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Komplizen des Glücks
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eBook415 Seiten5 Stunden

Komplizen des Glücks

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Über dieses E-Book

Die Geschichte der ungewöhnlichen Familie Wirring ist eine Hymne auf Freiheit, Aufbegehren und Anarchie.

Wie das berühmte gallische Dorf trotzt das alte Bauernhaus der Wirrings den umgebenden Beton-Wohnblöcken im Salzburger Land. Der bornierten Nachbarschaft ist es ein Dorn im Auge, der lustvollen Alltagsanarchie der vier Familienmitglieder bietet es jedoch ein verlässliches Zuhause: Claudia, Kämpferin für Umwelt und gesellschaftliche Erneuerung, Werner, ehemals Werbeguru, Lebensforscher, Großvater Peter, genannt Pete Wire, Rockmusiker, und Sohn Rolf, der versucht, sich auf all das einen Reim zu machen. Bis eines Tages ein sterbenskranker Mann in der Tür steht und behauptet, die uneheliche Frucht der Begegnung des Rock-Opas mit einer Kellnerin zu sein… Damit setzt er eine turbulente, drei Jahrzehnte umspannende Familienerzählung in Gang.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum27. Jan. 2015
ISBN9783701744978
Komplizen des Glücks

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    Buchvorschau

    Komplizen des Glücks - O.P. Zier

    METRO

    2005 – 1

    An einem frostigen Winternachmittag stand ein wildfremder Mann vor unserer Haustür und behauptete, mein Onkel zu sein.

    Das heißt, zuerst sagte er lange gar nichts, bevor er so verzagt, mit sich kaum bewegenden Lippen murmelte, dass ich große Mühe hatte, seine Worte zu verstehen: »Die Mutti lebt nicht mehr …«

    Nach einer mehrtägigen Tauwetterphase war es hier bei uns im Salzburger Gebirge wieder schneidend kalt geworden, und schon seit Stunden schneite es in feinen Flocken. Doch der Fremde mit dem altertümlich aussehenden Koffer in der Hand, den er nicht abstellte, als wäre er es gewohnt, ohnehin sofort an der Tür abgewiesen zu werden, trug einen für diese Witterung viel zu dünnen marineblauen Staubmantel, eine leichte, hellgraue Sommerhose, ausgetretene Halbschuhe und weder Kopfbedeckung noch Handschuhe. Auf seinem schütteren, dünnen, fettig wirkenden Haar und seinen Schultern sammelten sich die harten Kristalle der Schneeflocken, die kaum größer waren als Schuppen.

    Der Teint des Fremden wirkte ungesund; die blasse, rot gefleckte Gesichtshaut war trotz der Kälte von einem dünnen Schweißfilm überzogen.

    Natürlich suchte ich in den Gesichtszügen des Unbekannten sofort nach Ähnlichkeiten mit meinem Opa, kaum dass der Mann die ungeheuerliche Behauptung ausgesprochen hatte, dass Pete Wire sein Vater sei. Und unerwartet schnell erinnerte mich der Anblick des Gesichtes dieses Fremden tatsächlich an meinen Großvater.

    Ins Haus bat ich ihn allerdings erst, nachdem er beiläufig erwähnt hatte, auf der Durchreise zu sein.

    Als er mir auf meine Einladung hin seine knochige kalte Hand reichte, fühlte auch sie sich feucht an. Beim Drücken der roten, verfrorenen Finger überkam mich einen Moment lang die Vorstellung, ein dem Tiefkühlschrank entnommenes und nur angetautes, rohes Kotelett angefasst zu haben.

    Als ich den Fremden so verdattert vor mir stehen und kein Wort herausbringen gesehen hatte, hatte ich zuallererst natürlich daran gedacht, dass er – wie manch anderer Gestrauchelter vor ihm – in eine der Wohnungen in unserer Straße eingewiesen worden war, die vom Sozialamt vergeben wurden, und sich bloß in der Hausnummer geirrt habe oder sich von mir Hilfe beim Auffinden des entsprechenden Wohnblocks erhoffte.

    Ich hatte doch keine Erfahrung mit Onkeln oder Tanten, so sehr ich mir in meiner Kindheit gelegentlich auch welche gewünscht hatte, vor allem dann, wenn Schulfreunde von der Freigiebigkeit ihrer kinderlosen Tanten geschwärmt hatten, die noch dazu meist darauf spezialisiert zu sein schienen, haargenau all jene Wünsche zu erhören, zu deren Erfüllung sich die Eltern niemals bereitgefunden hätten. Nein, die Wirrings waren eine Familie der Einzelkinder. So wenig, wie meine Eltern Erfahrungen mit Geschwistern hatten, hatte ich, das Einzelkind von zwei Einzelkindern, Erfahrungen mit Onkeln. Und schon gar nicht mit solchen, die dermaßen überraschend aus dem Nichts eines stürmischen Wintertages auftauchten!

    Mit seinem fahlen Gesicht und der für die Jahreszeit nicht nur völlig unpassenden, sondern überdies längst aus der Mode gekommenen Kleidung hätte man den Fremden durchaus für einen gerade entlassenen Häftling halten können, für den seine Bewährungshelferin in den Plattenbauten unserer Nachbarschaft eine Bleibe gefunden hatte.

