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Ich, du und für immer wir
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eBook403 Seiten10 Stunden

Ich, du und für immer wir

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Über dieses E-Book

Ein Tyrann als Vater und Wehrmacht statt Studium, Ferdinand hat es nicht leicht.
Aber gerade bei der Wehrmacht ändert sich sein ganzes Leben, denn dort trifft er Georg.
In einer dunklen Zeit, in der gleichgeschlechtliche Liebe den Tod bedeuten kann, sind Ferdinand und Georg einander verfallen.
Ihre Suche nach dem Glück bringt sie an die Grenzen dessen, was ein Mensch ertragen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum20. März 2019
ISBN9783959492676
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    Buchvorschau

    Ich, du und für immer wir - Sven Krüdenscheidt

    Erster Eintrag, 01.05.1937

    Alle meine Gedanken und Empfindungen drücke ich in Worten aus, denn auf alles andere würde bald eine Bestrafung folgen.

    Es ist ein wunderschöner Frühlingstag. Würde man nur nach den von einer leichten Brise bewegten Wolken gehen, wäre es ein wahres Idyll. Doch das ist eine Täuschung. Bald schon wird der ländliche Frieden dahin sein und das Unheil seinen Lauf nehmen. Was für ein Ausmaß es annehmen wird, kann ich nicht voraussehen, doch ich befürchte, die gesamte Welt wird sich von Grund auf ändern.

    Oft frage ich mich, was mit mir nicht stimmt, was ich verbrochen habe, dass ich diese Gefühle tief in mir hege. Eine Antwort darauf habe ich nicht und werde sie wahrscheinlich auch nie bekommen. Könnte ich nur darüber sprechen, mich jemandem anvertrauen und mich dabei sicher fühlen! Es gehört sich nicht, solche Gedanken zu hegen. Wie oft habe ich gegen mich selbst angekämpft? Zu oft! Doch ich hatte keinen Erfolg. Im Gegenteil; mit jedem Tag, an dem ich äußerlich mehr und mehr zum Mann heranreife, werden meine Empfindungen stärker. Sie nehmen mir manchmal die Luft zum Atmen. Es fühlt sich an, als ob sich eine Schlinge um meinen Hals legt und immer enger wird. Es gibt Tage, an denen wünschte ich mir, ich würde gar nicht mehr aufwachen und könnte meinen Träumen folgen, aber spätestens, wenn die Sonnenstrahlen durch die dunkelroten Fenstervorhänge dringen und mein Gesicht streifen, weiß ich: Es war wieder nur ein Traum und ich muss mich der Wirklichkeit aufs Neue stellen. Ich möchte mich mit der Gegenwart nicht befassen, doch ich werde dazu gezwungen!

    Sobald man auf die Straße geht, hört man von jeder Seite nur einen Namen: Hitler. Warum kann man ein Land nicht so belassen, wie es ist? Warum muss man sich so zerstreiten, dass ein Krieg entstehen könnte? Was bringen uns die ständigen Zerwürfnisse? Meiner Meinung nach wird die Wut der Menschheit nichts als Asche und Verwüstung zurücklassen. Dies aber laut zu äußern hätte fatale Folgen. Eines weiß ich ganz gewiss: Ich ziehe in keinen Krieg. Aber was, wenn ich nicht gefragt, sondern vor vollendete Tatsachen gestellt werde?

    Dieses unschuldige Papier, das ich an meinem Sekretär beschreibe, ist mein Zeuge und Vertrauter. Es behält all die geschriebenen Worte für sich, solange ich dafür Sorge trage, dass keine falsche Person es je in die Hände bekommt. Sollte dies irgendwann doch geschehen, so werde ich hoffentlich schon nicht mehr unter den Lebenden sein.

