, wenn sie nicht sogar an das Leid von Weinblättern erinnerte, die durch falschen Mehltau nachgerade verrosten. Ganz zu schweigen von den Motten und kleinen Würmer, die trotz des hermetischen Umfelds ganz von allein aus dem alten Teig hervorkamen, um sich dann aufzumachen und ihre Tabernakelwelt zu erkunden, als wollten sie sich lustig machen über die doch so überzeugenden Erkenntnisse eines Spallanzani und Pasteur.

    Also ersetzte der Hausmeister die Madeleine, und er ersetzte sie bis zu dem Tag, an dem er in den Ruhestand trat. Am selben Tag wurde der Direktor mit einem gewerkschaftlichen Problem konfrontiert. Der neue Hausmeister wies darauf hin, dass seine Aufgabenbeschreibung diese lästige Pflicht nicht vorsah, und dass sie, wenn er sie erfüllen sollte¸ extra bezahlt werden müsste. Der Direktor war ein penibler Mann und wollte darauf nicht eingehen, sodass er, als das Alter der letzten Madeleine ein erträgliches Maß weit überschritten hatte, die Lösung ersann, die auch heute noch gilt. So kam es, dass das Museum bei einer Spielzeugwerkstatt in Rouen eine Madeleine aus Kunststoff in Auftrag gab: eine perfekte Nachahmung, wenn man von der Schweißnaht zwischen den beiden Hälften der muschelartigen Gebäckform absieht, die sich gemäß zwingender Vorgaben des PVC zeigte.

    Du siehst es, dieses Ding, und lachst, aber es ist eher ein Schluchzen, und du sagst dir: Wenn die Literatur so etwas hervorbringt, dann ist das Literatur. Und es ist die Rache der Wirklichkeit, denn eine Literatur, die sich nicht gegen die Welt verteidigen kann, was ist sie dann, wenn nicht Welt? Und die Welt hier ist geschmolzener Kunststoff, aber geschmolzen zu Literatur, und also, selbst wenn wir aussteigen wollten, wissen wir, dass es nicht geht, nicht einmal ab und zu.

    … und doch hat das Ding durchaus einen literarischen Wert: Denn wenn ich es betrachte, erinnere ich mich, ja, ich erinnere mich an ein Leben, und es ist nicht mein eigenes; ich sehe das dramatische Gesicht eines Mannes, der durch die Passagen von Paris läuft, eines Mannes mit Namen Walter Benjamin.

    Benjamin richtet den Blick auf das Eisen- und Glasgewölbe der Passage des Princes, und wieder ist er wie verzaubert. Diese überdachte Straße, deren Larvenlicht ihn stets an ein Aquarium erinnert hat, ist Innen und Außen gleichzeitig, ein Schwebezustand zwischen Straße und Wohnung und ein verlogenes Glitzern von Schaufenstern, wo es doch kaum Licht gibt; Zurschaustellung von Waren und zugleich Schau der Schmach (da oben wohnen sie, die Ladenbesitzer, deren Kinder und deren Alte aus den Lunetten über den Schaufenstern herauslugen); Schutzraum vor der Gewalt der Stadt und intime Ahnung dessen, was die Stadt ist, als sähe man sie im Schnittbild, als sähe man sie, wie sie träumt … Und in diesem verträumten Korridor, wo man sitzen möchte wie in einem Zimmer, um in diesem Zimmer hin und her zu gehen wie in einem Korridor, spürt Walter Benjamin, der Träumer, eine durchdringende Prägnanz, die ihm Rechtfertigung ist so wie ein Fisch Rechtfertigung durch das Wasser erfährt. Vor allem zieht ihn das Gewölbe in seinen Bann, Eisen, das schwebt, gehalten in seiner funktionalen Ökonomie der Spannung, modern! sehr modern, die gleiche Architektur wie die der Gares … zu modern vielleicht, aber immerhin temperiert durch das Pflanzliche des Liberty, durch die Empire-Rillen der kleinen Säulen … antik und modern also, ein Fabelwesen aus dem neunzehnten Jahrhundert, wie ein Blasebalg, und spekulativ mit Blick auf das zwanzigste, was den besondere Reiz von Verne ausmacht …

