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Einer von Zweien
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eBook684 Seiten9 Stunden

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Über dieses E-Book

Zynisch blickt Konrad zurück auf sein Leben. Er ist um einen nüchternen Ton bemüht, kämpft jedoch wie stets mit seinem melancholischen Gemüt. Überhaupt gleicht sein ganzes Leben einem einzigen Kampf und nun, mit fast freißig Jahren, ist er allmählich müde. Alles hat er getan, um über den Zwillingsbruder zu triumphieren, keine Anstrengung war ihm zu groß, keine Lüge wog zu schwer. Doch zu oft ist er von einer Rolle in eine andere geschlüpft, schließlich hat er sich selbst in seinem Spiel verloren. Dabei könnte Konrad, der doch längst mit Gott gebrochen hat, durchaus zufrieden sein. Nach dem Medizinstudium erschleicht er sich ein Vermögen. Bald ist eine schöne Geliebte gefunden und man treibt von einem Amüsement zum nächsten. All die Mühen scheinen entlohnt. Wenn da nur nicht der Zweifel wäre, an den Gefühlen der düsteren Schönheit. Denn wer könnte schon einen lieben wie ihn?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Apr. 2014
ISBN9783847681939
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    Buchvorschau

    Einer von Zweien - E. K. Busch

    Prolog

    Unzählige Male hatte ich mich häuten müssen. Es war nicht immer qualvoll und schmerzlich gewesen. Manchmal hatte ich es selbst kaum bemerkt oder das Abstreifen der brüchigen Hülle gar genossen, die da trocken am ganzen Leib gescheuert hatte. Für einen kurzen Moment dann hatte ich jedes Mal in dem Glauben geschwelgt, endlich ein Gesicht zu besitzen. Dann war ich voller Hoffnung gewesen auf ein eigenes Leben, so viel Verwüstung und Schuld ich auch zurückgelassen haben mochte. Fast dreißig Jahre hatte ich dabei mit einer einzigen Maskerade zugebracht und Gott mit meinem inbrünstigen Spiel unterhalten. Doch nun hatte ich es endlich eingesehen. Meine Existenz ein Fehler der Natur. Nichts weiter. Eine Fehlkalkulation.

    Als ich oben auf dem Hügel angelangt war, verschnaufte ich einen Moment. Beim Anblick meiner tiefen Spuren im Schnee huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Es war auf eine lächerliche Weise beruhigend, solche Spuren zu hinterlassen. Man hatte das Gefühl, von Bedeutung zu sein für die Welt. Dann warf ich das Seil über einen dicken Ast. Die Windungen schmiegten sich einer trägen Schlange gleich an das Holz. Ich brauchte einen Moment, mich hinaufzuziehen, wo mein Bein doch etwas steif war so früh in der morgendlichen Kälte. Die Raben verließen krächzend die Äste und stoben Richtung Wald davon. Schwarze Schwingen, die sich flatternd hoben und senkten. Ich griff das Seil und kletterte weiter hinauf in das kahle Geäst. So hoch ich konnte. Von dort oben hatte man eine gute Sicht auf das verlassene Haus, das einmal meine Heimat hatte werden sollen in einem längst verlorenen Kapitel meines Lebens. Und ließ man den Blick auf das jämmerliche Dorf schweifen, so konnte man mein Elternhaus erahnen. Dieses schiefe und verschneite Dach dort hinten zwischen den anderen schiefen Dächern, die sich entlang der schmalen Straße aufreihten wie spitze Zähne in einem schlechten Gebiss. In diesem Haus hatte mich Mutter zur Welt gebracht. Mich und ihn. Und als ich mir die Schlinge um den Hals legte, dachte ich bei mir, dass der Tod doch lediglich jenen unsäglichen Fehler wettmachen würde, den Gott oder der Zufall da vor fast dreißig Jahren begangen hatte. Denn es hatte zwei gegeben, wo nur einer hätte sein dürfen.

    I

    Meine früheste Erinnerung reicht zurück in mein viertes Lebensjahr; davor ist nichts als Schwärze. Es scheint mir wunderlich, dass da ganze Jahre in einem einzigen trüben Sumpf versunken sind, während mir meine späteren Erlebnisse mit einer strafenden Genauigkeit in den Sinn kommen wollen.

    Die Wintersonne schien durch das Schaufenster und Mutter malte mit ihrem Putzlappen weiße Streifen auf die Scheibe. Schaumig und schmierig waren diese Streifen. In der Sonne verschwanden sie bereits nach wenigen Sekunden. Fred und ich beobachteten Mutters gleichmäßige Bewegungen, dieses Auf und Ab durch die Scheibe hindurch. Um ihren Kopf gebunden trug die hagere Frau ein Tuch von einem verwaschenen Grün. Ein blasses Blumenmuster fand sich auf dem Stoff. Mutter trug dieses Tuch nur beim Saubermachen, ob beim Kehren, Wischen, Wedeln. Es ließ sie wie eine dieser Hexen in den Bilderbüchern aussehen. Die etwas krumme Nase und die wirren Haarsträhnen, die sich wie dunkle Tentakel unter dem Stoff hervorwagten, vervollständigten das Bild. Ihre Haut jedoch glich Porzellan, weiß und makellos und von einer milchigen Härte.

    Vater befand sich hinten im Laden und stellte die Suppendosen ins Regal. Die bunten Bilder hatten Reihe in Glied zum Gang zu blicken. Blechsoldaten. Mutter hatte genaue Anweisung gegeben. Der Mann sang leise vor sich hin und klopfte mit seinen ausgetretenen Lederschlappen den Takt. Hatte er gute Laune, so war er am Singen. Uns Kindern ein Naturgesetz. Und da Vater mit beinahe unbezwingbarer Lebensfreude gesegnet war, hing fast immer ein leises Brummen in dem kleinen Raum mit den überfüllten Regalen. Dann wusste man nicht, in welchem Winkel er sich verbarg. Und wenn gleich ich später feststellen sollte, dass Vaters Gesang einem einzigen Brummen gleichkam, so liebten Frederik und ich es damals, seiner Stimme zu lauschen. Denn sie war ebenso Teil dieses Mannes wie sein in diesen Jahren noch ganz und gar dunkler Vollbart, sein breites Kreuz und sein mächtiger Bauch.

    Frederik und ich waren damals vier Jahre alt. Wir waren Zwillinge und blieben es trotz all meiner Mühen. Und so saßen wir also beide auf dem Fußboden, die kurzen Beine von den kurzen Armen an den Körper gezogen. Dunkelbraunes Haar, blaue Augen, die krumme Nase der Mama und insgesamt sehr klein und schmächtig. Einer genau wie der andere. Selbst ich vermag es nicht, uns auf den alten Fotografien zu unterscheiden. Denn eines bleibt auf diesen Bildern verborgen: Freds stetiges Gezappel. Denn während ich Mutter gelassen zu beobachten wusste, wippte er unermüdlich hin und her. Er langweilte sich. Dabei hätte es des Gezappels überhaupt nicht bedurft. Ich wusste immer, was Fred spürte. Keine Gestik, keine Mimik war von Nöten.

    „Lass uns doch Mama beim Wischen helfen," schlug ich daher vor. Denn ich war ein wahres Muster an Tugendhaftigkeit, dass es mich heute selbst zu grauen vermag.

    Frederik jedoch rümpfte die kleine Nase und erklärte nach kurzem Überlegen: „Ich hole die Glaskugeln!"

    Und schon hastete er, noch ohne meine Antwort abgewartet zu haben, hinauf in den ersten Stock. Er wollte die Schneekugeln aus unserem Kinderzimmer holen, unsere Weihnachtsgeschenke.