    02.05.1937

    Wenn man nur aufs Äußerliche schaut, fehlt es mir daheim im schönen Berlin an nichts. Wir haben ein prächtiges Anwesen unweit des Wannsees. Unser Haus befindet sich am Ende einer Allee. Schon von Weitem sieht man, wie alt und gepflegt es ist. Kommt man näher, wird man von einem mit Rundungen verzierten Eisentor empfangen. Dahinter erscheint eine Grünfläche mit unzähligen Rosensträuchern, die der ganze Stolz meiner Mutter sind. An jedem Tag, ob im Sommer oder Winter, verbringt sie dort einige Stunden, um in ihre ganz eigene Welt zu fliehen. Das Haus wird immerzu als Schmuckstück am Wannsee gelobt, doch schon beim Eintreten umhüllt einen ein kühler, biederer Geruch. Auf mich wirkt jeder Raum steif, ja beinahe eingefroren, aber genauso stellt sich mein Vater sein Zuhause vor. Es spiegelt ihn nur allzu gut wider. Er selbst ist an Gefühllosigkeit nicht zu überbieten. Von dem protzigen Eingangsbereich aus führen mehrere Flügeltüren in die dahinterliegenden Zimmer. Wo man hinschaut, sieht man die Gemälde der Familie an den Wänden hängen. Tag für Tag starren sie mich an. Sie wirken gefährlich und unberechenbar. Alle meine Urverwandten hatten denselben kalten, hochmütigen Blick wie mein Vater. Ich hoffe, ich werde niemals die Gesichtszüge dieses Mannes, den ich nur mit Widerwillen meinen Vater nenne, annehmen.

    Wir erleben hier fast wöchentlich Empfänge, Musikabende und Männerrunden der höchsten Kreise. Alle, die in Berlin und Umgebung Rang und Namen haben, kehren dann bei uns ein, um sich mit den teuersten alkoholischen Getränken und Zigarren den Abend zu vertreiben. Die Männer stehen aufrecht und steif in ihren Uniformen, während die Frauen an Hochnäsigkeit nicht zu überbieten sind. Manchen Damen kann man nicht ins Gesicht schauen, weil die Klunker, die sie tragen, ihre natürliche Schönheit überstrahlen. Die netten Worte, das leichte Lächeln, das sich um ihre Mundwinkel ausbreitet, sind geheuchelt. Dieses Spiel scheint jedoch seinen Zweck zu erfüllen, denn mein Vater ist nach jedem dieser Anlässe entzückt von den überaus freundlichen Menschen. Entweder lebt er in seiner eigenen Welt oder aber er beherrscht das Spiel am besten von allen.

    Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, spüre ich bis heute keine Herzlichkeit von meinem Vater. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich auf seinem Schoß gesessen oder wann er sich mit mir beschäftigt hätte. Mutter zeigte mir stets ihre ganze Liebe. Wir spielten viel im Garten hinter dem Haus. Dort hielten wir auch unsere Picknicks ab. Ich lag in ihrem Arm und wir betrachteten die Wolken. Vater war von dieser Erziehung keineswegs begeistert. Abends, wenn sie dachten, ich würde schlafen, hörte ich seine strenge und tiefe Stimme. Dann war meine Neugier geweckt. Leise schlich ich die Treppen hinunter und drückte mein Ohr ganz sacht an die schwere Flügeltür, hinter der sich die Bibliothek befand. Was ich hörte, war sicherlich nicht für Kinderohren bestimmt. Vieles verstand ich damals nicht, aber einige Sätze brannten sich tief in mein Herz.

    Es waren Aussagen wie: »Unser Sohn ist eine Memme und benimmt sich wie ein Weib!«, »Er wird unter deiner Erziehung niemals ein Mann!«, »Ferdinand ist so anders. Wäre er doch besser niemals geboren! So könnten wir uns zukünftig viel Leid ersparen!«

    Während er all diese schlimmen Dinge über sein eigen Fleisch und Blut sagte, schluchzte meine Mutter laut. Meist erwiderte sie nur: »Rede nicht so über unser Kind! Er ist alles, was ich habe.« Ich weiß noch heute, dass mir die Tränen in die Augen stiegen und ich auf schnellstem Wege zurück ins Bett lief, um mich unter meiner Bettdecke zu vergraben. Oft wünschte ich mir, ich hätte es nur geträumt, doch spätestens beim gemeinsamen Frühstück am nächsten Morgen ließ mich die Kälte meines Vaters erschauern. Ich wusste, was ich am vergangenen Abend gehört hatte, war die bittere Wahrheit.