    Er verlässt die Passage des Princes, bleibt auf Montmartre und besucht die Passage Verdeau, die Passage Jouffroy, die Passage Panoramas, eine nach der anderen, um schließlich in Richtung der eher proletarischen Passagen am Boulevard Sébastopol und der Rue Saint-Denis zu laufen und zum x-ten Mal betritt er die Trinité, die Basfour, die Ponceau, die Caire, die Aboukir, lange hält er hier inne, um die Fourier-artige Taubheit dieser Därme gänzlich zu verinnerlichen. Und genau auf der Hälfte der Passage Aboukir erstarrt er wie in Ekstase, still wie ein Kristall reinster Intelligenz. In dieser Pose fällt der Blick eines Muschelverkäufers auf ihn.

    „Siehst du diese Statue?, sagt der Verkäufer zu seinem Sohn und rührt in einer mit Crevetten gefüllten Schüssel. „Hat gerade ein Buch über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit geschrieben. Du reproduzierst es ein bisschen, das Werk, und das war’s mit der Aura!

    Benjamin, treuer Anhänger von Demokratie und Dialektik, hatte sich vorgenommen, die Entweihung des Kunstwerks seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit Großmut zu nehmen. In seiner Melancholie konnte er allerdings den Verlust der Aura nie verwinden, der mit der industriellen Reproduktion einherging, und genau das ließ ihn durch Paris laufen: die Suche nach der Aura. Er lief ihr hinterher wie einem Fetisch, und überall zeigte sie sich ihm, in dem Gemälde, das er in einem Vorzimmer erahnte, in einer alten Wasserpumpe, in der Haarspange einer Passantin, im handgemalten Baguette auf einem Lieferwagen. Sie blitzte kurz auf und verschwand. Die Aura! Die Aura der Aura! Dieses Erzittern in der Wahrnehmung eines Sternenschweifs der Aura!

    Dieses handemaillierte Rotkehlchen auf einem Knopf ist ein nicht reproduzierbares Rotkehlchen, und obwohl es aus dem Jahr 1908 stammt, ist es älter als ein Épinal-Druck von 1775, ein Rotkehlchen, auratisch, bedeutsam … Also muss Benjamin den Knopf kaufen, und während er ihn in seiner Tasche liebkost, hat er eine Vision.

    Er stellt sich perverserweise vor, wie er die Emaille mit einem Solinger Messer angeht, um ein paar Splitter zu gewinnen, die, mit einem Stein zermahlen, zu einem feinen Pulver werden; auf seinem Zimmer in der Pension in der Rue Caumartin lässt er sodann darauf einige Tränen fallen, die sich mit dem Pulver vermischen: „Creme ästhetischer Aufwallung Benjamin, sagt er laut, „Kunst für alle als praktische Paste! Nur sechs Francs die Packung!. Ach, was die böse Gotteslästerung ihn amüsiert! Trotz Gutenberg und dem fortgeschrittenen Schicksal der entfremdeten Welt, Typografie und Nationalsozialismus, der Schritt war kurz, die Spitzen von Manutius‘ Anker wie Hakenkreuze, zwischen Fotografie und Nationalsozialismus war der Schritt noch kürzer, die Verantwortung Daguerres und dieser zwielichtigen Lumière … Auf diese Creme würde er schließlich eine Priese Amaranth-Körner streuen, wie eine Spur Safran; diese Körner wiederum sind zerkleinerte Staubgefäße und Blütenstempel einiger Blumen, die in einem Topf auf seiner Fensterbank stehen; diese Blumen hatte ihm jemand eine Woche zuvor doch tatsächlich als Nachkommenschaft gewisser berühmter Blumen verkauft.

