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Die Große Kunst. Erzählung in dreizehn Schritten: Erzählung
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eBook94 Seiten1 Stunde

Die Große Kunst. Erzählung in dreizehn Schritten: Erzählung

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Über dieses E-Book

Sibylle Severus, geb. 1937 in Oberbayern, hat ihren Lebensmittelpunkt seit Jahrzehnten in Zürich. "Die Große Kunst. Erzählung in dreizehn Schritten" umkreist mit List, Beharrlichkeit und Phantasie das Problem, sich mit Sprache oder anderen Mitteln im Chaos zu verständigen, und dem Scheitern ein besseres Scheitern entgegenzusetzen, beispielsweise die 'Große Kunst', ein Kinderspiel gegen bodenlose Regensonntage. Auf der Bestenliste von Orte (XII/02)
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum23. März 2015
ISBN9783709935453
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    Buchvorschau

    Die Große Kunst. Erzählung in dreizehn Schritten - Sibylle Severus

    Suchbild

    Knochenkopf spielen

    Er sagt: Die Krähen schreien. Der Mörder sticht. Das Opfer stöhnt.

    Ich schreibe: Im Spiegel sehe ich meinen Totenkopf: keine Augen, keine Lippen – Zähne, schon lange nicht mehr. Knochenkopf, reines helles Bein. Das bin Ich –, wenn es endlich zu Ende ist mit dem Luftzug, den ich auf dem Hals spüre; mit dem Lärm, der in meinen Ohren singt, dem Aufheulen einer vorüber fahrenden Straßenbahn, mit dem Raunen der Autos, als kämen die Fahrzeuge in Turmschuhen daher.

    Er sagt: Tippfehler: Tur-n-schuhe! nicht Turm-Schuhe, auf denen die Menschen größer scheinen als sie sind.

    Ich schreibe: Die Krähe krakeelt. Der Mörder sticht nur, wenn er imstande ist, Blut zu sehen. Es gibt Mörder, die aus diesem Grund gar nicht morden. Und Opfer stöhnen höchstens, wenn sie noch Zeit dazu haben.

    Er sagt: Nachher hört jede Zeit auf. Aus, vorbei!

    Ich schreibe: Der unaufhaltsame Weg hin zum Tod ist der einzige, bei dem ich ganz sicher bin, bestimmt ans Ziel zu kommen. Bis heute waren es lustige Weglein, verschlungene Pfade, breite Straßen, dunkle Gassen, Flugbahnen, auch Abstürze, manchmal ein Fließen in kühlen Gewässern oder ein Klettern an steiler Wand.

    Sämtliche Wege werden in der absoluten Gewissheit des Zielbandes, das ein stillstehendes Herz gerade noch zerreißen kann, gegangen, sagt er.

    Einen kleinen Umweg, ohne jedes Ziel, gibt es immerhin! schreibe ich. Den ging ich stets „so für mich hin und nichts zu suchen, das war mein Sinn". Es ist der Mittagsschlaf-Weg, das Wegsinken für kurze Zeit.

    Mal für Mal lag ich regungslos auf einer ebenen Fläche, unter dem Nacken ein kleines Polster. Die Beine parallel nebeneinander, mit nach oben ragenden Füßen und Zehen. Noch nenne ich alle Extremitäten mein eigen, die Hände mit den zehn Fingern, die Ohren, die Nase.

    Die Augen schloss ich wie tot.

    Nicht wie tot! Tote starren mit offenen Lidern in eine Ferne, wie an den verschiedensten Leichen zu beobachten ist, sagt er.

    Ich lag also auf dem Kreuz, schreibe ich, und verbot der Gehirnmasse zu denken. Sagte: „Denk nicht, Hirn! Es wird jetzt nichts gedacht. Nichts als reines Schweigen. Jetzt bei Gott sein, Gehirn –"

    Das ist Blasphemie! Wenn doch längst aus der Kirche ausgetreten wurde, und der Verstand nicht an Gott glauben kann, sagt er.

    Das Wegsinken klappte trotzdem immer nach kürzester Zeit, schreibe ich aufmüpfig. Im Anderswo erwachte ich dann von den Toten. Dort trieb ich mich herum, auf blühenden Wiesen, mit Männern, die sehr zart zu mir waren, oder es füllte sich Seite um Seite mit Geschriebenem, und lange Reden in einer unbekannten Sprache verstand ich mühelos. Auch nie gehörte Sinfonien komponierte ich in einem Atemzug. In jenem Jenseits, in der Tiefe des Mittagsschlafs (mindestens viertes Untergeschoß), war das Wesen dort aber nicht Ich, auch nicht fremd; es war etwas aus meiner Person Herausgeschältes, Lebendiges, Leichtes –

    das ebenso stumm und mausetot wie der Körper sein wird, wenn er endgültig erkaltet ist, sagt er.