    Heute kann ich sagen: Ich hasse ihn! Dieser Hass entstand nicht wegen der vielen demütigenden Worte, die mich betrafen, sondern wegen seiner abscheulichen Art, meiner Mutter zu zeigen, dass sie ihm nichts bedeutete und dass er es vorzog, sich mit anderen Damen zu amüsieren.

    Es gibt zwei Menschen in meinem Leben, denen ich vertraue: zum einem meiner Mutter und zum anderen Helga. Helga kenne ich seitdem ich ein kleiner Bub war. Als Kinder haben wir unzählige Male geheiratet. Wir hatten eine ausufernde Fantasie. Die Hochzeit fand immer unter der alten Eiche im hinteren Teil des Gartens mit Blick auf den See statt. Helga stand mit meiner geliebten Wolldecke um die Schultern und einem selbst gewundenen Blumenkranz aus Gänseblümchen vor mir. Ich trug ein altes, viel zu großes Sakko meines Vaters. Die Eheringe gab es nur in unserer Fantasie. Als Pfarrer diente unser gemeinsamer Freund Gustav. Er verstand nie, warum er Helga nicht heiraten durfte. Nach der Zeremonie folgte stets die Festlichkeit. Mutter buk an diesen Tagen mein Lieblingsgebäck, Apfelkuchen mit glasierten Walnüssen. So saßen wir dann auf den weißen Holzstühlen mitten auf der Wiese und tranken Traubensaft aus Weinkelchen. Es war eine schöne, unbeschwerte Zeit.

    Obwohl ich Gustav ebenso lange kenne wie Helga und ihn als meinen Freund bezeichne, vertraue ich ihm nicht, denn er hat sich zu dem Menschen entwickelt, zu dem mein Vater mich erziehen wollte: zu dem deutschesten Deutschen, den ich kenne. Er lebt nur für Hitler und seine Ziele. In der heutigen Zeit sollte man sich nicht gegen das Regime stellen und sich schon gar nicht öffentlich abwertend darüber äußern, doch an Helgas Blick erkenne ich, dass ihr das alles mindestens genauso missfällt wie mir, auch wenn wir nie darüber sprechen.

    Helga ist wunderschön. Sie hat strahlend blaue Augen und einen kleinen Mund, den sie innerhalb weniger Augenblicke zu einer Grimasse verziehen kann. Kleine, fast geometrisch angeordnete Sommersprossen um die Nase herum lassen sie liebenswert erscheinen und ihr langes, glattes, dunkelblondes Haar strahlt bei Sonnenschein beinahe genauso wie die Sonne selbst. Meiner Meinung nach braucht sie kein künstliches Wangenrot, das ihre Wangenknochen hervorhebt, denn sie ist für mich die hübscheste Dame weit und breit. Meine Eltern hoffen sehr, dass wir eines Tages heiraten und sie mit vielen Enkelkindern beglücken werden. Wenngleich Helga für mich eine strahlende Schönheit ist, kann und möchte ich sie jedoch nicht zur Frau nehmen. Ich würde sie ins Unglück stürzen und unsere Freundschaft wäre vom Tag der Heirat an dahin. Wie Helga darüber denkt? Das weiß ich nicht. Manches Mal kommt es mir so vor, als ob sie auf einen Antrag von mir warten würde. Dann wieder gibt sie mir klar und deutlich zu verstehen, dass uns beide eine tiefe, ehrliche Freundschaft verbindet. Ich hoffe nur, dass sie niemals versucht mir einen Kuss zu rauben.