    „Rue des Saints-Pères 8, sehen Sie? Hier wohnte Herr Baudelaire, als er das Buch schrieb. In welchem Jahr war das noch …? Was weiß ich …! Aber als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, blieben seine Sachen hier; bis nach seinem Tod einige Herren kamen und alles mitnahmen. Alles, außer diesem Topf, und was hätte die Concierge denn machen sollen? Den dort lassen? Also nahm sie ihn mit. Und nach ihr nahm ihn ihre Tochter mit, die später meine Mutter werden sollte, alle waren sie Concierges, Concierges seit Anbeginn der Zeit … Es ist derselbe Topf, wissen Sie, was das bedeutet? Es sind dieselben Blumen! Gott, nicht die Blumen, die verändern sich ja, aber der Setzling ist derselbe, die Wurzel meine ich, man kanns drehen und wenden, wie man will, und wir stehen wieder am Anfang … Also, wenn Sie Interesse haben, diese Blumen …, ich kann Ihnen einen Sonderpreis machen …"

    Sie sahen aus wie Edelweiß, ein bisschen schlaff, hellblau und rostig geädert, genauso wie er sich die Asphodelus immer vorgestellt hatte. Also kaufte er sie. Als er mit dem Topf in der Hand auf die Straße ging, begegnete er einem Schuhputzer. „Sagen Sie mir nicht, dass sie es geschafft hat, Ihnen den zu verkaufen!"

    „Doch, sie hat ihn mir verkauft, warum?"

    „Die Hexe! Hören Sie lieber auf mich, wenn Sie sich für solche Sachen interessieren: Das hier ist ein Schnäppchen, sagte der Schuhputzer, der aus seiner Schachtel eine durchsichtige Flasche mit einer gräulichen Flüssigkeit herausgeholt hatte. „Schütteln Sie nicht zu sehr, fügte er hinzu und reichte es ihm.

    Benjamin hielt es gegen das Licht: Die Flüssigkeit, in der noch einige Partikel schwebten wie Ruß, vermittelte ihm das Gefühl eines regnerischen Märznachmittags.

    „Und das ist was?", fragte er.

    „Echt hochwertig. Überprüfen Sie es nur."

    Der Schuhputzer reichte ihm eine Papierrolle, in die die Flasche wohl eingewickelt war. Auf der Außenseite war wie auf einem Etikett handschriftlich vermerkt: Spleen de Paris. Aber 100 Francs waren zu viel. Nach langem Feilschen schaffte es Benjamin für 20 Francs, dass der Schuhputzer ihm ein wenig Spleen auf seine Blumen des Bösen sprühte.

    „Ein bisschen bitte auch auf die Erde."

    „Eh, eh, das geht zu weit, mein Herr."

    „Nur ein paar Tropfen, ich bitte Sie."

    Am Ende wurde auch die Erde ein wenig befeuchtet, und glücklich wie ein Kind kehrte Benjamin voller poetischem Überschwang in seine kleine Pension zurück. Und doch würde er nie Baudelaire sein, und das war traurig. Als er durch die Weiten eines der vielen Boulevards von Haussmann ging, auch so ein Nazi, sah er, wie eine schwarze Feder langsam vom Himmel fiel, und der Gedanke, sie stamme von einer Krähe, gefiel ihm. Er sah eine Frau und stellte sie sich als Gorgone vor; er sah eine andere und wusste, sie war ein Vampir.

    Und er sah Katzen und Katzen und Katzen, und er empfand sich als Auserwählter und rezitierte mit leiser Stimme:

    Leurs reins féconds sont pleins d’étincelles magiques,

    et des parcelles d’or, ainsi qu’un sable fin,

    étoilent vaguement leurs prunelles mystiques.