    Im Grunde stimmte ich Frederiks Vorschlägen immer zu. Lediglich wenn er etwas Gefährliches, Dummes oder Verbotenes vorhatte, erhob ich Einwände. Meistens gelang es mir sogar, ihm unartige Pläne auszureden. Ihm war jeder meiner Gedanken vertraut. Lediglich geriet mein Bruder dann und wann in einen Zustand von blinder Begeisterung, der mir völlig fremd war. Meine große Überzeugungskraft lief dann ins Leere und mir blieb nichts anderes übrig, als ihn selbstlos zu decken, wenn Mutter fragte, wer die Scheibe zerbrochen, die Wand bemalt oder sich in der Süßigkeiten-Abteilung allzu freimütig bedient hatte. Sie wusste dann sehr wohl, wer der wahre Übeltäter war. In ihrer nüchternen Art jedoch verkündete sie: „Wie du willst", und schwang das Richtschwert.

    Sehr selten allerdings da erlag auch ich Freds wilden Plänen, da sagte ich mir: „Jetzt verderb‘ ihm nicht die Freude!"

    Ich jedoch verspürte vor dem unsanften Aufprall unseres Schlittens, dem folgenden Überschlag und der schmerzhaften Kollision mit dem Apfelbaum, kein Kribbeln im Bauch. Auch war mir jenes Gefühl der „vollkommenen Freiheit" fremd, von der Fred nach diesem Erlebnis mit großen Augen zu schwärmen wusste.

    Und als wir mit unseren Sonntagshosen und besten Hemden in die Schlammgrube stiegen, um uns dort mit Karl und dessen älterem Bruder eine Schlacht zu liefern, da empfand ich keinerlei Genugtuung. Dabei wusste ich wohl, wie Frederik fühlte und was er dachte, als wir nach dem sonntäglichen Gottesdienst mit den andren Jungen am Ufer der Schlammgrube standen. Fred war beleidigt und überaus zornig.

    „Euer Vater ist ein Idiot", hatte Karl ohne ersichtlichen Grund bemerkt, so als hätte er etwas über das Wetter gesagt.

    Ich konnte darauf die Wut in Freds Brust schwelen spüren und ich wusste auch, dass jeglicher Beschwichtigungsversuch sinnlos wäre. Trotzdem sah ich zu ihm hinüber und meinte kopfschüttelnd: „Der hat doch keine Ahnung, Fred!"

    Aber mein Bruder hörte mir überhaupt nicht zu. Als er schließlich tobend ins Wasser stieg, die braune Brühe reichte ihm bis zum Bachnabel, da blieb mir nichts anderes übrig, als es ihm gleichzutun. Immerhin waren wir Brüder. Also tauchte auch ich meine Arme in das trübe Wasser und griff nach dem stinkenden Schlamm am Grund. Körnig und doch schleimig fühlte er sich zwischen den Fingern an. Doch ich konnte mich nicht meiner Wut hingeben, wie es Fred vermochte, hörte mein Gewissen zetern bei jedem Wurf.

    Als Karl endlich außer Gefecht gesetzt war, schimpfte ich mich einen Schwachkopf und Schweinehund. Fred dagegen vermochte ich keinerlei Vorwurf zu machen. Es fiel ihm nun einmal schwer, sich zusammenzunehmen. Er war ein ungestümes Kind. Wie Mutter so schön zu sagen pflegte: „Der eine ganz Herz, der andere Kopf."

    Frederiks polternde Schritte waren auf der alten Holztreppe zu vernehmen und dann schob er sich bereits an dem geblümten Vorhang vorbei, der die Treppe und damit auch das obere Stockwerk vom Laden trennte.

    Dieser Vorhang war im Übrigen das aller schäbigste Ding im ganzen Haus und es sei hier noch am Rande bemerkt: Auch das sonstige Inventar zeugte nicht gerade von einem erlesenen Geschmack. Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Duschvorhang war jedenfalls unverkennbar. Bei jenem verblichenen Muster handelte es sich vermutlich um ein Blumendekor. In meinem ganzen Leben jedoch habe ich keine Blume von solch scheußlicher Farbe gesehen. Zu solcher Hässlichkeit bedarf es vermutlich der Phantasie eines Menschen.

    Mutter wusch den Vorhang monatlich. Dann klaffte ein ungemütliches Loch in der Wand und es zog unangenehm. Aber auch ihr pedantisches Waschen war vergeblich, so wie all ihr Scheuern, Schrubben, Bürsten. Unzufriedenheit ließ sich nun mal nicht auskehren.

    Fred blieb wie üblich mit einem Fuß im Vorhang hängen und stolperte auf mich zu, der ich da noch immer auf dem kalten Fliesenboden saß. In jeder Hand hielt Fred eine der orangengroßen Glaskugeln und einen Moment fürchtete ich, er würde stürzen.

    Fred war mit Sicherheit einer der ungeschicktesten Menschen, die ich jemals kennengelernt habe. Sein ganzes Leben lang wäre er nicht davor gefeit, über die eignen Füße zu stolpern. Zu meinem Erstaunen aber brachten ihm dieser wie auch seine weiteren augenfälligen Makel nur das Wohlwollen seiner Mitmenschen ein.

    Das Christkind hatte die beiden Schneekugeln gebracht. Genauer gesagt hatte das Christkind für Fred die Kugel mit dem blauen Sockel und für mich die mit dem grünen vorgesehen. Blau war Frederiks Lieblingsfarbe, während Grün die meine war. Der Wahrheit zuliebe möchte ich hier allerdings anführen: Frederiks Lieblingsfarbe war Blau. Und nur deshalb war meine Grün. Denn wie hätten uns die Kunden unterscheiden können, wenn ich nicht immer die grünen und er nicht immer die blauen Strümpfe getragen hätte? Dabei konnte auch dieser kleine Trick mit den Strümpfen uns keine eigenen Identitäten bescheren, denn nicht einmal wollten die Leute sich merken, wer denn nun welche Strümpfe trug. Für die meisten daher waren sowohl er als auch ich Der kleine Wenk, denn dann bräuchte man sich gar nicht zwischen den Namen zu entscheiden. Oder aber man nuschelte etwas wie: Freder-Konrad daher. Diese Respektlosigkeit gegenüber meiner Person, Fred schien es übrigens völlig gleichgültig zu sein, wie man ihn nannte, war zwar frustrierend aber auch ernüchternd. Den Menschen interessierte nur, was ihn selbst betraf.

    Dennoch schmerzte es mich damals, wenn wir Brüder in einen Topf geworfen wurden. Ob Kunden, Nachbarn, Lehrer oder unsere wenigen Verwandten: Niemand schien es für nötig zu halten, einen Unterschied zu machen zwischen diesem Jungen und mir. Da war es dann gleichgültig, dass ich es gewesen war, der die Schranktüre repariert oder die Garage aufgeräumt hatte: Tante Elsa reichte uns beiden eine Tafel Schokolade zum Dank. Dabei störte es mich nicht im Geringsten, wenn man uns einmal verwechselte. Das konnte in Anbetracht der Umstände passieren. Sogar ich selbst verwechselte mich hin und wieder, wenn Fred und ich gemeinsam an einem Fenster vorübergingen und uns in der Scheibe spiegelten. Ein kurzer Blick hinüber und dann der Gedanke: „Wieso trage ich Freds Pullover?"

    Aber ich fand es einfach grauenhaft, wenn man zu ängstlich oder zu bequem war, eine Entscheidung zu wagen. Und überhaupt: War es denn nicht offensichtlich, wer samstags die Straße fegte? Wer mit Mutter in die Apotheke ging oder die Briefe zur Post brachte?

    Noch sollten jedoch Jahre vergehen, bis uns niemand mehr verwechseln würde. Bis dahin würde ich hart kämpfen, um mich von Freds jämmerlicher Mittelmäßigkeit zu befreien.