    »Es schickt sich nicht, mit einem Herrn solch eine Freundschaft zu pflegen!«, sagte ihre Mutter zu ihr. Solange wir unbeschwert miteinander umgehen können, ist es uns jedoch egal, was andere von unserer Freundschaft halten mögen.

    Gustav hingegen legt auf seinen Ruf sehr großen Wert. Aus diesem Grund trifft er sich derzeit mit Eli, einer alten Klassenkameradin aus gutem Hause. Als ich ihn fragte, ob er Gefühle für Eli hege, antwortete er: »Es geht nicht um Gefühle im eigentlichen Sinne, sondern um die Zukunft! Die Liebe wird überbewertet. Außerdem werde ich eines Tages an die Front gehen und für unser Vaterland kämpfen. Das ist das Wichtigste für mich. Daran wird auch keine Frau je etwas ändern können.« Er ist Hitler in jeder Hinsicht ergeben. Ich glaube, er träumt sogar von ihm. Wenn wir uns sehen, umgehe ich politische Gesprächsthemen.

    Für kurze Augenblicke ist er dann wieder der Gustav, der er früher einmal war. Nun ja, ich würde es vorziehen, ihn nicht allzu oft sehen zu müssen, da mich seine Ansichten verschrecken. Aber er ist ein sehr gern gesehener Gast bei uns. Vater ist beeindruckt davon, mit welchem Einsatz Gustav für unser Vaterland einsteht. Vielleicht erhofft Gustav sich von meinem Vater einen schnellen Aufstieg in der Wehrmacht. Schließlich hat dieser einen gewissen Einfluss als Generalfeldmarschall und pflegt zudem persönlichen Umgang mit Hitler.

    05.05.1937

    Meine Lage spitzt sich zu! Kurz vor dem gestrigen Abendessen war Vater von einem Besuch beim Führer zurückgekehrt. Er war guter Dinge, was die Zukunft des Vaterlandes anging. Wenn er redet, gebe ich selten Acht und überhöre jede Art der Verherrlichung. Vielmehr starrte ich auf mein Essen und würdigte ihn keines Blickes. Auf einmal fiel mein Name, was sehr ungewöhnlich ist. In der Regel spricht er nur über sich und seinen geliebten Führer. Ich schreckte auf, wusste jedoch insgeheim bereits, was folgen würde. So lange habe ich mich vor diesen Augenblick gefürchtet und stets war mir bewusst, dass er unweigerlich kommen würde. »Ferdinand, es ist nun an der Zeit, dass du dich den wichtigen Dingen im Leben widmest. Ich bin nicht willens weiter tatenlos zuzusehen, wie du dich deiner Verantwortung entziehst, daher wirst du dein Studium unterbrechen und deinen Vater stolz machen, indem du zur Wehrmacht gehst und dir deine Abzeichen verdienst!«

    Mir blieb der in eine feine Rotweinsauce getauchte Rehbraten im Hals stecken. Ich wäre lieber daran erstickt, als mich dem zu stellen, was mein Vater für mich vorsah. Zum ersten Mal blickte ich ihm in die Augen und sah seine Entschiedenheit, mich über kurz oder lang in den Krieg zu schicken. »Aber Vater, ich bin gerade in mein Studium vertieft und kann es jetzt unmöglich abbrechen, nur um dir einen Gefallen zu tun!«

    Seine Augen verengten sich und seine blasse Gesichtsfarbe wich einem tiefroten Farbton. Die Adern an den Schläfen traten pulsierend hervor. Es hielt ihn nicht mehr auf seinem Stuhl. Die uralte Sitzgelegenheit kippte nach hinten. »Es war keine Frage, die ich dir gestellt habe! Du wirst zur Wehrmacht gehen und fertig! Warum bist du nicht wie Gustav? Er würde sofort zustimmen.« Meine Mutter blickte uns abwechselnd an, dabei wischte sie sich die Tränen mit der Serviette fort. Sie wagte nicht ihrem Gatten ins Wort zu fallen. Womöglich hätte er ausgeholt und ihr mit der Hand ins Gesicht geschlagen, wie es oft geschah, wenn sie versuchte sich ihm zu widersetzen.