    Unbeirrt schreibe ich: Der Mittagsschlafzustand ist ein völlig anderer als der Nachtschlaf. Die Siesta erquickte mich bis heute mehr als alles andere. Noch im Wegsinken bin ich bereits glücklicher, als ich im Wachsein je sein werde. Der Mittagsschlafzustand ist ein betretbares Paradies. Jeden Tag versuche ich erneut, diesen Umweg zu gehen. Ich probiere es im Liegestuhl eines Zahnarztes, in der Marterbank eines Hörsaals oder zurückgelehnt in den U-Bahnen der Großstädte. Oft versuchte ich es auch im Cellolager meines Musikhauses, am Boden auf einer grünen Arbeitsschürze liegend, inmitten der goldroten, duftenden, schweigenden Instrumenten-Herde.

    In Flugzeugen versuchtest du nie zu schlafen? fragt er.

    Im Fliegen genieße ich es, als schwerfälliger Mensch, ohne den kleinsten Ansatz von Flügeln durch die Luft zu schweben, schreibe ich. Den Kopf ans kleine Fenster gedrückt, lache ich laut, wenn ich auf dem Tragflügel lese: „Do not walk outside the area."

    Es schlägt dreiundzwanzig Uhr, sagt er.

    Die Zahl dreiundzwanzig, ich liebe sie. Sie ist die schönste unter den Zahlen, schreibe ich.

    Und die letzte Stunde, bevor der Tag zu Ende ist, sagt er.

    Ich bin des Schreibens müde, schreibe ich. Mein Knochengerüst hängt verkrümmt auf einem Stuhl. Ich gebe auf; lege mich nieder und: „Ich reite froh in alle Ferne, über meiner Mütze nur die Sterne." Ich weiß ja, wohin ich mit Bestimmtheit gehe, geübt durch unzählige Tauchgänge ins fünfte Untergeschoß, wie ich bin. Ich drifte weg vom nirgends hinführenden Denken – hinein in die Befreiung, nichts mehr überlegen zu müssen; ja, nicht einmal mehr MÜSSEN denken zu müssen.

    Er sagt: Die Krähen schreien. Der Mörder sticht. Das Opfer stöhnt.

    Allerdings, schreibe ich, allerdings lamentiert ein Opfer, das ständig schreiben muss.

    Er sagt: Tippfehler: schrei-en muss, nicht schreiben.

    Bis es tot ist? Ich lache schallend. Das könnte dir so passen! Du verwechselst mich mit deiner Krähe.

    Aber ich bin ein Mensch: Ich lache und tanze und singe! Auch wenn du mich erwischst und zu Boden wirfst, auch wenn ich – wie gesagt wurde – mit offenen Augen liege, dann lacht und tanzt und singt mein Geist noch lange wie ein Huhn ohne Kopf.

    Er sagt: Wer zuletzt lacht

    Ich schreibe: Du weißt gar nicht was das ist – lachen –;

    Er sagt, nichts. Ich schreibe: Gewonnen!

    Die Große Kunst

    Wir haben unseren Tisch verkauft oder verschenkt. Genau weiß ich das nicht mehr. Dabei liebe ich Tische, und ein Grund, nicht in der Mitte der Straße zu leben, ist: dann keinen Tisch mein eigen nennen zu können und kein Klo. Als wir uns so leichtfertig von unserem Tisch trennten, wusste ich noch nicht, wie wichtig das Möbel für mich ist. Erst der Verlust zeigte mir meine Tischsucht.

    Manchmal stelle ich mich in der Phantasie an einen Steintisch in einem Stehausschank; ich hänge mit den Unterarmen auf der kalten Platte, mit der Zeit erwärmt sie sich.

    Eines Vormittags sah ich, an einen Steintisch im Hauptbahnhof gelehnt, meinen besten Lehrer, den Professor; rotgesichtig, lallend, umwölkt von Alkoholgeruch. Warum sollte also nicht auch ich – vor einer undefinierbaren Angst oder Erinnerung flüchtend, dort vor Anker

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