    Dabei hätten Fred und ich selbstverständlich Namensschilder tragen oder uns die Anfangsbuchstaben unserer Vornamen in großen Lettern auf das Hemd sticken lassen können. Er ein blaues F, ich ein grünes K. Mutter hätte eine solche Arbeit rasch erledigt. Sie war gut im Handarbeiten, nähte und bügelte auch für die Nachbarschaft. Dann saß sie da, die Brille auf der krummen Nase, biss sich auf die Unterlippe, während sie den Faden durch die Nadelöse fädelte. Das ist mir wohl die liebste Erinnerung an sie. Ganz und gar in ihre Arbeit vertieft, sah sie zufrieden aus. Trotzdem wollte ich keinen Buchstaben auf meinem Pullover. Mein verkappter Stolz. Die Leute müssten mich doch irgendwann sehen. Mich. Nicht ihn und erst Recht nicht uns. Nein, ich würde mich nicht etikettieren lassen. War ich denn eine der Dosen in den Regalen? Und noch einmal zu meiner Lieblingsfarbe: Ich hatte keine Lieblingsfarbe. Nie.

    Frederik drückte mir meine Kugel in die Hand und wir begannen kräftig zu schütteln. Die Flocken wirbelten auf und die Figur, ein kitschiger Engel in goldnem Gewand, verschwand im Schneegestöber. Wir schüttelten noch einige Male und nahmen es uns zum Ziel, möglichst viel Schnee auf dem Kopf des Engels aufzutürmen. Das war Frederiks Idee gewesen. Ich selbst hätte nie etwas dergleichen vorgeschlagen, hätte wahrscheinlich einen Hauch Blasphemie in einem solchen Vorhaben entdeckt. Beinahe an jedem Tun ließ sich nämlich etwas Verwerfliches ausmachen, wenn man nur recht genau darüber nachdachte. Damals jedoch schüttelte ich, rhythmisch aus dem Handgelenk, dass die Flocken wirbelten. Es war ja schließlich Freds Idee gewesen.

    Frederik, der bereits von einem weiteren Zappelschub erfasst worden war, schüttelte nun so kräftig, er nur konnte. Hin und her wie völlig wahnsinnig. Die Kugel rutschte ihm aus der Hand. Wir beide beobachteten ihren Weg dem Boden entgegen. Als die Kugel auf die grünen Kacheln traf, zerbarst sie in kleine Splitter. Das Wasser spritze an unseren Beinen hoch. Weiße Flocken schwammen in der erbärmlichen Pfütze zu unseren Füßen. Frederik betrachtete entsetzt den Scherbenhaufen und als er sich hinuntergebeugt und entdeckt hatte, dass die Engelsflügel abgebrochen waren, begann er dann endlich zu weinen. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis seine Gefühle ihn übermannt hätten. Mutter, die sein Missgeschick durch die Scheibe hindurch beobachtet hatte, betrat nun den Laden. Die Türglocke klingelte und schien den weinenden Jungen zu verhöhnen.

    „Frederik... Lass bloß die Hände von den Scherben! Du zerschneidest dir nur die Finger!", rief sie und stemmte ihre Arme in die schmale Taille. Wie mager sie doch war!

    „Weshalb musst du denn auch immer so übertreiben?", und sie verzog den Mund, schüttelte dann langsam den Kopf, dass die Locken sich wanden, wie die Schlangen auf Medusas Haupt. Ihr Blick war streng und vorwurfsvoll. Als Freds Wimmern und seine feuchten Augen sie erweichten, trat sie zu ihm heran, so dass er sich an ihren knochigen, steifen Körper klammern konnte.

    Mutter machte, wurde sie umarmt, einen eigenartig morschen Eindruck. Sie rührte sich dann nicht, stand steif da, als könne ihr auf Grund einer falschen Bewegung der Arm abbrechen.

    Vater kam mit einem Besen und einem Lappen herbei.

    „Sei nicht traurig, Frederik. Es ist doch nur eine Glaskugel."

    Schon machte er sich daran, den kläglichen Rest des Weihnachtsgeschenks aufzufegen.

    „Vielleicht seid ihr noch zu albern für solches Spielzeug", erklärte Mutter und warf Vater einen tadelnden Blick zu, der diesem entging.

    Frederik weinte noch immer. Mit nasaler Stimme erklärte er: „Die Kugel war so schön...", und vergrub sein verheultes Gesicht in Mutters Schürze.

    Ich stand neben meiner regungslosen Mutter und meinem Bruder, der sich fest an ihre Beine klammerte, und neben Vater, der noch die letzten Tropfen aufwischte. Meine Hände hatte ich tief in den Hosentaschen vergraben und hielt meinen Blick gesenkt. Wie so oft in meinem Leben kam ich mir nutzlos und dumm vor. Dann kam mir ein Gedanke und ich schlug vor: „Weißt du was, Frederik, du kannst meine Kugel haben!"

    Vater sah mich freudig an.

    „Das ist aber lieb von dir, Kon..."

    Als ihm Mutter bereits ins Wort fuhr.

    „Es ist Freds eigne Schuld, dass seine Kugel zerbrochen ist. Was ist er auch immer so unvorsichtig?"

    Einen Moment herrschte Schweigen, dann brachte ich leise hervor: „Wenn Fred dann nicht mehr so traurig ist, gebe ich sie ihm aber gerne!"

    Die Augen meines Bruders weiteten sich vor Dankbarkeit und Vater lächelte. Mutter dagegen erklärte trocken: „Wie du willst, Konrad."

    War ich denn nicht ein herzerweichend selbstloser Junge? Ein wahres Muster an Nächstenliebe?

    Wenn ich ehrlich bin, dann war ich schon damals von Grund auf verdorben. Denn ich wollte nichts lieber, als ein guter, ein besserer Junge sein. Um über meinen Bruder zu triumphieren - ich wäre bereit gewesen, jedweden Preis zu zahlen.

    *

    Ein Erlebnis kommt mir in den Sinn, da waren wir vielleicht neun Jahre. Es war ein heißer Tag, einer der wohl heißesten des Jahres. Ich schätze, im August.

    Frederik und ich folgten gemeinsam dem Feldweg, der sich an Wiesen und Äckern entlang zum Wald schlängelte. Der Weg war staubig und in der Ferne zitterte die Luft.

    Wir machten gerne zusammen diese Streifzüge, folgten dem Weg erst und liefen dann querfeldein, verloren uns schließlich in den großen Wäldern. Die meisten anderen Kinder waren ohnehin in die Ferien gefahren. Manchmal entdeckten wir auf unseren Wanderungen etwas Besonderes: Einen Schmetterlingsflügel zum Beispiel oder eine tote Maus. Aber meistens konnten wir nur Grashüpfer fangen oder schöne Steine, Blätter oder Kiefernzapfen sammeln. Und wir vertrieben uns die Zeit mit dem Fragespiel.

    Ich stellte Frederik dann eine Frage: „Was ist das für ein Baum dort?, oder: „Erkennst du den Vogel?, und er antwortete. Meistens wusste Fred die richtige Antwort nicht, selbst wenn ich ihm die Frage schon einige Tage zuvor gestellt hatte.

    Ich meinte dann freundlich: „Aber Frederik, guck dir doch noch mal genau die Blätter an!"

    Er starrte hinauf ins dichte Laub, das da grün funkelte im warmen Wind. So als könnte sein angestrengter Blick den Baum bezwingen. Doch bald schon sah Fred ein, dass dieser Riese sein Geheimnis eisern hütete. Ohnehin war mein Bruder nicht gerade mit Geduld gesegnet.

    Sein Blick richtete sich nun hilfesuchend auf mich.

    „Das ist eine Eiche, Fred. Sieh doch, wie wellig die Blätter sind!, erklärte ich und fügte hinzu: „Die Eicheln kann man übrigens essen. Und am Mittelmeer gibt es auch Korkeichen. Die haben eine Borke aus Kork. Du weißt schon: Kork. Daraus macht man die Flaschenkorken. Es gibt hier bei uns Stiel- und Traubeneichen und…

    Frederik hörte immer sehr geduldig, scheinbar interessiert zu, merkte sich aber herzlich wenig. Er genoss es wohl lediglich, meiner Stimme zu lauschen, gab sich während meinen Ausführungen seinen eignen Träumereien hin. Ich dagegen erzählte auf diesen Spaziergängen nur allzu gern, wo sich doch sonst niemand für meine Abhandlungen interessierte.