    Auch meine Augen wurden feucht, doch ich konnte nicht zulassen, dass er meine Gefühle sah. Stattdessen stand ich auf, schob den Stuhl wieder dicht an den Tisch heran und sagte tonlos: »Entschuldigt mich.« Ich kehrte meinem Vater den Rücken und knallte die schwere Tür hinter mir zu. Er fluchte munter drauflos. Das tat er immer, wenn ihm etwas missfiel. Ich schenkte seinem Wutausbruch jedoch keine Beachtung.

    Nun bin ich verzweifelt und habe keinen blassen Schimmer, wie es weitergehen soll. Ich mache mir Vorwürfe, denn ich hatte lange genug Zeit mir einen Plan zurechtzulegen, schließlich ahnte ich bereits, dass so etwas geschehen würde. In mich gekehrt blicke ich aus dem Fenster meines Zimmers auf den alten Eichenbaum, unter dem Helga und ich als Kinder unsere Hochzeit gefeiert hatten. Der Himmel ist bedeckt mit dunklen Wolken. Sie spiegeln meinen Gemütszustand wider. Der See, dessen Schönheit mich Tag für Tag anzieht, wirkt auf einmal grau und hässlich. Ich bin nicht bereit zum Töten! Schon gar nicht bin ich dazu bereit, getötet zu werden! Ich stehe nicht hinter den Plänen der Regierung, wenn man Hitler und seine Mannen überhaupt eine Regierung nennen kann. Ich will mein Studium zu Ende bringen und Menschen retten, ganz egal, was für einer Rasse sie angehören, denn vor Gott sind wir alle gleich! Nun werde ich niemals Arzt werden, niemals Leben retten, vielmehr soll ich Leben nehmen. Eigentlich hätte ich schon viel eher meiner Wehrpflicht nachkommen müssen. Dank des Studiums und der guten Beziehungen meines Vaters wurde ich noch nicht einberufen. Nun soll ich eine Wehrdienstzeit von zwei Jahren ableisten. Es sei denn, ich wäre verheiratet, dann verkürzt sich diese Zeit auf ein Jahr. Leider bin ich nicht verheiratet.

    Auch mein Verlangen wird immer stärker. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch unterdrücken kann. Manchmal komme ich mir seltsam vor, wenn ich meine Gedanken und Erfahrungen in ein Tagebuch schreibe. Männer reden und schreiben nicht über ihre Gefühle. Aber solange nur ich es zu Gesicht bekomme, ist es mir egal, was andere darüber sagen würden.

    Ich erzählte heute Helga von den Plänen meines Vaters. Sie war sichtlich schockiert; ich sah eine Träne über ihre Wange laufen. »Ferdinand, du bist stark und wirst es überstehen, da bin ich mir sicher. Ich werde jeden Tag an dich denken und dich in meine Gebete einschließen. Nur Gott weiß, wozu wir bestimmt sind.« Ihre Worte beruhigten mich nicht im Geringsten! Aber es gab nichts zu erwidern. Im Grunde hatte sie Recht. Es liegt nicht in unserer Hand, was geschehen wird. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich noch haben werde, bis ich den Dienst an der Waffe beginnen muss. In meiner derzeitigen Verfassung gehe ich nicht mehr zur Universität und räume auch meine Lehrbücher fort, denn ich sehe keinen Sinn mehr darin, mich mit der Anatomie des Menschen zu beschäftigen.

    07.05.1937

    Weil es ein wunderschöner, frühlingshafter Tag war, machten Helga, Gustav und ich einen Ausflug zum Wannsee. Gustav wirkte entspannt und verlor, warum auch immer, kein Wort über sein fanatisches Denken. Helga war fröhlich, doch ich glaube, sie spielte es mir nur vor, um mir den schönen Tag nicht zu verderben. Wir beide wussten, dass es nicht mehr viele dieser unbeschwerten Momente geben würde.