    Grundiert mit Sozialkitsch, hätte sich folgende Geschichte ergeben: An einem Sommertag eingesperrt und jahrelang hinter Gittern gewesen, trage er jetzt die Kleidung von damals – weil er keinen Menschen mehr habe, der ihm wärmere Sachen ins Gefängnis bringen könnte.

    Es schien mir, als habe der Mann, der sich als mein Onkel ausgab und behauptete, ein unehelicher Sohn meines Großvaters und damit der Halbbruder meiner Mutter zu sein, die bislang davon ausgegangen war, keine Geschwister zu haben, mit einem einzigen riesigen Schritt einige Jahrzehnte übersprungen. Er wirkte auf mich tatsächlich so desorientiert, als irre er nach sehr langer Haft durch eine ihm sehr fremd gewordene Welt. Erst später sollte ich kapieren, dass der Eindruck von Desorientierung auf die starken Medikamente zurückzuführen war, die der neue Onkel schluckte.

    Ich hatte den Fremden also ins Haus gebeten – und nun saß er so verloren in unserer Wohnküche hinter dem großen runden Tisch, als sei er ohne sein Zutun von einer Flutwelle als willenloses Treibgut hier an Land gespült worden. Ein ziemlich falscher Eindruck, wie sich später herausstellen sollte, war es für ihn doch alles andere als einfach gewesen, unser Haus ausfindig zu machen. Eigentlich war es ihm überhaupt erst dank der Suchmaschinen des Internet gelungen. Jedenfalls saß er jetzt reglos da und wartete darauf, dass ich den gewünschten Tee zubereitete. Bier dürfe er leider wegen der Medikamente »und auch sonst« keines mehr trinken.

    »Aber zumindest eine kleine Jause zur Stärkung?«

    »Etwas später vielleicht, danke.« Er habe ja kaum noch Appetit in letzter Zeit, fügte er mehr zu sich selbst sprechend hinzu.

    Es hatte mich vorhin berührt zu beobachten, welche Anstrengung ihm die wenigen langsamen Schritte ins Haus bereitet hatten. Vom Bahnhof habe er ein Taxi genommen, bemerkte er auf meinen wohl deutlich besorgten Blick. Dann sei er aber irgendeiner blöden Scheu wegen noch über fünfzehn Minuten draußen in der Kälte gestanden, bevor er sich überwunden und geläutet habe.

    Selbst nachdem er seinen altmodischen Koffer im Vorhaus abgestellt hatte, atmete er noch durch den leicht geöffneten Mund, um genügend Luft zu bekommen.

    Es fiel mir schwer, das Alter des Mannes zu schätzen, weil sein offenkundig angeschlagener Gesundheitszustand nahelegte, dass er wohl um einiges jünger war, als er wirkte. Andererseits ließ einen womöglich gerade dieser Umstand sein tatsächliches Alter unterschätzen. Am Ende meines Rätselns verband ich mit meinem neuen Onkel eine merkwürdige Art von Alterslosigkeit.

    Ich war froh, mich in unserer Wohnküche mit der Zubereitung des Tees beschäft igen zu können (auch wenn ich dabei seine Blicke im Rücken spürte), da ich plötzlich von einer eigentümlichen Scheu erfasst wurde, mich zu dem unbekannten Verwandten an den Tisch zu setzen, dessen Behauptung vorhin an der Haustür so ungeheuerlich gewesen war, dass ich mir sagte, dass sie allein deshalb schon nicht erfunden sein konnte. Erbschleicherei schien mir wegen seines schlechten Gesundheitszustandes fast absurd zu sein. Höchstens wenn er selber Nachkommenschaft hätte, die zu versorgen wäre. Oder ihn gar losgeschickt hätte. Aber eine derartige Lüge hätte doch nur so lange Bestand, bis Opa einen Bluttest machen lassen würde.

    Ich schob all diese müßigen Überlegungen beiseite. Sie kämen wohl jedem Menschen in meiner Situation, wenn er mit knapp fünfundzwanzig Jahren von einer Minute auf die andere in einem bedauernswerten menschlichen Wrack einen der gesamten Familie bislang unbekannt gewesenen Onkel vorgestellt bekäme!

    Ich hatte meinem neuen Blutsverwandten immer noch den Rücken zugewandt, als ich ihn leise sagen hörte, wie gut es ihm tue, jetzt endlich tatsächlich hier zu sitzen. »Daheim.« Zu schade nur, dass es ihm gesundheitlich nicht besser gehe.

    Auch wenn die Gelegenheit dafür jetzt ideal gewesen wäre, brachte ich es nicht über die Lippen, nachzufragen, an welcher Krankheit er leide.