    In diesen Pupillen, so ein anderes und berühmteres Gedicht, vermischte sich Achat mit Metall. Metall! Der Anker von Manutius, die Kanonen der Nazis, die Projektile der Pistolen, aber hier in Paris war das Metall das der verschraubten Eisenträger von Gare du Nord und Eiffelturm, das des Gewölbes der Halles und des Gare d’ Orsay, das war seine Form, ergreifend, die gleiche, die die Illustrationen des Nautilus von Hetzel ihm zuschrieben, eine Struktur aus braunem Eisen, Rohre aus grünlich schimmerndem Kupfer, Stücke aus poliertem Messing, und fügt man das Licht des Himmels aus verglasten Höhen hinzu, hat man die Passage. Aber warum strahlte all das Eisen eine Aura aus, die nicht hinter der eines Altarbildes aus dem XIV. Jahrhundert zurückstand? Was war das Magische an dieser industriellen Syntax? Zwar verstand er nicht wie, aber es war offensichtlich, dass auch ein in Massen hergestelltes Produkt, vor allem wenn seine technische Zielsetzung über die ästhetischen Ambitionen siegten, eine Aura erzeugte, eine zeitversetzte Aura vielleicht, eine künstliche Aura, aber gerade deshalb noch beunruhigender … Tatsächlich hatte er vor nicht allzu langer Zeit einen Roman gelesen, das Debüt eines französischen Arztes, der mit wahnhafter Genauigkeit von einem Besuch in den Fabriken von Ford in Detroit erzählte: Waren-Menschen, ja, der Horror der Entfremdung, aber auch etwas Archaisches, eine Art Tanz, etwas Magisches, das er dort gefunden haben musste, um so darüber zu reden, wie es nur der kann, der es versteht, die Gegenwart zu betrachten, als wäre sie bereits Vergangenheit … Benjamin kam an der Buchhandlung Malassis vorbei und sah im Schaufenster ein weiteres Buch desselben Autors. Es hieß Tod auf Kredit und kostete 25 Francs. „Zu viel", dachte er sich, dann sah er, dass einer der beiden Verleger Steele hieß, fast wie Stahl. Dass der Amerikaner Bernard Steele nur für den Namen der Gesellschaft stand, während der eigentliche Verleger der andere war, Robert Denoël, der Belgier, das wusste Benjamin nicht, und so betrat er die Buchhandlung.

    Benjamin hätte eigentlich an seinem Essay über Baudelaire arbeiten müssen; und an dem über Kafka; und dem über Brecht; und vor allem an den Passagen; stattdessen hatte er drei Tage lang nichts anderes gemacht, als auf seinem Feldbett zu liegen und Tod auf Kredit zu lesen. Er war hingerissen, schockiert, und Zeile um Zeile wurde er immer überzeugter, das beste Buch in den Fingern zu haben, das je geschrieben worden war. Dabei schien es, als sei diesem Schriftsteller nur ein einziges Satzzeichen bekannt: die drei Punkte. Aber was für eine Fülle und Vielfalt an Wirkung er aus ihnen herausholen konnte! Als Benjamin auf Seite 68 angelangt war, fuhr er zusammen: Der Autor beschrieb voller Schrecken und Liebe den Ort, an dem er aufgewachsen war, die Passage des Bérésinas. Wie konnte es angehen, dass er die bisher übersehen hatte? Eine lange Passage, so las man, mit nicht weniger als fünfzig Läden, lang und hoch, mit einem gläsernen Gewölbe, aus dem selbst an den schönsten Tagen ein kränklich graues Licht herabrieselte und wo es das ganze Jahr über nach geschmortem Kohl roch – die Passage des Bérésinas!, wo die Mutter des Schriftstellers einen Verschlag hatte, der bis zum Rand voll war mit Wäsche zum Flicken und mit Spitzen zum Ausbessern, die Passage des Bérésinas, ein Kohl-Aquarium, eine Art Rülpser, der im Körper des Baus schwebte, eine verzierte Wunde von einer Seite zur anderen, dort hatte der kleine Louis-Ferdinand seine Kindheit und Jugend verbracht, vielleicht waren seine Pünktchen die Bolzen dieser Eisenkonstruktion. Da musste er hin! Sofort! Er schaute in einer Karte von Paris nach, aber der Name war nicht verzeichnet; er schlug den Roman wieder auf und sah, dass die Passage von der Rue Choiseul ausging, einer Seitenstraße der Rue du Quatre Septembre, auf halbem Weg zwischen der Börse und der Oper, und sofort ging er los.