    Wir breiteten unsere Decken auf der saftig grün schimmernden Wiese aus. Auf Handtücher verzichteten wir, da der Frühling gerade erst begonnen hatte und der See noch viel zu kalt war, um darin zu schwimmen. Ich krempelte meine Cordhose ein Stück hoch und ließ die Hosenträger herunterhängen, damit ich mein Hemd ausziehen konnte. Gustav tat es mir gleich. Helga hingegen behielt ihr Kleid an. Dieses war mit lauter kleinen Blumen auf einem blauen Hintergrund bestickt. Es passte zu dem sonnigen, farbenfrohen Tag. Zusammen lagen wir Kopf an Kopf auf der Wiese und schauten in den Himmel, ganz so, wie wir es schon als Kinder getan hatten. Dabei hatten wir damals die vorbeiziehenden Wolken gezählt. Heute, Jahre später, sind wir leider nicht mehr so naiv und unbeschwert. Jeder hat seine eigene Last zu tragen. Die Gedanken treiben uns fort.

    Irgendwann wollte ich nicht mehr über die Zukunft grübeln. Ich setzte mich auf, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Die anderen beiden schienen eingeschlafen zu sein. Friedlich lagen sie nebeneinander. Ich beobachtete Helga wie auch Gustav eine Zeit lang. Dabei kam in mir ein merkwürdiges Gefühl auf. Wenn ich die Empfindung in Worte fassen müsste, so fände ich nicht die passende Bezeichnung, um sie auszudrücken. Auf der einen Seite war das Gefühl wunderschön, auf der anderen Seite war es erschreckend, aber das schöne Kribbeln überwog. Doch was war es? Eigentlich wusste ich es ganz genau, aber ich stemmte mich dagegen. Meine Blicke wanderten zwischen Helga und Gustav hin und her. Bei Helga verspürte ich nichts. Gar nichts! Wenn mein Blick hingegen auf den muskulösen Oberkörper von Gustav fiel, berauschte der Anblick mich. Eine ungewohnte Scham überkam mich, doch konnte ich den Blick nicht mehr von ihm wenden. Seine von der frischen Brise aufgerichteten Brustwarzen beglückten mich und mir wurde ganz anders. Gustavs Bauchpartie war von Muskeln übersät, die sein straffes Training für das Vaterland aufgebaut hatte. Die schwarze Hose lag eng an seinem Körper an. Alles an ihm schien dem Ideal von einem Mann nahezukommen. Ich hatte keine Ahnung warum, aber meine Gefühle und Empfindungen machten sich selbstständig. Dieser Moment bedeute für mich das pure Glück. Das Kribbeln, das sich zunächst nur in der Bauchgegend rührte, zog allmählich bis in die Fingerspitzen hinein. Ich bemerkte, wie meine Einbildungskraft mich beflügelte. Alles an ihm weckte meine Leidenschaft. Am liebsten hätte ich ihn berührt. Der kurze Moment, da Haut auf Haut trifft, hätte mir unendlich viel bedeutet. Sofort verbot ich es mir, ihn auch nur eine Sekunde länger anzusehen. Ich biss mir auf die Lippe, um durch den kurzen Schmerz die entstandenen Bilder aus meinem Kopf zu löschen. Plötzlich schaute Helga mich mit halb geöffneten Augen an. Mein Blick wich sofort auf den See aus. Ich weiß nicht, ob sie etwas mitbekommen hat. Jedenfalls hat sie sich nichts anmerken lassen. Das leidenschaftliche Gefühl, das kurz davor noch in mir bebte, wich der Wut auf mich selbst.