    Ich hatte an meiner Dissertation zu arbeiten und war darauf eingestellt gewesen, an diesem Tag bis zum späteren Abend allein im Haus zu sein. Irgendwann würde Mama heimkommen, die am Vortag in Wien an einer Großdemo gegen die Schwarz-Blaue Regierung teilgenommen hatte. Papas Rückkehr stand noch nicht fest. Er war in den Bregenzer Wald zum Begräbnis eines aus Vorarlberg stammenden früheren engen Mitarbeiters seiner Wiener Werbeagentur gefahren, der in seiner Heimat tödlich verunglückt war. Nachdem die gesamte Firmenbelegschaft auf einer Skihütte einen Großauftrag gefeiert hatte, an dessen Erlangung dieser Mitarbeiter maßgeblich beteiligt und wofür er zum kaufmännischen Leiter der Agentur befördert worden war, war der gute Schifahrer nicht wie seine Kolleginnen und Kollegen mit Schlitten ins Tal gerodelt, sondern hatte sich, ungeachtet des reichlichen Alkoholkonsums, für die Schipiste entschieden. Trotz leuchtstarker Stirnlampe war er bei dieser nächtlichen Abfahrt gegen eine abgestellte Pistenwalze geprallt und noch an der Unfallstelle verstorben, da seine betrunkenen Kolleginnen und Kollegen für ihre Rodelpartie sehr lange gebraucht hatten und dadurch Suchtrupp und Rettung viel zu spät informiert worden waren, um dem Schwerverletzten noch helfen zu können. Die Eltern des ledigen, kinderlosen Mannes arrangierten das Begräbnis im Heimatort des Verunglückten, obwohl er nur bis zur Matura dort und seither in Wien gelebt hatte.

    Opas Heimkehr wiederum war noch völlig offen, da er seit Längerem in München wieder einmal einen größeren Studiojob bekommen hatte, bei dem noch nicht klar war, wie lange die Aufnahmen tatsächlich dauern würden. Überdies stand noch ein möglicher Folgeauftrag für einen anderen Produzenten im Raum. Ein Zahnarzt, hatte Großvater grinsend erzählt, der etwas Schwarzgeld loswerden wolle. Opa, der inzwischen von der Verwertungsgesellschaft eine kleinere Pension bezog und bei uns seinen Hauptwohnsitz angemeldet hatte, hatte gemeint, dass seine Studiogigs zwar immer seltener eintrudelten, aber ganz aussterben würde der Bedarf an Aufnahmen seiner dreckigen Gitarreriffs wohl nie. Obwohl sie heutzutage einfach gestohlen würden, wenn wieder irgendein DJ aus lauter geklauten Teilen eine gesampelte Nummer zusammenstopple.

    Nie hätte ich mir auch nur träumen lassen, dass diese so waidwund und zugleich doch auch zufrieden am Tisch kauernde Gestalt für mich zum Auslöser werden würde, endlich die Geschichte meiner Kindheit und frühen Jugend in meiner Familie, den Wirrings, zu erzählen, zu der ich schon seit meinem vierzehnten Lebensjahr, meinem jeweiligen Schreibvermögen entsprechend, in unterschiedlichster stilistischer Ausformung Notizen und Szenenentwürfe sonder Zahl angesammelt, die Ausführung der Arbeit an diesem Roman jedoch Jahr für Jahr hinausgeschoben hatte.

    Nunmehr mutete es geradezu so an, als hätte ich – ohne von seiner Existenz natürlich auch nur das Geringste ahnen zu können – intuitiv auf das Eintreffen des letzten noch ausständigen Familienmitgliedes gewartet!

    Tatsächlich hatte ich die intensive Schreibarbeit nicht zuletzt deswegen immer wieder aufgeschoben, weil ich nach einem ebenso unbekümmerten wie rauschhaft-rasanten Start als Vierzehnjähriger mich später die längste Zeit allein mit der Beantwortung der Frage herumgeschlagen hatte, ob ich mich um eine streng chronologische Abfolge der Geschichte meines Aufwachsens bemühen oder mir das menschliche Gedächtnis zum Vorbild nehmen sollte, in dem Ereignisse aus ganz unterschiedlichen Zeiträumen nacheinander aufblitzen können. Ob also die disziplinierte Ordnung einer Chronologie dem kreativen Chaos der so verschiedenartigen Persönlichkeiten meines nicht gerade konventionellen Familienverbandes entgegenzusetzen wäre oder eine genau dieser Unangepasstheit entsprechende Form gewählt werden sollte, ob also ein mehr oder minder ungezwungenes Herumspringen in den Szenenfolgen meiner Kindheit und Jugend allein schon von den ausgeprägten Charakteren meiner familiären Umgebung nachgerade eingefordert würde – ganz so, als leerte jemand eine Schachtel mit in Jahrzehnten entstandenen Schnappschüssen ungeordnet auf den Tisch, damit Foto für Foto literarisch zum Leben erweckt und danach alle zusammen in eine Art Kaleidoskop eingefügt und insgesamt einen Roman ergeben würden.

    Das Auftauchen des geheimnisvollen Fremden an diesem Wintertag war jedenfalls der Auslöser für meinen Entschluss, nach Fertigstellung meiner germanistischen Dissertation »Aufklärung, Widerstand, Witz. Intellektuelle Opposition in der österreichischen Literatur« so bald wie möglich mit der Ausarbeitung der Geschichte meines Aufwachsens in der Familie Wirring anzufangen, auch wenn der tatsächliche Beginn sich dann aus verschiedenen Gründen noch geraume Zeit verzögern sollte.