    Paris erschien ihm grässlich an diesem Tag. Er beschleunigte den Schritt in Richtung seines Ziels mit der absurden Vorstellung, dass er dort drinnen, wenn er erst einmal da war, schlafen könnte, befreit von all seinen Ängsten.

    Er brauchte lange, um in der Rue Choiseul zu finden, was er suchte, zum einen, weil die Passage des Bérésinas in Wirklichkeit einfach Passage Choiseul hieß, und zum anderen, weil man sie nur durch eine halb geschlossene Tür erreichen konnte, die sich in nichts von allen anderen Türen unterschied. Einmal eingetreten, hatte er den Eindruck, dass er sich in der ernsthaftesten Passage der ganzen Stadt befand: ernsthaft, weil sie eifersüchtig war auf den eigenen Status als Passage und stolz darauf, gleichzeitig aber gebeugt unter dieser Last. Er lief hindurch und wieder zurück, zweimal, dreimal. Beim vierten Mal hielt er auf halber Strecke an und befragte einen Chinesen, der Brocken von Kabeljau in braunem Öl frittierte.

    „Verzeihung, können Sie mir sagen, in welchem Haus ein Herr namens Céline … ich meine, nein, Destouches, Louis-Ferdinand Destouches, wohnte, kennen Sie ihn? Er hat hier einmal gewohnt …"

    „Ob ich ihn kenne? Jeder kennt ihn! Er sagte … und sein Lächeln blitzte auf, „ … er sagte, dass die Gelbflessen in ein paar Jahren Flankleich den Flanzosen lauben, dass Palis bald genauso aussieht wie Shanghai, hi hi … Numelo 67, gehen Sie nur, gehen Sie …

    Benjamin verabschiedete sich und suchte die Nummer 67. Als er davor stand, sah er, dass in dem Laden jetzt ein Geschäft mit den unterschiedlichsten Waren untergebracht war: Sojabohnen, Kampfer, Schnüre, Reis, Linsen, Kerzen. Auf einem Schild zwischen zwei roten Drachen stand: Kaufhaus Li-Pon. Er wandte sich dem Fischfrittierer zu.

    „Mein Cousin, Li-Pon. Gutel Mann, Li-Pon. Immer gut, Cousins, hi hi."

    „Halt die Klappe, du Wirsingfresser! Die Stimme kam von oben. „Hier oben, mein Herr, ich bin hier oben.

    Er sah hoch, ohne jemanden zu sehen.

    „Hier, ich bin hier!"

    Ein Mann zeigte sich in einer Lunette auf halber Höhe, nur wenig höher als die darunter, sodass man kaum glauben konnte, dass dort zwei Wohnungen übereinander lagen.

    „Kommen Sie hoch, ich muss Ihnen etwas zeigen. Nehmen Sie die 69, und dann die zweite Tür links."

    Als er den Mann in der ärmlichen, düsteren Behausung erreichte, merkte Benjamin, dass er einen Zwerg vor sich hatte.

    „Ein Zwerg, ja! Na und?, meinte der Mann, ohne dass der Philosoph etwas gesagt hätte. „Ein Zwerg, der Sie glücklich machen kann. Schauen Sie mal.

    Er reichte ihm eine kleine Blechdose, wie sie Insektenforscher zum Transport ihrer Tiere verwenden.