    Tatsächlich hatte ich wohl von jeher eine Vorliebe zu elendigen Monologen.

    „Lass uns zum Fluss gehen", rief Frederik und unterbrach damit jäh meinen Bericht über die verschiedenen Entwicklungsstadien des Schwalbenschwanzes. Seine Augen strahlten, schon rannten wir gemeinsam in Richtung Fluss. Frederik wühlte sich durch ein Weizenfeld, ich nahm einen Weg zwischen diesem und dem nächsten Acker. Denn hatte uns beim letzten Mal nicht der junge Winkler, der Sohn vom alten Bauern, gehörig zurechtgewiesen? Besser gesagt: Er hatte mich zur Rede gestellt, denn Frederik war sogleich davongelaufen, als er den brüllenden Traktor vernommen hatte.

    Fred hatte bereits seine staubigen Sandalen abgestreift und ließ sich an eine Wurzel geklammert zum Wasser hinab, als ich die Böschung erreichte.

    Ich rief ihm zu: „Frederik... Sei lieber vorsichtig. Wir können noch nicht gut genug schwimmen, um allein..."

    „Ich will doch gar nicht schwimmen, nur ein wenig durchs Wasser laufen. Am Rand, wo’s nicht so tief ist. Meine Füße sind ganz heiß und schmutzig."

    Er schlitterte weiter den Abhang hinunter, dass die trockene Erde aufwirbelte. Ich zog nun ebenfalls meine Schuhe aus, stellte sie ordentlich nebeneinander ins Gras und folgte ihm.

    „Aber sei vorsichtig!", rief ich ihm zu, als er bereits seine Zehen ins Wasser tauchte. Er verzog das Gesicht.

    „Ganz schön kalt!"

    „Warte auf mich, ja?"

    Er murmelte nur: „Mmmh", war aber bereits ein Stück ins Wasser gelaufen. Es umspülte seine wie eh und je verkratzten Knie. Nun war auch ich unten angekommen und stellte mich mit verschränkten Armen ans Ufer.

    „Du solltest nicht so weit hineingehen. Die Strömung ist ziemlich stark, auch wenn der Fluss viel weniger Wasser führt als sonst. Das liegt an der Hitze und Trockenheit der letzten Tage."

    Irrigerweise war ich damals überzeugt, jedes Wissen müsse auf der Stelle verkündet werden. Erst später würde ich begreifen, dass es sich gerade andersherum verhielt.

    Fred watete durch das Wasser und ich folgte ihm trockenen Fußes auf seinem Weg flussaufwärts. Er musste sich ganz schön anstrengen, um gegen die Strömung anzukommen. Meine Arme waren weiterhin verschränkt. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete ich ihn, während ich über die teilweise recht spitzen Kiesel stolperte.

    „Du wolltest doch im flacheren Wasser bleiben", rief ich ihm in Erinnerung.

    „Ach was, Konrad! Die Strömung ist gar nicht stark. Ich könnte sogar noch weiter in die Mitte gehen, wenn ich..."

    Er war wohl auf einem Stein ausgerutscht, denn er geriet auf einmal ins Wanken, fuchtelte wild mit den Armen. Da er sich jedoch nirgends festhalten konnte, fiel er schließlich lachend ins Wasser. Ich sah ihn kopfschüttelnd an. Mutter würde mit uns schimpfen, wenn er mit nassen Kleidern nach Hause käme.

    „Jetzt komm da raus, Fred", meinte ich auffordernd. Er versuchte sich auch tatsächlich wieder aufzurichten, doch gelang es ihm nicht, auf den glitschigen Steinen Halt zu finden. Ein ziemlich blöder Ausdruck machte sich in seinem Gesicht breit.

    „Komm schon, Fred, bemerkte ich beinahe genervt: „Du treibst nur immer weiter ab. Und tatsächlich trieb er nicht nur flussabwärts, sondern geriet auch immer weiter in die Mitte des Flusses.

    „Konrad!", rief er nun ziemlich panisch und versuchte gegen die Strömung anzuschwimmen.

    „Was machst du denn?", schrie ich ihn an. Wie ein Verrückter fuchtelte er jetzt mit seinen Armen und schluckte bei seinem irren Gestrampel einiges Wasser. Ich rannte am Ufer neben ihm her.

    „Schwimm doch nicht gegen den Strom!, unterwies ich ihn. Er jedoch hörte mir nicht zu. „Kon..., schrie er lediglich und sein Kopf tauchte für einen Moment unter, ehe er wieder an der Wasseroberfläche erschien und Fred nach Luft japste. Auf den holprigen Steinen kam ich nicht gut voran, und so blieb ich schließlich stehen, während Fred immer weiter flussabwärts trieb.

    „Du musst schwimmen", rief ich ihm aus der Ferne zu.

    „Schwimm mit, nicht gegen die Strömung." Aber er scherte sich nicht darum, was ich sagte, schlug wild mit den Armen um sich, wie eine Gans, die man zu fangen versuchte .

    „Schwimm einfach zum Ufer!!!, befahl ich ihm. Doch Fred schrie nur immer wieder: „Konrad!!! So als könne das fortwährende Rufen meines Namens irgendetwas an seiner misslichen Lage ändern. Er war bestimmt schon zwanzig Meter entfernt von mir.

    „Frederik, du musst schwimmen, schwimmen!!!"

    Doch er versuchte noch immer, gegen die Strömung anzukämpfen. Und mit seinen Füßen konnte er einfach keinen Halt auf den glitschigen Kieseln finden. Inzwischen war er völlig außer sich, obwohl ihm das Wasser höchstens bis zur Schulter reichen mochte.

    „Konrad..."

    Seine Stimme wurde leiser, wie er da in die Ferne trieb. Ich sah ihm reglos hinterher, diesem kleinen Jungen, der da immer wieder meinen Namen rief. Und da machte sich dieses Gefühl in meiner Brust breit. Keine Freude. Gleichgültigkeit. Dann sollte es das also gewesen sein. Na schön. Eine Umstellung wäre es wohl, aber ich könnte mich damit arrangieren. Eine Woche vielleicht. Aber Mutter würde vermutlich ziemlich wütend sein. Schließlich war er doch mein Bruder und ein Bruder hatte nun einmal auf den andren acht zu geben. Kain und Abel: Soll ich denn der Hüter meines Bruders sein? Und überhaupt: Er war mein Bruder. Mein Bruder, den ich liebte wie nichts auf der Welt.

    Ich rannte so schnell ich konnte. Rannte. Rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Ignorierte den Schmerz, die angestoßenen Zehen, die zerschnittenen Sohlen. Ich rannte. Als ich ihn eingeholt, überholt hatte, warf ich mich ein Stück vor ihm ins Wasser, dass es zu allen Seiten spritzte.

    „Frederik! Ich bin da!"

    Ich schwamm nun ein Stück vor ihm, bemüht, einigermaßen in Ufernähe zu bleiben. In der Mitte war die Strömung stärker und so würde er schon bald an mir vorübertreiben. Das hatte ich nicht bedacht. Fred sah mich mit aufgerissenen Augen an und machte einige stümperhafte Bewegungen auf mich zu.

    „Komm zu mir! Los! Schwimm!"

    Er schlug mit seinen Armen um sich. „Schwimm!!! Wie Papa es und gezeigt hat! Wie ein Frosch!!!"

    Immerhin versuchte er nicht länger, gegen die Strömung anzukämpfen, sondern kam strampelnd und fuchtelnd auf mich zu. Als er sich schließlich an mich klammerte, fiel es mir schwer, meinen Kopf über Wasser zu halten, obwohl es mir gerade einmal bis zum Bauchnabel reichte. Ich stieß mich immer wieder vom Boden ab, schnappte nach Sauerstoff, versuchte Freds allzu festen Griff um meinen Hals zu lösen. Nur sehr langsam näherten wir uns dem Ufer.

    Als wir in der Wiese saßen und uns von der Sonne trocknen ließen und Frederik sein Zittern und Wimmern einigermaßen überwunden hatte, betrachtete er aus nächster Nähe meine geschundenen Füße.