    1

    Bis zu meinem vierten Lebensjahr wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine geliebte Mama außerhalb unserer vier Wände jemals anders anzutreffen als mit massiven Ketten und wuchtigen Vorhängeschlössern an einen mächtigen Baumstamm, eine riesige Baumaschine oder an die hohen Stäbe des Tors einer Fabrikeinfahrt gefesselt.

    Stets war meine Mutter dabei umringt von einer aufgebrachten Menge aus Anhängern und Gegnern der vor Widerstandsgeist sprühenden, furchtlosen Aktivistin. Alle zusammen wurden in Schach gehalten von einer rasch anwachsenden Schar Polizisten, deren Einsatzleiter sich via Funk mit der Zentrale über die weitere Vorgangsweise beriet, während die Fahrzeuge der Exekutive mit laufenden Blaulichtern, eingeschalteten Scheinwerfern und weit geöffneten Türen kreuz und quer herumstanden und der Szenerie, die sich häufig einer Massenhysterie zu nähern drohte, vor allem in der hereinbrechenden herbstlichen Dämmerung zu einer kaum steigerbaren Dramatik verhalfen.

    Für mich, den kleinen Rolfi, war es damals völlig normal gewesen, gerade noch im Kindergarten mit Bauklötzen gespielt oder unter Anleitung von Tante Burgi fröhliche Lieder geträllert zu haben, um mir kurze Zeit später an der Hand meines Papas oder auf seinem Arm durch die Menschenmenge einen Weg zu meiner Mama zu bahnen. Der kühnen Kämpferin für Umwelt und Bürgerrechte sollte im Winter aus der Thermosflasche wärmender Tee und im Sommer ein kühlendes Getränk verabreicht werden, das der etwa eng an die rissige Rinde eines schützenswerten Baumjuwels Angeketteten von meinem Vater mit einer roten Kunststoffschnabeltasse eingeflößt wurde, nachdem er ihr mit rührender Fürsorglichkeit die wilden Locken ihres verschwitzten, tiefschwarzen (oder gerade hennarot gefärbten) Haares aus dem Gesicht gestrichen, die je nach Jahreszeit erhitzte oder eiskalte Haut mit einem Taschentuch zärtlich trocken gewischt und die von ihr überhaupt nicht beachteten Schürfwunden liebevoll versorgt hatte.

    Sogar in diesem wüsten Durcheinander, dessen Zentrum sie bildete, fand meine Mama ein paar aufmunternde Worte und liebevolle Blicke für ihren kleinen Sohn, der sich während ihrer Labung verängstigt an ihr Hosenbein drängte und dem es mit zunehmendem Alter angesichts der inzwischen als eindeutig bedrohlich empfundenen Vorgänge immer schwerer fiel, seine Tränen zurückzuhalten. Immer öfter ließ ich diese, ohne einen Laut von mir zu geben, einfach über meine Wangen rinnen, da meine peinliche Unbeherrschtheit in der ganzen Aufregung ohnehin unbemerkt blieb, und wischte sie zwischendurch – zusammen mit dem Rotz, der aus meiner Nase kam – beiläufig an Mamas Hosenbein ab.

    Da mein Vater und ich in der Regel direkt vom Kindergarten zum jeweiligen Ort des Geschehens aufzubrechen pflegten, trug ich meist noch meine von Mama auf der einen Seite mit dem selbst entworfenen EWIG-LEBE-ROSA-LUXEMBURGSticker und auf der anderen mit einem Che-Guevara-Aufkleber verzierte Kindergartentasche. Darin befand sich neben den Resten von Fruchtschnitten und Müsliriegeln als Hilfe bei außerordentlichen emotionalen Bedrängnissen auch mein sogenannter Notfallschnuller, den ich mir im Schutz von Mamas Hosenbein in den Mund schob, um heftig daran zu nuckeln.

    Mein Vater erblickte in jedem einzelnen Regentropfen einen persönlichen Todfeind, der es im Zusammenwirken mit heimtückischen Bazillen und Viren, die uns ihrerseits mittels Tröpfchenübertragung zu attackieren pflegten, auf die Zerrüttung unserer Gesundheit abgesehen habe. Und so spannte er bei den ersten Anzeichen eines harmlosen Nieselregens sofort einen riesigen Schirm über unseren Köpfen auf, den ich, auf seinem Arm sitzend, fest umklammerte und mit dem wir aus der Ferne ausgesehen haben mussten wie eine wandelnde Schirmbar.