    „Schauen Sie, nur Mut! Haben Sie keine Angst vor dem Preis, wir werden uns schon einigen."

    Er öffnete die kleine Schachtel. Auf einem Bett aus Watte lagen drei winzige, schwarze Kugeln, jede einzelne nicht größer als einfache Jagdmunition. Er schaute den Zwerg fragend an.

    „Erkennen Sie sie nicht? ‚Es war so erbärmlich wie ein alter Rock, der zum Trocknen aufgehängt wurde …. Selbst die dreckigsten Feldmäuse merkten das … Alle machten sich lustig, wenn sie ihn zwischen den Dächern hin und her schwanken sahen … Ich lachte ein bisschen weniger! … Ich sah den entsetzlichen Riss voraus, den entscheidenden! Den tödlichen! Der finalen Reinfall …‘

    „Sagen Sie jetzt nicht …"

    „Natürlich! Die drei Punkte! Die größte Erfindung des Jahrhunderts! Was die Literatur anbelangt, versteht sich, wir wollen nicht übertreiben. Also, was sagen Sie dazu? Hm? Wenn Sie das Geschäft interessiert, sind wir hier, um es abzuschließen! So viel zu den Chinesen …! Also, ich meine, dass sind schließlich nicht irgendwelche drei Punkte, sondern seine! Und das Original, keine Kopie!"

    „Ich weiß nicht, ob …"

    „Sie zögern? Ich sehe, Sie zweifeln! Habe ich mich in der Person geirrt? Sind Sie der Jude oder nicht? Ich habe mich über Sie informiert; glauben Sie, Sie haben noch viel Zeit für Ihre Geschäfte? Falls Sie es vergessen haben sollten, möchte ich Sie daran erinnern, dass wir das Jahr 1936 haben, also rechnen Sie selbst nach …"

    Wie versteinert starrte Benjamin mit der Schachtel in der Hand auf die drei Punkte.

    „Ist es der Preis, der Sie abschreckt? Dabei haben wir darüber noch nicht einmal gesprochen! 90 Francs, was sagen Sie dazu? 30 Francs pro Punkt scheinen mir nicht zu viel … Also hören Sie, ich verliere langsam die Geduld! Ich mache Ihnen … Ich mache Ihnen noch ein weiteres Angebot, und das war’s dann!"

    Mit diesen Worten reichte er seinem Gast eine weitere Schachtel, die der ersten ähnelte. Beim Öffnen kamen drei Groschen zum Vorschein, die auf eine Karte geklebt waren. „Sie schreiben doch einen Aufsatz über diesen Bertolt Brecht, mein lieber Berliner, oder? Also hier, das Feinste vom Feinen! Direkt aus Mahagonny, für Sie, die berühmten drei Groschen! Das wären 30 Francs, aber wenn Sie die beiden Sets zusammen nehmen, geben Sie mir … da, geben Sie mir hundert, und ich bin zufrieden!"

    Eine Kakerlake durchquerte eilig den Raum.

    „Oh, Gregor!, rief der Zwerg und bückte sich, um sie zu fangen, da war sie aber bereits in eine Ritze zwischen den Kacheln an der Wand gekrochen. Der Zwerg bückte sich und zeigte einen wulstigen Rücken, der unter dem karierten Hemd ein reliefartiges Netz erkennen ließ, wie von Schorf oder Narben. „Nun komm schon, Gregor, ich erwische dich!

    Benjamin fiel ein, dass sein Freund Scholem ihm vor einem Monat erzählt hatte, er habe einen Roman mit dem Titel Die Blendung gelesen, der gerade in Wien erschienen war. Und Scholem zufolge war eine der außergewöhnlichsten Figuren in diesem Buch ein größenwahnsinniger, angeberischer Zwerg namens Fischerle: ein Zwerg, der just auf dem Höhepunkt seines Erfolgs erwürgt und dessen Buckel mit einer Messerklinge verstümmelt wurde.