    „Du hast doch gesagt, die Steine werden rund geschliffen vom Wasser", bemerkte er und schluchzte noch einmal auf. Doch es war bereits ein lästiges Schluchzen, das man nicht mehr los wurde wie einen Schluckauf, und kein echtes Schluchzen mehr. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten, die lange Schnittwunde mit seiner Fingerspitze zu berühren. Die rote Farbe des Blutes schien eine unwiderstehliche Wirkung auf ihn auszuüben.

    „Wieso waren die Steine also nicht rund, Konrad?, fuhr er fort und sah mich aus klebrig roten Augen an. Ich erwiderte, den Blick starr gegen Westen, wo die Sonne gerade hinter den Bergen verschwand: „Ich weiß es nicht, Fred. Manchmal ist etwas anders, als es sein sollte.

    *

    Ich konnte mich in den nächsten Tagen tatsächlich davon überzeugen, dass dieses Gefühl der Gleichgültigkeit meinem Zwillingsbruder gegenüber durch den Schock verursacht worden war. Daran glaubte ich fest. Es war der gleiche hartnäckige Glaube, zu dem ich mich auch bezüglich Gottes Existenz zwang. Doch tief in mir nagte der hässliche Zweifel. Ich war beherrscht wie eh und je gewesen. Sogar ganz besonders beherrscht. Kein Schock weit und breit. Und obwohl ich wusste, dass ich mich dafür hätte hassen müssen, dass ich ihn nicht liebte, hasste ich ihn dafür. Wahrlich hätte ich mir das niemals eingestanden.

    Meine schmerzenden Füße, ich konnte kaum gehen, auch wenn Mutter sie sorgfältig verbunden hatte, erfüllten mich nicht mit Stolz, aber ich nahm sie beinahe dankbar hin als Beweis meiner Bruderliebe und insgeheim auch als gerechte Strafe Gottes.

    Der Sommer zog sich nun, da ich fürs Erste nicht richtig gehen konnte, zäh hin. Wenn man jung ist, vergehen die Tage ohnehin sehr langsam. Ich las viel, manchmal las ich auch Fred vor, der aber schon nach wenigen Seiten mit seinem üblichen Gezappel begann.

    Ich liebte unser Naturkundebuch, eines der wenigen Bücher, die wir besaßen, abgesehen von diesen etwa zwanzig kitschigen Romanen aus dünnem Papier, in die sich meine Mutter jede Nacht fallen ließ. Später würde ich einen Widerspruch in ihrer trockenen Art und dieser Lektüre sehen, dann würde ich aber schließlich begreifen: Im tiefen Inneren sehnte sich Mutter nach Prinzen, Ärzten und Helden jeglicher Art, nach großen Emotionen und auch nach Reichtum und Glanz. Doch all das lag in unerreichbarer Ferne für diese Tochter einer einfachen Krämerfamilie, die sich schließlich, als sie schon zu altern begonnen hatte, mit dem gutmütigen aber einfältigen Sohn eines Bauern abgegeben hatte, dem dritt-geborenem wohlgemerkt.

    Wenn ich nicht las, beziehungsweise die bereits abgegriffenen Seiten betrachtete, denn ihr Anblick allein ließ bereits alle Sätze in mir aufsteigen, so saß ich im Laden auf der Theke und ließ meine bandagierten Füße baumeln.

    „Frau Schultz, diese Schokolade schmeckt ganz hervorragend. Der kleine Matthias wird sie sicherlich lieben. Mein Bruder ist auch ganz verrückt nach ihr., „Herr Klee, Ihre Zigaretten haben wir gerade nicht da. Neue kriegen wir erst nächste Woche. Aber ich werde Ihnen in Zukunft welche zurücklegen, ja?, „Frau Gruber, ich würde die günstigere Seife nehmen. Sie ist besser."

    „Aber Konrad, du bist viel zu ehrlich. So wirst du nie ein erfolgreicher Geschäftsmann werden!"

    „Ich möchte auch gar kein Geschäftsmann sein. Lieber werde ich einmal Arzt", erwiderte ich lächelnd.

    „Du bist wirklich ein guter Junge! Ich wünschte, mein Karl wäre auch nur halb so fleißig, wie du es bist. Er treibt sich nur mit deinem Bruder im Wald herum und kommt mit zerrissenen Hosen zurück!"

    Doch Frau Grubers Gesicht quoll über vor Wärme und Stolz. Dann fügte sie noch hinzu: „Er ist eben ein kleiner Rabauke und deinen Bruder steckt er jetzt, wo du hier im Haus sitzen musst, auch noch mit seinen verrückten Ideen an."

    „Sie bauen da draußen ein Baumhaus, erklärte ich: „Es wird wunderbar werden, hat Fred gesagt. Ein richtiges Baumhaus! Frau Gruber lächelte und zeigte dabei ihre schiefen Zähne. „Na, dann nehme ich die gute Seife. Ich werde sie brauchen. Sie drückte mir eine zusätzliche Münze in die Hand und flüsterte: „Wenn du fleißig sparst, kannst du dir ein Modellflugzeug kaufen oder eines dieser kleinen Autos. Ich erwiderte lächelnd: „Vielen Dank, Frau Gruber. Ich kaufe mir aber lieber ein neues Buch. Wir haben so wenige Bücher."

    „Na, dann geh doch Mal in die Bibliothek und leihe dir welche aus. Das ist praktischer und günstiger noch dazu."

    Ich sah sie fragend an. Die Biblio-Was?

    „Du weißt schon, Konrad: Das Haus gegenüber von der Kirche. Im Erdgeschoss!" Sie winkte mir zu, als sie aus dem Laden trat und die Glocke ertönen ließ.

    Ich quälte mich also, zwei Krücken zur Seite – Vater hatte sie mir gemacht -, zum Haus gegenüber der Kirche. Vater schnitzte sehr gerne und jeden Abend saß er im Hinterhof und verwandelte ein unförmiges Stück Holz in ein Figürchen – ob Mensch oder Tier - , in ein Türschild, das jemand bestellt hatte, oder eben in Krücken für seinen Sohn. Wahrscheinlich hätte ich Vater lediglich fragen brauchen: „Kannst du mich bitte auf deinem Gepäckträger zur Bibliothek bringen?, und er hätte in seinem Lied innegehalten und geantwortet: „Steig einfach auf und halte dich gut fest!

    Dann wäre er mit mir auf seinem rostigen Fahrrad summend durchs Dorf gefahren. Die blaue Farbe wäre bei jedem Treten abgeblättert und wir hätten wohl eine Spur aus kleinen Lackschuppen hinterlassen. Aber ich hatte Vater beim Aussortieren der alten Zeitungen nicht stören wollen und mich also allein auf den Weg zur Bibliothek gemacht. Und so stieg ich nun mühsam die drei Stufen hinauf, die zur Haustür des ziemlich kargen Gebäudes führten. Ich hatte nicht gewusst, dass sich hinter dieser dunklen Holztür die Bibliothek befand, obwohl wir jeden Sonntag an dem Haus vorbeikamen. Aber nicht einmal ein Schild wies auf den Schatz im Bauch des Gebäudes hin. Die Tür war schwer und ich konnte sie kaum öffnen, musste mich mit voller Kraft gegen sie lehnen. Dann betrat ich ein kahles Treppenhaus, in dem nur ein Pappschild stand.

    Erdgeschoss: Öffentliche Gemeindebibliothek

    Obergeschoss: Kanzlei Dr. Eichinger

    Dachgeschoss: Privat

    Ich ging auf die Tür gegenüber der Treppe zu und versuchte sie zu öffnen. Verschlossen. Enttäuscht und erschöpft ließ ich mich gegen sie fallen. Alle Mühe also vergebens! Dann bemerkte ich einen Zettel an der Wand. In unleserlicher Schrift, die erst entschlüsselt werden wollte, stand dort geschrieben:

    Wer ein Buch ausleihen möchte, der wende sich bitte an Dr. Eichinger (1. OG)

    Mo – Mi: 9:00 bis 12:00 Uhr

    Ich machte mich also auf den Weg zu Dr. Eichinger, klammerte mich an das abgegriffene Holzgeländer und hangelte mich mühsam aufwärts. Ich klingelte an der Tür und der kleine Mann mit dem lockigen grauen Haar und dem faltigen Gesicht, der mir noch so oft die Tür öffnen sollte, sah mich misstrauisch durch seine Brille an.