    Schirmbars als Anziehungspunkte für witterungsunabhängige Freiluftbesäufnisse waren damals von der Tourismusgastronomie unserer Gegend gerade als Wunderwaffe im Kampf um mehr Umsatz entdeckt worden. Da die direkt von der Piste kommenden Schifahrer praktischerweise durch ihre stabilen Plastikschischuh-Ungetüme daran gehindert wurden, nach schnellem Genuss von Hochprozentigem – dem zuvor auf einer Schihütte bereits der reichliche Konsum von ebenso Hochprozentigem vorangegangen war – allzu früh seitlich oder nach hinten wegzukippen, lehnten längst volltrunkene Gestalten noch profitabel lange aufrecht an den hohen Stehtischchen – und jeder kleinste Rülpser wurde als neue Bestellung gewertet …

    Heute grenzt es für mich fast an ein Wunder, dass Papa und mir von angeheiterten Schaulustigen, die regelmäßig von dem volksfestartigen Spektakel rund um eine Protestaktion meiner Mutter (und ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter) angezogen worden waren wie rüstige Senioren von der Magie einer Großbaustelle, nicht schon von Weitem Getränkebestellungen zugelallt wurden, sobald unsere vermeintliche mobile Schirmbar in ihrem getrübten Blickfeld aufgetaucht war!

    An einem nebligen späten Novembernachmittag schließlich waren wir auf dem Rückweg zu unserem Auto und blieben stehen, weil Papa zum Schutz vor dem gerade einsetzenden Herbstregen unseren großen Schirm aufspannte. Er setzte mich auf seinen Arm und ich umklammerte wie gewohnt mit beiden Händen den Griff unseres Schutzdaches, während wir zurückblickten zu der von den Scheinwerfern des Lokalfernsehens gespenstisch, weil schattenreich erhellten Szene vor einem Firmengelände im Pinzgau.

    Mama musste uns längst außer Hörweite geglaubt haben, als wir plötzlich überdeutlich ihre gellende Stimme vernahmen und sie sich wie besessen die Kehle heiser zu brüllen begann.

    Ein leichter Wind trug ihre wüsten Anklagen und Beschimpfungen all der KORRUPTEN SCHWEINE an unsere Ohren, während Exekutivbeamte zusammen mit Fachleuten damit beschäftigt waren, meine Mutter von den Gitterstäben des großen Tores loszuketten, um sie danach vorübergehend in staatlichen Gewahrsam zu nehmen.

    Obwohl ich inhaltlich nichts von dem begriff, was Mama da in die Nacht schrie, hörte es sich in meinen Kinderohren so furchtbar verzweifelt an, dass mich augenblicklich eine Gänsehaut überlief und ich von einem nervenzusammenbruchartigen Weinkrampf überwältigt wurde. Am ganzen Körper bebend, vermochte ich mich ungeachtet der begütigenden Worte meines Vaters lange Zeit nicht zu beruhigen. Und als Mama am Abend nicht nach Hause kam, lag ich schluchzend wach, und Papas Versuche, ihrem Fortbleiben wie immer harmlose Gründe wie die Feier mit Freunden anlässlich der gelungenen Aktion zu unterschieben, blieben dieses Mal völlig wirkungslos.

    Auch wenn ich nichts von Mamas Gebrüll kapiert hatte, gingen mir doch einige ihrer so emotional vorgebrachten und oftmals wiederholten Anklagen im Kopf herum: Beamte … Bezirkshauptmannschaft … Großumweltsünder … hunderttausende Liter Altöl … über Jahre hinweg … vor den Augen der Behörde … Normalbürger … schreiendes Unrecht! Immer wieder: SCHREIENDES UNRECHT!

    Wenn ich in meinen Kinderjahren an den Vorfall dachte und mir erneut die Tränen zu kommen drohten, konnte ich sie nur dadurch zurückhalten, dass ich den Satzfetzen vom »schreienden Unrecht« mit Mamas Geschrei verband. Wenn es um schreiendes Unrecht ginge, sagte ich mir, dann müsse es natürlich so herausgeschrien werden, wie Mama es getan hatte. Diese mir sehr plausibel erscheinende Erklärung ließ nach und nach das Bedrohliche der Szene in den Hintergrund treten. Damals hatte ich angefangen, mit Worten und Sätzen in meinem Kopf zu spielen wie mit handfesten Spielsachen auf dem Küchenboden.

    Am Tag dieses Erlebnisses allerdings war ich erfüllt vom Gefühl einer übermächtigen Katastrophe, der unsere kleine Familie so hilflos gegenüberstünde wie Papa und ich im Regen unter dem riesigen Schirm der gespenstischen Szenerie vor dem Fabrikgelände, als Mamas verzweifeltes Gebrüll zu uns herüberdrang und uns viel zu lange davon abhielt, endlich ins Auto zu steigen und heimzufahren …

    Obwohl – oder gerade weil! – das alles schon Jahrzehnte zurückliegt, bin ich heute fest davon überzeugt, dass kein Vierjähriger einen Elternteil so verzweifelt schreien hören sollte, wie ich meine Mutter damals in der Nähe von Zell am See brüllen gehört habe, weil dieses Kind den Eindruck der Hilf- und Schutzlosigkeit genau jener Person, von der es sich zuvor doch immer so wunderbar behütet wissen durfte, vermutlich sein ganzes Leben nicht mehr loswerden und sich diese Empfindung noch viel zu oft in seine Entscheidungen einmischen würde. Erst recht in meinem Fall, weil in unserer Familie das Gefühl des Beschütztwerdens eindeutig von meiner Mama ausging, wurde doch mein Papa schon von kleinsten Irritationen, wie sie ein durchschnittliches Alltagsleben für eine Familie ständig bereithält, an den Rand eines psychischen oder physischen Zusammenbruches getrieben.