    „Man sollte diesen Insekten eine Lektion erteilen!"

    „Der Name Fischerle sagt Ihnen nichts?"

    „Nie gehört. Und?"

    „Eine Figur in einem Buch."

    „Sehe ich aus wie jemand, der Zeit hat, Bücher zu lesen?"

    „Na ja, Sie wollen mir Satzzeichen verkaufen und Teile eines Titels, und diese Kakerlake da haben Sie gerade Gregor genannt …"

    „Ja und? Geschäft ist Geschäft. Man muss sich ja irgendwie durchschlagen, oder?"

    „Kennen Sie das Lied vom bucklicht Männlein?"

    Will ich in mein’ Keller gehn,

    Will mein Weinlein zapfen,

    Steht ein bucklicht Männlein da,

    Tut mirn Krug wegschnappen.

    Will ich in mein Küchel gehn,

    Will mein Süpplein kochen,

    Steht ein bucklicht Männlein da,

    Hat mein Töpflein brochen …

    „Das hat mich mein ganzes Leben begleitet, mein ganzes Leben lang. ‚Bete auch für das Männlein‘, hat meine Mutter immer gesagt, aber warum sollte ich, wo das Männlein mich nur geärgert hat? Wissen Sie, wenn man von dem Männlein beobachtet wird, kann man sich nicht mehr konzentrieren, es ruiniert alles, was man anfängt, und wenn man sich zwischen zwei Sachen entscheiden muss, wählt man garantiert immer das Falsche."

    „Während Sie sich jetzt also entscheiden, schaue ich nicht hin … Ah, da ist er wieder! Gregor! Greeegooor! Bleib stehen! Der Herr möchte einen Blick auf dich werfen."

    „Ich glaube, die Kakerlake interessiert mich nicht."

    „Nein? Und doch mögen Sie die Bücher vom Fränzchen, hat man mir jedenfalls gesagt. Na ja, Jude und Jude, versteht sich ja von selbst … Aber hören Sie, in der Kafka-Branche kann man nicht gerade glänzen, oder? Auch weil es einen Landsmann von Ihnen gibt, der alles beackert, was man da beackern kann, Berliner wie Sie, der aber jetzt in Marburg lebt, ein gewisser Auerbach … Das erklärt auch, warum ich Ihnen im Moment nichts weiter zeigen kann, aber wenn Sie mir ein paar Tage Zeit geben und eine ordentliche Anzahlung, kann ich Ihnen ein Stück besorgen, also wirklich … das ist ein Stück! … na, ich will Ihnen lieber eine Seite dazu vortragen, hören Sie: „Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte aneinander geknotete, aber auch ineinander verfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen."

    „Odradek!"

    „Ich wusste doch, dass ich mit dem richtigen Mann rede. Ich muss Sie jedoch darauf hinweisen, dass ich bereits in Verhandlung mit Herrn Auerbach stehe, der immer tadellos zahlt. Aber es ist auch wahr, wenn wir uns jetzt auf 100 Francs einigen würden, dann könnte Ihre Anzahlung, wie soll ich sagen, dann könnte sie entscheidend werden …"

    „Ich … hundert, ja … plus weitere zwanzig, das ist alles, was ich habe … obwohl ich nicht weiß, ob ich wirklich sollte … Wissen Sie, das Männlein raubt mir alles. Offenbar kommt es nachts, weil mir morgens immer irgendetwas fehlt … wie der Kobold bei Torquato Tasso …"

    Er schämte sich wegen seiner Entscheidungsschwäche, bezahlte, und ohne dem Zwerg in die Augen zu sehen, nahm er ihm die beiden Schachteln aus der Hand. Unten in der Passage ging er schnell zum nördlichen Ausgang.

    „Lennen Sie, Hell, lennen Sie, Elich Auelbach kommt immel vol Ihnen an."