    „Du bist aber nicht Herr Tulpe, oder?, dann blickte er auf seine goldene Armbanduhr und murmelte: „Ohnehin haben wir erst einen Termin in einer halben Stunde ausgemacht.

    Ich sah den Mann etwas ängstlich an und erklärte: „Guten Morgen, Herr Eichinger, so wie meine Mutter es mir beigebracht hatte. „Konrad, und dass du die Leute auch immer bei ihrem Namen ansprichst!

    „Doktor Eichinger", wandte der Mann ermahnend ein. Ich sah ihn fragend an.

    „Die Titel, mein lieber Junge, darfst du nicht vergessen."

    „Die Titel?"

    „Nun, den Doktortitel zum Beispiel."

    „Sind Sie denn Arzt?"

    „Nein, ein Anwalt bin ich. Der einzige in diesem Provinznest."

    Es folgte ein kurzer Vortrag über die Art seines Berufes und das Studium an der Universität im Allgemeinen und schließlich noch über die Promotion im Besonderen. Ich hörte aufmerksam zu und kam mir sehr dumm dabei vor. Von alledem hatte ich noch nie etwas gehört. Hätte dieser seltsame Mann etwas über den Bussard erzählt oder über die Eidechse, dann hätte ich etwas Kluges erwidern können, aber so konnte ich nur seiner etwas schrillen Stimme lauschen.

    „Ich bin hier, weil unten ein Zettel hängt...", erklärte ich, als er mich endlich zu Wort kommen ließ.

    „Ach, die Bibliothek. Weshalb hast du das denn nicht gleich gesagt?"

    Nun machte sich ein gelassenerer Ausdruck in seinem Gesicht breit.

    „Ich hole den Schlüssel." Damit verschwand er, wie ich später lernen würde, in seiner Anwaltskanzlei. Er half mir, nachdem er meine Krücken bemerkt hatte, die Treppe hinunter und führte mich dann in die seiner Meinung nach überaus bescheidene Gemeindebibliothek ein.

    „Dort hinten findest du Prosa und unsere drei Lyrikbänder. Hier vorne stehen die Sachbücher. Es sind bestimmt zwanzig. Wir sind besonders was die heimische Flora betrifft reich bestückt."

    Er lachte gackernd. Er schien mir etwas verrückt zu sein, dieser Doktor Eichinger. Doch ich war so fasziniert von den vielen Büchern, dass ich auf den alten Mann nicht weiter achtete, der da etwas gelangweilt neben mir stand. Ich fragte vorsichtig: „Und die darf ich alle lesen?"

    „Du darfst sie sogar mit nach Hause nehmen, mein Junge. Du musst nur gut auf sie acht geben und sie nach einem Monat wieder heil zurückbringen. Für den Fall, dass noch ein zweiter Mensch in diesem Provinznest auf die Idee kommen sollte, ein Buch zu lesen."

    Ganze zwei Bücher brachte ich heim. Mehr konnte ich in Anbetracht der Krücken nicht transportieren. Es gelang mir gerade, eines auf jeder Seite unter den Arm zu klemmen. Als ich zu Hause ankam, begann ich sogleich mit der Lektüre. Das eine Buch hieß Das Geheimnis der Zahlen und war ein Mathematikbuch, das seine besten Tage bereits hinter sich gebracht hatte. Die Seiten rochen nach altem Käse und ich hielt es daher immer in einiger Entfernung, wollte es schon gar nicht auf mein Kopfkissen legen, wo ich doch gerne auf dem Bauch liegend las. Das andere Buch war ein Märchenbuch mit unheimlichen Zeichnungen. Eigentlich hatte ich ja ein Buch über Gartenkräuter ausleihen wollen, hatte es schon aus dem Regal gezogen. Doch als ich dann das Märchenbuch entdeckt hatte, hatte ich nicht länger an dem Bildungsvorsatz festhalten können. Außerdem: Auch über Märchen hätte ein gebildeter junger Mann Bescheid zu wissen!

    Früher hatte uns Vater oft Märchen vorgelesen, manchmal bis tief in die Nacht. Auch wenn sein Lesen nie besonders flüssig gewesen war, hatte es mir doch immer sehr gefallen. Vater hatte stets mit ganzer Seele gelesen. War eine Geschichte traurig gewesen, und viele Märchen waren im Grunde sehr traurig, hatte er oftmals zu weinen begonnen.

    „Das ist so furchtbar. Das arme Mädchen. Erst verliert es die Mutter und jetzt..."

    Fred und ich hatten dann unsere dünnen Arme um seinen wuchtigen Bauch geschlossen, bis er seine Fassung wiedergefunden hatte und weiterlesen konnte. Eines Tages hatte Mutter jedoch verkündet: „Ihr beide seid jetzt zu alt fürs Vorlesen, dann hatte sie Frederik streng angesehen und hinzugefügt: „Ihr müsst euch jetzt im eigenen Lesen üben.

    Nicht, dass Fred daraufhin noch ein Buch ergriffen hätte!

    In den folgenden Monaten, Jahren, würde ich Doktor Eichinger jede Woche besuchen. Wir einigten uns, als die Schule wieder begonnen hatte, auf Mittwochabend. Doch schon bald hatte ich alle Bücher, die es in der Bibliothek gab, gelesen. Als ich also erneut das stinkende Mathematikbuch ausleihen wollte, fragte mich Doktor Eichinger: „Hast du dieses Buch nicht schon einmal ausgeliehen?"

    Der Doktor hatte nämlich ein ganz ausgezeichnetes Gedächtnis; so viele Schwächen er anderweitig auch gehabt haben mochte. Vielleicht war er sogar trotz einiger unübersehbarer Makel, ein recht akzeptabler Mentor.

    Ich sah den alten Mann verlegen an. „Ich habe alle Bücher schon einmal ausgeliehen. Also fange ich wieder von vorne an. Schließlich habe ich vieles schon wieder vergessen oder beim ersten Mal nicht verstanden."

    Von diesem Abend an ließ mich Doktor Eichinger Bücher aus seiner privaten Sammlung ausleihen, die besser bestückt und etwas sortierter war. Es schien, als hätte ich mir den Zutritt zu seinem Bücherreich erst verdienen müssen.

    Da gab es einige Klassiker der Weltliteratur in seinem Regal, die mich in fremde Zeiten und Welten entführten. Er schätzte die Dramen der alten Griechen.

    „Alles andere nur müder Abklatsch!"

    Shakespeare fand er zu englisch, Goethe zu belehrend, Schiller zu gehaltlos.

    „Aber man muss die alten Schinken zumindest einmal gelesen haben", pflegte er zu sagen.

    Ein paar Geschichtsbücher besaß er auch. Wieder waren ihm die Griechen und Römer die liebsten, auch vermochte er noch großen Gefallen am Mittelalter zu finden. Man merkte ihm doch eine gewisse Liebe zur „germanischen" Geschichte an. Friedrich I, Barbarossa also, war ihm besonders lieb. Die neuere Geschichte vermochte ihn dagegen überhaupt nicht zu interessieren. Vermutlich waren die Zeichen der Zeit nicht spurlos an ihm vorüber gegangen. Auch besaß der Mann einige philosophische und naturwissenschaftliche Bücher. Aber vor allem gab es da juristische Fachbücher in seinem verstaubten Bücherregal, deren Titel ich nicht einmal verstand.

    Doktor Eichinger und ich trafen uns wie gehabt mittwochabends, aber nun unterhielten wir uns über das, was ich gelesen hatte, und er versuchte zu erklären, was ich nicht verstand. Nur über die juristischen Bücher wollte er nicht sprechen, nicht einmal lesen durfte ich diese Bücher.