    Schon in frühester Kindheit erlebte ich meinen Papa nämlich nicht selten wie eine jener Zeichentrickfiguren, die auf einen tödlichen Abgrund zulaufen, um im allerletzten Moment inmitten einer Staubwolke doch noch zum Stehen zu kommen – mit dem kleinen Unterschied, dass bei den Zeichentrickfiguren niemals zu befürchten war, dass ihnen ein tatsächlicher Sturz in den Abgrund erkennbaren Schaden zufügen würde. Mein Vater hingegen wirkte schon in der Nähe eines vermeintlichen Abgrunds so, als sei er längst dabei, ins Bodenlose zu fallen.

    Heute denke ich bei alldem, was ich damals miterlebte, wenn wir zu einer von Mamas Aktionen gefahren waren, auch ganz allgemein an die Tragik eines Menschen, der in seinem verzweifelten Kampf für das – sehr oft keineswegs nur von ihm allein! – als richtig Empfundene dennoch als Einziger bereit ist, ein Höchstmaß an Nachteilen aller Art, an Demütigungen und Niederlagen einzustecken. Angetrieben vielleicht wirklich von dieser Ur-Energie, die nicht nur politische Widerständler, sondern auch Märtyrer ins eigene Verderben führt, was sie für Nachkommende zwar in den Zustand der Anbetungswürdigkeit versetzt, unbeteiligten zeitgenössischen Zeugen hingegen bleiben oftmals in erster Linie die Entwürdigungen in Erinnerung, die so ein heldenmütiges Verhalten zeitigt. Entwürdigungen, welche die Mitwelt vor einem ähnlichen Verhalten zurückschrecken lassen, zumal ihnen die Niederlagen dieser Wenigen auf viele Arten nahe gebracht werden. Denn es ist nur eine von zahlreichen Gemeinheiten, denen Widerständige sich ausgesetzt sehen, dass sie von der Übermacht, gegen die sie anzutreten wagten, zwangsläufig auch noch als Unterlegene ausgestellt werden, da ihre Gegner in der Regel auch über die hiefür nötigen medialen Schaufenster verfügen.

    Wenn ich in meinem späteren Leben immer wieder den Wunsch nach Unauffälligkeit oder sogar Angepasstheit verspüren sollte, so dürfte es wohl nicht zu weit hergeholt sein, dies mit jenen Erlebnissen meiner frühen Kindheit in Verbindung zu bringen.

    Nun, Papa versuchte an dem besagten Abend jedenfalls vergeblich, mich zu beruhigen. Fortan wurde ich nicht mehr zu solchen Aktionen mitgenommen. Ab diesem Tag durfte ich nach dem Kindergarten öfter noch zu meiner um ein halbes Jahr älteren Spielkameradin Rosi nach Hause, in deren sommersprossenübersätes rundes Gesicht ich damals wirklich verliebt war, nachdem sich das ungestüme Mädchen, das immer wieder von Tante Burgi ermahnt werden musste, sein Temperament zu zügeln, mit großer Entschlossenheit ausgerechnet für mich, den zurückhaltenden Neuankömmling und Beobachter des Geschehens in der Gruppe, als wichtigsten Spielkameraden entschieden hatte und ab da nicht mehr von meiner Seite wich.

    Papa brachte Rosi und mich an solchen Tagen nach dem Kindergarten zu Rosis Mutter und ich durfte dann auch im Kinderzimmer mit dem eindrucksvoll großen Christus an der Wand übernachten. Rosis Vater habe ich in der geräumigen Wohnung nie zu Gesicht bekommen, da er als Techniker einer Metallbaufirma immer wieder monatelang im Ausland auf Montage war.

    Sofort begeisterten mich die mir bislang gänzlich unbekannten Traditionen wie das Abendgebet, auf deren Einhaltung Rosis streng und ernst wirkende Mutter, die ich kein einziges Mal so lauthals lachend erlebte, wie es bei meiner Mama mehrmals täglich zu beobachten war, sehr großen Wert legte. Die hagere Frau, die immer nur hochgeschlossene Kleidung trug, brachte ihre Tochter und mich auch stets zur exakt selben Zeit ins Bett und kannte keinen Pardon, wenn Rosi, trotzig auf den Boden stampfend und sich dem Zugriffihrer Mutter entwindend, zumindest einen kleinen Aufschub erzwingen wollte.

    Ich gestehe, dass ich diese und andere unumstößliche Regeln – angefangen vom peniblen Wasch- und Zähneputzritual im Badezimmer bis zu dem nach dem Dankgebet schweigend und still sitzend einzunehmenden Abendessen – unter der Aufsicht von Rosis Mutter, im Gegensatz zu meiner bockigwiderspenstigen Kindergartenfreundin, mit großem Behagen befolgte. (Während ich davon berichte, bin ich mir sicher: Hätte ich meiner Mutter damals solche Details gestanden, hätte sie einen Lachanfall bekommen und mir versprochen, dass sie sich für mich um einen Platz in einem Sado-Maso-Kindergarten umsehen werde, wenn mir Unterordnung schon so große Lustgefühle bereite.)