    Er wandte sich zu der Fischbude, sah aber niemanden. Die gesamte Passage war menschenleer.

    In seinem großen, lichten Arbeitszimmer im vierten Stock eines eleganten Hauses in der Bismarckstraße in Marburg ordnete Erich Auerbach, der berühmte Philologe und Romanist, das Material für seine gewaltige summa der großen Traditionen des abendländischen Realismus. Die einzelnen Linien und Kernpunkte des Projekts hatte er noch nicht bestimmt, ja, er hatte eigentlich von fast allem hier eher wirre Vorstellungen. Zwei wichtige Punkte aber standen in seinem mächtig beschäftigten Kopf fest, nämlich dass er mit einer Narbe anfangen und mit einer Wollsocke enden würde. Begonnen hatte alles 1929 in Berlin, wenige Monate bevor er in Marburg den Lehrstuhl von Leo Spitzer übernahm. An jenem Tag bekam Auerbach, damals Bibliothekar an der Staatsbibliothek, das Buch in die Hände, das sein Leben verändern sollte. Es handelte sich um einen atlasgroßen Band mit dem Titel Storia illustrata della pasta. Er war fasziniert von der Schönheit der Reproduktionen, und Auerbach ging sie mit preußischer Genauigkeit durch, eine nach der anderen: von anolino bis zita, so viele Nudelformen, so viele spezielle Nutzungsweisen und vor allem wie viele Namen! Zumal ein und dieselbe Nudelsorte in jeder Region anders genannt wurde: trenetta in Ligurien, linguina in Kampanien, bavetta in Molise und Apulien … Allmählich machte sich in ihm der Gedanke breit, dass das Wort pasta einer platonischen Lüge gleichkam, und dass die Wirklichkeit nur dort, in den Besonderheiten und im Individuellen lag, sowie in der zwangsläufigen, aussagekräftigen Beziehung zwischen Dingen und Namen. Vor allem die Figur 233 hatte es ihm angetan. Schon einige Fusilli und die so genannte cresta di gallo hatten ihn an die Form einer Narbe erinnert, aber das hier war eine Narbe: dieser seltsame längliche und faltige Knödel, der tròffolo genannt wurde, vielleicht in Wahrheit auch ein Regenwurm, aber vor allem eine Narbe. Genau wie die, dachte er, auf Odysseus‘ Oberschenkel, dank derer seine alte Amme den Helden erkennen sollte … das besondere Zeichen, durch das ein Niemand jemand wird, das ersonnene Detail, durch das man alles versteht … Die alte Frau hatte bei den Füßen begonnen, den Fremden zu waschen, und Auerbach betrachtete plötzlich seine eigenen Füße, die in schwarzen Schuhen und braunen Strümpfen steckten … an etwas erinnerten ihn diese Strümpfe, etwas, das mit einem anderen Buch zu tun hatte, mit einem anderen Meer … mit einer anderen Reise … natürlich! dieser dämliche braune Strumpf, den Mrs. Ramsay den kleinen James am Anfang von Zum Leuchtturm anprobieren lässt … Homer und Virginia Woolf, der Weg der Details, eine Bibliothek der konkreten Dinge … da war er, sein abendländischer Kanon, um den sich, vage und verworren, seit geraumer Zeit alles in seinem Kopf gedreht hatte, zwischen all den Büchern, die in so vielen verschiedenen Sprachen geschrieben waren, in diesem Wald von Titeln und Figuren … Und hier in Marburg bewahrte Auerbach nun auf seinem Schreibtisch die beiden Memento-Objekte auf, in denen seine Intuition zur Form geworden war, tròffolo und braune Socke. Durch diese beiden Fetische ließ er sich immer wieder inspirieren, aber sie waren auch Gift für ihn – zum Schaden seines inneren Gleichgewichts. Sie anzuschauen, oder allein schon, sich ihrer Anwesenheit bewusst zu

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1