    „Zum einen, mein Junge: Es sind Nachschlagewerke. Sie eignen sich nicht zur Lektüre. Zum anderen: Die Juristerei verfolgt mich bereits den lieben langen Tag. Wenigstens abends will ich verschont bleiben von ihr!"

    Ich akzeptierte diese Regelung bereitwillig, schienen mir die dicken Wälzer doch ohnehin sehr trocken und langweilig. Nicht, dass alle andren Bücher gerade packend gewesen wären!

    Wie ich nun wusste, wohnte Doktor Eichinger von Donnerstag bis Sonntag in der Stadt und langweilte sich also von Montag bis Mittwoch in unserem Provinznest ganz schrecklich, so dass er sich immer sehr über meine Besuche freute. Zumindest er empfand also Freude.

    Doktor Eichinger half mir beim Verstehen der großen Literatur, brachte mir auch das Mühle- und das Schachspiel bei und weihte mich ein in die Kunst des Sarkasmus und der Ironie. Ich sträubte mich lange diese Wortdrehereien, die mir insgeheim etwas verlogen und hinterhältig vorkamen, zu gebrauchen, obwohl sie mir bald zu jeder Zeit auf der Zunge lagen. Es gelang dem Doktor, mich davon zu überzeugen, dass Diskussionen lehrreich waren und man nicht unbedingt zu einer Einigung gelangen musste, ja dass ein Mensch seine Ansichten manchmal sogar stur gegen allen Widerstand verteidigen musste.

    „Und merke dir, Konrad: Nur wer kritisch denkt, vermag zu erkennen!"

    „Was zu erkennen?", fragte ich und betrachtete mit schrägem Kopf eine Kopie Dürers Hasen an der ausgeblichenen Wand.

    „Alles, mein Junge. Alles."

    Nach einigen Jahren jedoch, da war ich wohl fünfzehn, war Doktor Eichingers Freude an meiner Gesellschaft so gut wie dahin. Meine Wissbegierde wurde ihm allmählich lästig und zugleich, doch das wollte er sich nicht eingestehen, gab es auch nicht mehr viel, was er mich hätte lehren können. Viele Bücher, die da in seinem hohen Regal standen, hatte er selbst nie gelesen. Dass er sie dennoch ausstellte wie Trophäen, war möglicherweise heuchlerisch aber mit Sicherheit peinlich. Dies jedoch war nicht der eigentliche Todesstoß unserer Beziehung: Doktor Eichinger konnte meine Frömmigkeit nicht länger ertragen und wir führten einen fortwährenden und unerbitterlichen Glaubenskrieg in dem ich Gott sicherlich ebenso inbrünstig verteidigte wie es der Erzengel Gabriel an meiner statt getan hätte.

    „Du bist ein verdammter Narr!", rief Doktor Eichinger dann, hatte das Gespräch seinen Höhepunkt erreicht. Der alte Mann tauchte seinen langen Zinken ins Rotweinglas, nahm einen kräftigen Schluck zur Kühlung der überhitzten Gemüter und hustete darauf erbost.

    „Siehst du denn nicht, dass es keinen Gott gibt? Hast du das denn noch immer nicht verstanden?"

    Sein stechender Blick hätte mich sicherlich eingeschüchtert, wäre ich ihn nicht ebenso gewohnt gewesen wie seinen schrillen Tonfall, der oftmals zu ersticken schien vor spröder Trockenheit.

    Ich blieb ruhig. „Doktor Eichinger, ich verstehe durchaus, dass der Mensch auf Gott seine Sehnsüchte projiziert, bei diesem Wort musste ich immer acht geben, mich nicht zu versprechen: „Ich sehe auch ein, dass viele Menschen den Glauben für ihre Zwecke missbrauchen und dass viel Schlechtes geschieht auf dieser Welt – trotz Gott. Kurz um: Die Theodizee. Aber warum sollte es deshalb keinen Gott geben? Der Mensch ist nun einmal fehlerhaft und erst mit dem Sündenfall ist all das Übel auf die Welt gekommen.

    „Konrad!!!"

    Der Doktor war nun wirklich zornig.

    „Was sind das für alberne Kindermärchen? Wie kannst du nur so verbissen an einem solchen Humbug festhalten!"

    „Doktor Eichinger, wie können Sie so verbissen an Ihren Zweifeln festhalten?"

    Nun leuchtete die rote Farbe auf seinen pergamenternen Wangen, die er sich im Laufe des Abends so fleißig angetrunken hatte. Er fuhr aufgebracht fort: „Das musst du doch einsehen, Konrad! Bevor etwas als tatsächlich angenommen werden kann, muss es erst einmal bewiesen werden!"

    „Vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus mögen Sie Recht haben. Aber die Frage nach Gott ist keine naturwissenschaftliche Frage; sie spielt sich in einer ganz anderen Dimension ab. Der Glaube braucht keinen Beweis, eben weil er Glaube ist."

    „Aber Konrad, die Menschen glauben nur, weil sie einen Sinn wollen und einen Gott. Aus Angst nämlich. Aus Angst vor dem Tod."

    „Man kann nicht glauben, weil man es will. So wenig wir man hofft oder liebt, weil man es will. Der Glaube wird dem Mensch von Gott geschenkt in seiner Gnade und der heilige Geist ist der Bote dazu."

    Doktor Eichingers Gesicht verwandelte sich in eine schmerzerfüllte Grimasse, dann begoss er seinen Verdruss mit weiterem Wein.

    „Sie sind mir nun doch nicht böse?, fragte ich ihn vorsichtig: „Immerhin haben Sie mich doch zu widersprechen gelehrt!, und ich grinste ihn bösartig an. Mit einem bösartigen Grinsen und einer bissigen Bemerkung hatte ich ihn meistens versöhnen können.

    Einen Moment herrschte ernstes Schweigen. Ich starrte auf den hässlichen Hasen an der Wand gegenüber. Nicht, dass Dürers Eichhörnchen mir besser gefallen hätte, davon konnte ich mich bei jedem meiner Besuche überzeugen. Dieses Kunstwerk nämlich hing im Flur.

    „Du bist ein guter Junge, Konrad", erwiderte der alte Mann schließlich und schüttelte müde den Kopf. Dann nahm er wieder einen Schluck Wein.

    Zögerlich fügte er hinzu: „Ein zu guter Junge vielleicht. Aber du wirst die Wahrheit irgendwann erkennen und dann wirst du endlich befreit sein von diesen albernen Vorstellungen, die sie dir da drüben, er zeigte mit seinem zittrigen knochigen Finger zum Fenster hinaus auf die Kirche, die in der Dunkelheit des Winterabends nur als Schatten zu erahnen war: „die dir dieser lausige Pfarrer da drüben einimpft.

    Ich verkniff mir eine Erwiderung, weil ich den Alten nicht weiter reizen wollte. Mit den Jahren waren seine Reden immer aggressiver und herrischer ausgefallen, seine Argumentation war immer absoluter und doch schwächer geworden. Es hatte keinen Zweck, sich mit ihm anzulegen.