    Wie langweilig kam es mir dagegen bei uns daheim vor, wo man am Tisch lümmeln oder sich mit der Mahlzeit auch auf den Fußboden legen durfte, wenn einem grad danach zumute war – von einem Sprechverbot während der Mahlzeiten natürlich ganz zu schweigen!

    Ich genoss die bedingungslose Unterordnung unter dieses strenge Reglement, dem Rosi sich in einem fort zu widersetzen versuchte, wie ich auch das Gebet, das ich in diesem Haushalt überhaupt erst kennengelernt hatte, mit allergrößter und aufrichtigster Inbrunst aufsagte, während es die gewitzte Rosi nur gelangweilt und zerstreut herunterleierte.

    Mit Freude wäre ich bereit gewesen, die Strophen noch drei Mal zu wiederholen und in der Intensität meines Vortrages dennoch kein bisschen nachzulassen!

    Heute ist mir natürlich bewusst, welche Herausforderung es für die streng religiöse Frau bedeutet haben musste, diesen nach außen hin so unscheinbaren, stillen, kleinen Heiden – Sohn der allseits berüchtigten, aufrührerischen Claudia Wirring und ihres vielleicht etwas verrückten Ehemanns Werner – zu missionieren und erstmals ein klein wenig in das Mysterium des Katholizismus einzuführen. Und der wohlwollende Blick, den sie mir schenkte, wenn sie mir nach dem Beten und vor dem Lichtabdrehen in Rosis Zimmer einmal mit ihren kühlen knochigen Fingern über die Wange strich, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie mit mir ganz zufrieden war. Mehr noch: Ich fühlte mich von der strengen Frau wirklich ins Herz geschlossen. Das zeigte sie mir nicht zuletzt auch dadurch, dass sie mir sagte, wie schön es für mich werden würde, wenn ich einst beim Gottesdienst in der Kirche ministrieren dürfe. Da ich noch nie in meinem Leben einen Gottesdienst erlebt hatte, konnte ich mir gar nichts darunter vorstellen, aber ich freute mich bereits sehr darauf. Als ich meiner Mama begeistert davon erzählte, lachte sie zuerst zwar laut auf, sagte dann aber: »Ja, das wird schön werden, Rolfi. Sehr schön!«

    Wäre Rosi nicht ein halbes Jahr älter gewesen als ich, hätte man meinen können, wir wären nach unserer Geburt im Krankenhaus Schwarzach vertauscht worden: Ich schien doch so viel mehr von Rosis Mutter und Rosi in ihrem Verhalten schier alles von meiner wilden Mama geerbt zu haben!

    Und ständig wollte Rosi irgendetwas mit mir tauschen. Alles, was ich besaß, schien auf das Mädchen eine enorme Anziehungskraft auszuüben. Wie sehr hatte es ihr allein mein Che-Guevara-T-Shirt angetan – aber es war ihr klar, dass ich kaum mit ihrer Rüschchenbluse herumlaufen könnte, obwohl es mir, ehrlich gesagt, nichts ausgemacht hätte.

    Als sie mir die bunten Heiligenbildchen anbot, die sie in großer Zahl besaß, erbat ich von meiner Mama auch solche Bildchen. Daraufhin wanderten Rosis christliche Märtyrer, Jesus Christus und die Mutter Gottes im Tausch gegen Abbildungen von Bakunin, Marx, Rudi Dutschke und Rosa Luxemburg von einer Kindergartentasche in die andere.

    In den ersten paar Jahren meines Lebens war also meine Mutter für mich vor allem der Mittelpunkt von spektakulären Tumulten in der Öffentlichkeit gewesen und die Erinnerung daran überstrahlt jene an ihre häusliche Präsenz eindeutig. Auch wenn ich mich gerne der Sonntage entsinne, an denen ich sofort nach dem Aufwachen zu meinen Eltern ins Schlafzimmer stürmte und die Matratze ihres großen französischen Bettes als Trampolin benutzte. Ich hüpfte so lange ausgelassen auf und ab, bis ich völlig außer Atem war und mit hochrotem Kopf zwischen den schlaftrunkenen Erwachsenen liegen blieb. Ich wurde zugedeckt und wir schliefen alle drei noch einmal ein. In diesem Alter hatte ich noch keine Ahnung davon, dass Rosi währenddessen längst widerstrebend an der Hand ihrer Mutter den Gottesdienst besucht hatte.

    Auf alle Fälle sind meine Erinnerungen, die Mama zu dieser Zeit in unserer häuslichen Umgebung zeigen, reichlich blass. Obwohl die Vermutung doch ein wenig zu weit ging, die ich später bei Mamas Geburtstagsfeier im Kreis ihrer engsten Freundinnen geäußert hatte, dass ich als Kindergartenkind meine Mutter in der Harmlosigkeit unserer vier Wände schlichtweg einfach nicht wiedererkannt beziehungsweise für eine hausfremde Person gehalten hätte. »Wie hätte ich sie denn erkennen sollen, frage ich euch, so frei von Ketten, Vorhängeschlössern, Polizei und nicht angestrahlt vom grellen Licht der Fernsehscheinwerfer!«, rief ich den lachenden Frauen zu.