    Wenn ich so darüber nachdenke, verstehe ich es nicht, wo ich ihn doch schon fast mein ganzes Leben lang kenne und als Freund schätze. Ich kann es mir nur so erklären: Es geht nicht um seine Person an sich. Vielmehr sind es sein Geschlecht und seine Männlichkeit, die mich fesseln. Ich weiß, es ist krank! Ich würde gerne anders fühlen, aber es gelingt mir einfach nicht. Wenn ich eine Frau sehe, spüre ich nichts. Wenn ich einen Mann sehe, dann schlägt mein Herz schneller. Keiner darf davon erfahren, denn sonst wäre ich in großer Gefahr. Ich weiß nicht, was sie mit mir machen würden, dennoch bin ich mir sicher, dass es das Schlimmste sein würde, was man mir antun könnte.

    08.05.1937, morgens

    Am Abend im Bett konnte ich nicht einschlafen. Zum ersten Mal dachte ich nicht an das, was auf mich zukommen würde; nein, ich dachte an einen Männerkörper, wie Gustav ihn hatte. Je mehr ich mich gegen die aufkommenden Bilder in meinem Kopf wehrte, umso klarer wurden sie. Ich musste mich meiner Begierde unterwerfen. Der Verstand setzte aus und ich gab mich mir selbst hin. In der vergangenen Nacht war ich glücklicher als je zuvor, keine schwarzen Gedanken stellten sich mir in den Weg.

    ***

    Warum konnte der Tag nicht so beginnen, wie er gestern aufgehört hatte? Ich war frohen Mutes gewesen bis zu dem Moment, als ich Vater erblickte. Er saß wie immer gestriegelt in seiner Uniform mit den zahlreichen Abzeichen am Esstisch. Wofür er die einzelnen Orden erhalten hatte, war mir offen gestanden egal. Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sie verdient hatte. Meine Mutter kaute lustlos auf ihrer Brotkruste herum, dabei lächelte sie mich zaghaft an. Es sah so aus, als wollte sie sich entschuldigen. Doch wofür? Noch ehe ich mein Brot mit der hausgemachten Sülze belegen konnte, sagte mein Vater, ohne mich anzuschauen: »Ferdinand, morgen ist es soweit! Du wirst eingezogen. Ich habe alles in die Wege geleitet, damit du in Berlin bleiben kannst, dennoch wirst du nur gelegentlich nach Hause kommen, denn ich habe das Gefühl, du bist dort besser aufgehoben als hier!« Dabei schaute er mit ernster Miene zu meiner Mutter, ganz so, als wollte er ihr damit mehr schaden als mir. »Ich lege dir nahe dich nicht zu zieren. Das kommt nicht gut an. Du wirst keine Sonderbehandlung erhalten, nur weil du mein Sohn bist!«

    »Wenn du es bestimmst, dann soll es so sein«, erwiderte ich mit fester Stimme.

    Er war sichtlich erstaunt über meinen Gehorsam und schaute mich widerwillig anerkennend an. »Gut so, Junge. Aus dir wird wohl doch noch ein richtiger Mann!« Es gab nur einen Grund, warum ich folgsam war: Ich wollte vermeiden, dass meine geliebte Mutter noch mehr Sorgen hatte.

    Nun, da ich nichts mehr an der Situation ändern kann, werde ich meine wichtigsten Habseligkeiten in meinen kleinen braunen Lederkoffer packen und mein altes Leben vergessen. Ich weiß zwar noch nicht, was mich erwarten wird und was für eine Art Ausbildung ich erhalten werde, aber eines weiß ich gewiss: Mein Vater wird mich so schnell nicht wiedersehen, auch wenn es bedeutet, dass ich meine Mutter zurücklassen muss. Ich werde wieder schreiben, sobald ich ungestört bin.