    Ob Doktor Eichinger nun bezüglich Gottes Existenz richtig lag oder nicht, zumindest mit einer seiner Aussagen lag er falsch. Ich glaubte nicht, weil der Pfarrer, dieser dickliche, pickelige Mann, der höchstens noch an einen Schweinehirten gemahnte, irgendeinen unlauteren Einfluss auf mich hatte - oder gar meine Eltern, die doch eigenständig noch keinen einzigen Vers der heiligen Schrift gelesen hatten. Ich glaubte, weil ich mir den Glauben selbst mit all meiner Kraft „einimpfte, wie es der Doktor genannt hatte. Selbst-kasteiend rammte ich mir die Spritze tagtäglich ins Fleisch und verabreichte mir das heilige Serum. Zwar war ich kein Ministrant, wie Fred es war, denn meine knapp bemessene Zeit ließ dies kaum zu und zudem taten die Ministranten mehr Unsinn als Dienst an Gott, aber ich besuchte die Kirche, so oft ich nur konnte. Nicht nur jeden Sonntag, nein oft auch unter der Woche fand man mich im Gotteshaus. Dort kniete ich still vor der heiligen Jungfrau in blauem Gewand, die da ein wissendes Lächeln aufgelegt hatte, und betete ehrfürchtig. Ich war sozusagen ihr größter Fan. Stets zündete ich eine Kerze an und dankte jedem für alles und betete nie für mich selbst. Alle Heiligen in den bunten Fenstern waren sich sicher: Wenn einer einen Platz im Himmel verdient hatte dann der sittsame Junge dort unten zu Füßen der Maria. Petrus hätte mich mit offenen Armen empfangen. Dann hätte er, während er mit dem großen Schlüssel hantierte, beiläufig bemerkt: „Wir warten alle schon so lange auf dich. Er spricht in den höchsten Tönen von dir.

    Ich hätte selbstverständlich äußerst bescheiden zu Boden geblickt. Dann wären die großen Torflügel aufgeschwungen und unter wunderbaren Sphärenklängen hätte Petrus lächelnd erklärt: „Dann Mal ‘rein in die gute Stube!"

    Vielleicht scheint es hier irrtümlicherweise so, als hätte ich Doktor Eichinger gern gehabt, den alten Mann gut leiden können. Tatsächlich jedoch plagten mich vor jedem Treffen Bauchschmerzen. Sie saßen etwa auf Höhe meines Bauchnabels und standen in Zusammenhang mit einem latenten mittwöchigen Durchfall.

    Diese Stunden in Doktor Eichingers Wohnzimmer waren weit furchterregender als jede Klassenarbeit. Der Alte nämlich stellte mich nicht nur auf die Probe, sondern quälte mich mit Abscheu und mitunter Geschrei, wann immer ihm eine meiner Meinungen nicht passte. Auch fluchte er manchmal, dass ich es kaum ertragen konnte. Zudem war ich durch die bevorstehenden Treffen gezwungen, die bisweilen unerträglich trockenen und unverständlichen Bücher zu lesen, die im besten Fall noch einige Abbildungen enthielten. Von einer Zeichnung quälte man sich dann dankbar über jedes entfallene Wort zur nächsten, wie ein Schiffbrüchiger von einer Sandbank zur anderen ohne doch jemals wirklich trockenen Fußes zu sein.

    Es stellt sich natürlich die Frage, wieso ich mich dennoch auf diese grauslichen Treffen einließ und zudem noch an meinen eignen Meinungen festzuhalten versuchte. Für diesen Entschluss waren wieder einmal zwei Dinge verantwortlich: Zum einen eine übergroße Selbstbeherrschung und zum anderen eine überstarke Vernunft. Denn ich wusste, dass Doktor Eichinger mir Dinge beizubringen vermochte, die mich sonst niemand hätte lehren können. Und wie Mutter zu sagen pflegte: „Lerne so viel du nur kannst, Konrad. Wissen ist niemals von Schaden."

    Doktor Eichingers größter Verdienst war es dabei, dass er mir sozusagen die Zunge gerade bog. Er trieb mir den Dialekt aus und lehrte mich in Rhetorik. Zum einen lernte ich dabei durch das bloße Zuhören, denn der Doktor war ein ziemlich respektabler Sprecher, zum andren korrigierte mich der Mann zumindest zu Beginn unserer Bekanntschaft fortwährend, ließ kaum einen meiner Sätze bestehen. Zudem wurde ich durch Doktor Eichingers Unterricht in eine Disziplin eingeführt, die ich in einigen Jahren in Perfektion beherrschen würde. Noch war ich zwar ein wenig unbeholfen, doch später würde es mir gelingen, nahezu mühelos von einer Rolle in die andre zu schlüpfen. Unter des Hasens wachsamen Blick übte ich mich zum ersten Mal im Spiel, auch wenn ich mich noch nicht ganz und gar von mir lösen konnte. Denn war ich dem alten Mann gegenüber auch skeptisch, bisweilen herausfordernd und stets um Wortgewandtheit bemüht, so gelang es mir doch nicht, meine schlichte Bodenständigkeit loszuwerden. Und gab ich mich Zuhause und in der Schule brav, friedliebend und zurückhaltend, so fiel es mir doch schwer, meinen kritischen Geist einfach auszuschalten und das Erlernte bis zum nächsten Mittwoch zu vergraben. - Wie mich Mutter angesehen hatte, als ich eines Mittags am Tisch erklärt hatte, Frau Meier wäre der jovialste Mensch, den es wohl auf diesem Planeten gäbe. Ihre Züge waren hart geworden und sie hatte bemerkt: „Du sollst nicht so über andre Menschen sprechen, Konrad."

    Ich hatte sie irritiert angesehen, dann beschämt in meiner Kartoffelsuppe gelöffelt. Widerspruch war von Mutter noch nie toleriert worden.

    Nach einer ziemlich langen Pause hatte Fred schließlich bemerkt: „Konrad sagt doch nur, was ohnehin alle denken. Die Alte ist komplett irre. Karl hat sie neulich mit seinem Vater verwechselt. Mit hundertundfünfzig ist man vermutlich nicht mehr ganz klar im Kopf."

    Er hatte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe getippt, ihn dann mitsamt seinem Kopf kreisen lassen. Das breite Grinsen entblößte Petersilie zwischen seinen Zähnen. Die saß bei ihm immer am gleichen Eckzahn.

    Mutter sah nun auch ihn tadelnd an. Nach einigen Minuten der Stille kam dann noch ein zweites Thema auf den Tisch. Vater solle endlich den Schuppen aufräumen - Ihren stechenden Blick nahm Vater jedoch überhaupt nicht war, fragte stattdessen: „Was bedeutet jovial?"

    „Das wird dir Konrad erklären können!"

    Den Löffel hielt sie fest in der Hand.

    „Jovial bedeutet fröhlich. Weil Frau Meier… Sie freut sich über alles und jeden und…"

    „Ist ja auch völlig nebensächlich, unterbrach Mutter mich jäh. „Ich möchte, dass du nachher den Schuppen aufräumst, Josef. Man kann sich da drinnen ja kaum noch um sich selber drehen.

    Und wo ich mich gerade alter Tage besinne, sind wohl auch einige Sätze über die Schule angebracht. Irriger Weise könnte man meinen, für einen strebsamen, wissensdurstigen Jungen, oder einen, der sich die größte Mühe gab, solch ein Junge zu sein, könnte es keinen schöneren Ort auf der Welt geben als eine öffentliche Lehranstalt. Tatsächlich jedoch empfand ich den Unterricht in diesem heruntergekommenen Bau, den auch die künstlerischen Meisterwerke der nicht einmal mittelmäßig begabten Dorfjugend nicht aufzuwerten vermochten, als fortwährende Qual.

    Es ist wohl bereits zu erahnen, dass ich nicht viel Neues lernte im sogenannten Unterricht. Trotzdem immer aufmerksam zu sein, war eine bisweilen zu große Herausforderung selbst für meine Selbstbeherrschung. Ich tuschelte nicht mit meinem Nachbarn. - Ohnehin hatte ich bald eine Bank für mich allein oder teilte sie mir mit dem größten Trottel. Diesen freilich hatte mir dann die Lehrerin zur Seite verpflanzt, damit ich ihm ein bisschen behilflich wäre – oder ihr. Ich schrieb auch keine Zettelchen oder kritzelte auf meinen Tisch und las erst recht nicht in Comicheften. Nicht einmal meine Stifte wagte ich zu sortieren, um ehrlich zu sein. - Stattdessen träumte ich, oder besser gesagt: Ich dachte nach, denn ich gab nie viel auf Luftschlösser.

    Über die Gespräche mit Doktor Eichinger ließ sich Stunden grübeln oder über die Texte, die ich kürzlich gelesen hatte. Blickte man

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