    Nein, es ist unzweifelhaft meine Mama, die ich vor mir sehe, wenn ich ans Badezimmer denke, wo mir von einer resoluten Hand mit dem großen griechischen Naturschwamm der Staub eines Sommertages abgewaschen wurde; auch in der Küche vermochte ich die Frau am Herd sehr wohl als enges Familienmitglied zu identifizieren …

    Apropos Küche: In meinem ersten Kindergartenjahr war ich davon überzeugt, dass es sich bei den Frankfurter Würstchen, die Papa für uns beide immer dann mit großer Spitzenkoch-Geste aus dem kochenden Wasser fischte, wenn Mama gerade wieder irgendwo wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in einen ländlichen Gemeindekotter geworfen worden war oder auswärts demonstrierte, um den Höhepunkt abendländischer kulinarischer Raffinesse handle! Und jedes Mal bewunderte ich meinen Vater aufs Neue, wenn ihm, der sich für diese Tätigkeit nicht nur eine weiße Schürze umgebunden, sondern eine beeindruckend hohe, blendend weiße Küchenchefmütze aufgesetzt hatte, auch die Krönung der Zubereitung dieser Spezialität gelang, die, wie er mir wortreich auseinandergesetzt hatte, darin bestand, dass die pralle Haut dieser Würstchen so wunderschön aufplatzte. Was mein Papa doch tatsächlich jedes Mal zuwege brachte! Immer wieder wartete ich gespannt darauf, wer in diesem Wettstreit um ein vollendetes Gericht siegen würde: das Würstchen, das sich hartnäckig gegen das Aufplatzen wehrte – oder doch die grandiose Kunst des Küchenchefs mit seiner ehrfurchtgebietenden Mütze!

    Wenn Papa wieder einmal den Sieg errungen hatte, saßen wir beide andächtig am großen runden Tisch und genossen zuerst den Blick auf das Innere dieser herrlichen Speise, ehe wir sie mit Senf und Brot verzehrten.

    Papa nahm auch etwas frisch geriebenen Kren dazu, der mir, als ich einmal ein wenig davon kostete, sofort die Tränen in die Augen trieb, worauf Papa mich auf die erlesene Eigenschaft aufmerksam machte, welche diese weißen Raspeln mit der Zwiebel gemeinsam hatten: Tränen laufen zu lassen, ohne einen anderen Grund zu haben als eine angeschnittene Zwiebel oder frisch geraspelten Kren – war es nicht wunderbar, wozu die Natur aufgelegt war, die uns sonst nur aus Schmerz oder Freude weinen ließ? Ich sollte doch nur einmal versuchen, einfach draufloszuweinen. Natürlich probierte ich es sofort – ohne den geringsten Erfolg!

    Papas Vorschlag, einen Wettkampf zu veranstalten, bei wem von uns beiden die Tränen früher fließen würden, verleitete mich dazu, einen Teelöffel voll Kren in den Mund zu schieben und so viel wie möglich davon zu schlucken, worauf ich binnen Sekunden den Eindruck hatte, von der Schärfe in alle meine Einzelteile zerlegt zu werden. Ich sprang kreischend vom Tisch auf, spuckte die noch nicht geschluckten Raspeln aus und wälzte mich tränenüberströmt auf dem Fußboden – ohne mich auch nur eine Sekunde daran erfreuen zu können, als eindeutiger Sieger aus unserem Wettstreit hervorgegangen zu sein!

    Als ich mich wieder besser fühlte, beugte Papa sich über mich, um mir aufzuhelfen. Dabei meinte er auf seine mir in diesem Alter nicht wirklich begreifliche Art, dass ein Sieg nicht jedes Mal das wäre, was man im Leben vorzuziehen hätte, wenn sich einem auch die Möglichkeit einer frei gewählten Niederlage biete. »Manche bewusst eingesteckte Niederlage kann sich später als die erheblich klügere Entscheidung herausstellen. Gelegentlich gerät sie sogar in die Nähe dessen, was man Weisheit zu nennen versucht ist!« Allerdings verfügten nur wenige Menschen über den nötigen Weitblick, um die Folgen ihres Verhaltens im Vorhinein schon so treffend abschätzen zu können. So viel begriff ich auch damals schon: Irgendwie gehörte mein Papa zu diesen Wenigen. Was wäre auch plausibler bei einem Menschen, der aus jedem Wettkampf mit einer Wursthaut verlässlich als Sieger hervorging!

    So ungefähr könnte ich das damals gesehen haben, hatte aber natürlich nicht länger über seine unverständlichen Worte nachgedacht, die er womöglich mehr zu sich selbst als zu seinem kleinen Sohn gesagt hatte. Als Kind war mir nicht immer klar, mit wem mein Vater eigentlich sprach,

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