    15.06.1937

    Nun habe ich endlich Zeit zum Schreiben gefunden. Ich bin in der Julius-Leber-Kaserne in Berlin Wedding untergekommen. Hier bekomme ich nun eine Grundausbildung für die nächsten acht bis zwölf Wochen. Mit mir haben dreihundert junge Männer angefangen. Die meisten von ihnen sind so wie Gustav. Sie können es kaum abwarten, in den Krieg zu ziehen. Wenn es sein müsste, würden sie für ihr Vaterland sterben. Verstehen kann ich diese Leute nicht. Was wollen sie erreichen? Sie werden ein Abzeichen bekommen, dann treten sie auf eine Sprengmine und sind tot. Mit dem Hitlergruß, der hier auf Schritt und Tritt von mir erwartet wird, habe ich mich schon immer schwergetan. Bei uns zu Hause war es ein morgendliches Ritual, das wir zu erfüllen hatten, doch wurde es mir von Mal zu Mal fremder. Hier trägt er dazu bei, einen Hass zu schaffen, der alles andere zerstört. Jeder, der nicht mitmacht, erhält eine harte Bestrafung, über die man jedoch nicht spricht.

    Mein guter Freund Gustav ist nun auch seit ein paar Tagen hier. Er ist fanatisch vom Führer überzeugt. Wir hatten noch nicht viele Möglichkeiten miteinander zu reden, da er woanders untergebracht ist als ich. Helga hat mir bereits drei Briefe geschrieben, in denen sie mir Mut macht durchzuhalten. Sie erzählt mir, sie habe einen netten Mann kennengelernt und sie hofft, ich werde es ihr nicht krummnehmen. Warum sollte ich? Ich bin sogar sehr froh, dass sie nun einen Ersatz für mich gefunden hat und ich keine Angst mehr haben muss, dass sie doch mehr für mich empfinden könnte, als mir lieb ist. Ich habe ihr bisher erst einmal geantwortet, da ich hier kaum Zeit finde, um zu schreiben.

    Jetzt, wo der Sommer vor der Tür steht, vermisse ich es, am See zu liegen und das Leben zu genießen. Stattdessen muss ich eine Waffen- und Schießausbildung über mich ergehen lassen. Insgeheim hoffte ich, dass ich niemals in die Situation kommen werde, die geladene Waffe auf einen Menschen zu richten.

    25.06.1937

    Es ist zunehmend schwerer für mich mit den anderen Kameraden zusammen zu duschen. Es fühlt sich eigenartig an. Während die anderen alle das warme Wasser auf der Haut genießen, wage ich mich nur kurz darunter, um mich schnell einzuseifen und abzubrausen. Jedes Mal denke ich mir: »Guck bloß nicht die anderen an!«. Bis jetzt habe ich es auch geschafft, nichts und niemanden zu sehen. Aber dieser Zustand ist für mich beinahe unerträglich. Sicherlich haben sich hier lockere Freundschaften entwickelt, aber alle sind nur aufgrund der besonderen Umstände entstanden. Dafür leidet derzeit eine alte Freundschaft, nämlich die zu Gustav.

    Als er mich hier das erste Mal gesehen hatte, ging ich gerade von meinem Wachdienst zurück zum Quartier, als ich ihn rufen hörte: »Ferdinand, nicht so schnell!« Ich drehte mich um und sah ihn in derselben Uniform auf mich zukommen, die auch ich tagein tagaus trage. Sein Auftreten wirkte stolz und selbstbewusst. Mich hingegen zwingt diese Kluft fast in die Knie. Gustav fragte: »Wie geht es dir? Es freut mich, dass wir zusammen unseren Dienst an der Waffe verrichten! Ich dachte schon, du willst nie für unser Vaterland einstehen!«

    »Schön, dich hier zu sehen.« Auf seine Vaterlandsanspielung ging ich gar nicht erst ein.

    »Du bist ja gesprächig«, raunzte er mich an.

    »Ich habe gerade meinen Wachdienst beendet und möchte nur noch schlafen.«

    »Dann versprich mir wenigstens, dass wir uns morgen treffen!« Anscheinend hatte er ein großes Bedürfnis, mit mir zu sprechen.

    »Einverstanden, gute Nacht.« Er ahnte nicht, dass ich nicht vorhatte mich mit ihm am nächsten Tag zu treffen. Zu groß war die

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