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Schnappgeschossen: Wenn ich groß bin, werde ich erwachsen
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Schnappgeschossen: Wenn ich groß bin, werde ich erwachsen
eBook273 Seiten3 Stunden

Schnappgeschossen: Wenn ich groß bin, werde ich erwachsen

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Über dieses E-Book

Eine bunte Reise durch ein turbulentes Leben, festgehalten in kurzen und manchmal wirklich absurden Momentaufnahmen. Prall gefüllt mit Humor, Selbstironie und einer Prise Zynismus.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. März 2023
ISBN9783347795853
Schnappgeschossen: Wenn ich groß bin, werde ich erwachsen
Autor

Betti Stewart

Autorin, Sängerin, ewig 29-jährige Diva bei Nacht - halbwegs vernünftige, berufstätige Frau bei Tag. Betti Stewart kehrte ihrer Heimat Anfang zwanzig den Rücken zu, verließ Deutschland um nach England zu heiraten, machte als Army-Braut mit ihrem Mann einen kurzen Abstecher nach Zypern, entschied sich nach 14 Jahren in Großbritannien ihren Weg alleine weiterzugehen und wählte als Ziel eine der schönsten Städte der Welt: Wien. Grund? Da war sie noch nie. Inspiriert vom kulturellen Hintergrund der Stadt fing sie an, in diversen Bands zu singen und Song-Lyrics zu verfassen. Zudem spürte sie zunehmend den Drang, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Gespickt sind diese mit Humor, Selbstironie, ein bisschen Zynismus und Wehmut. "In meinen Adern fließen statt Blut Worte und Noten," so beschreibt sie sich gerne selbst.

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    Buchvorschau

    Schnappgeschossen - Betti Stewart

    Die erste Beichte

    Was macht man, wenn man als Achtjährige gefangen und von Übelkeit geplagt in einer Kirche sitzt? Man sieht sich nach einem Fluchtweg um. Nur schien die Flucht an dem Tag unmöglich. Die Augen des Pfarrers waren überall, besonders auf uns Kindern. Ich verwarf den Gedanken, mich unter die Kirchenbänke zu schmeißen und gen Ausgang zu robben. Es war ein Frühlingsnachmittag vor vielen, vielen Jahren. Die erste Beichte stand bevor. Die Feuertaufe vor der Erstkommunion. Der Angstgegner eines jeden Volksschülers. Wer beichtet, muss in die Kirche. Und in unserer Gemeinde regierte dort - wie die Wiedergeburt der spanischen Inquisition - er: Pfarrer Arnestus. Er war der furchteinflößendste Mann meiner Kindheit. Groß, mit eisgrauem Haar, der Scheitel wie mit einem Lineal durchzogen. Wenn er seine Messen abhielt, stand er wie ein schwarzer Rabe vor dem Altar, wippte auf seinen Fußspitzen auf und ab und predigte Feuer und Schwefel. „Zwei Entschuldigungen lasse ich gelten, wenn ihr sonntags nicht in die Kirche kommt, donnerte er. „Entweder ihr seid schwer krank oder ihr seid tot. Ich nahm mir vor, an Schwindsucht zu erkranken. So könnte ich meine Tage wenigstens auf eine Liege gebettet auf einer Terrasse irgendwo in den Alpen verbringen, statt jedes Wochenende mit der Hölle bedroht zu werden. Er hatte halt einen ganz besonderen Charme, der Arnestus. Kein Wunder, dass wir Kleinen uns allesamt in die Hosen machten, wenn sein starrer Blick uns während seiner Predigten fixierte. Ich komme aus einer katholischen Familie und deswegen war der sonntägliche Kirchgang bei uns fest im Kalender. Ob wir wollten oder nicht, wir mussten hin. Das Ganze zog sich, bis ich etwa achtzehn Jahre alt war. Die Nacht vorher durchgemacht? Um fünf Uhr früh nach Hause gekommen? Verkatert? Kein Problem! Gott wird’s schon richten! „Ihr füllt doch so schön eine Kirchenbank." So lauteten die Worte meiner Tante, die gleichzeitig auch die Pfarrsekretärin war. Klar, wenn die Eltern mit fünf Kindern und einer Oma im Schlepptau kamen, war das Gotteshaus schon mal gefühlt halb voll (ich war schon als Kind sehr sarkastisch). Die einstündige Tortur erleichterte ich mir, einfallsreiches Kind, das ich war, mit Lesen. Ich schmuggelte regelmäßig kleine Pixi- Bücher mit, die gerade mal so groß waren, dass sie in eine Handfläche passten. Während mein Umfeld also dachte, dass ich im stillen Gebet verharrte, suchte ich in Wirklichkeit das Abenteuer mit Petzi und Freunden.

    Mit zarten acht Jahren wurde ich also auf die Kommunion vorbereitet. Damit verbunden war einmal die Woche der Kommunionsunterricht. Man musste natürlich jedes Mal pünktlich erscheinen, denn wenn man aus irgendeinem Grunde nicht kommen konnte, beharrte Arnestus darauf, dass diese verpasste Stunde privat bei ihm Zuhause nachgeholt würde. (Es sein denn, man war krank oder tot, remember?) Man kann sich vorstellen, dass die Aussicht darauf unsere kleinen Herzen mit Grauen erfüllte.

    Und ein paar Tage bevor wir also in unseren weißen Kleidchen vor den Altar traten, mussten wir im Zuge der allerersten Beichte die schlimmen Verbrechen gestehen, die wir als kleine Achtjährige begangen hatten. An diesem Tag saß ich im Pfarrheim, kaute auf meinen Bleistift herum und überlegte, was ich in der stickigen und engen Dunkelheit des Beichtstuhls zum Besten geben könnte. Mir fiel nichts ein. Hilfesuchend schielte ich rüber zu meinem Nachbarn, der eifrig auf einem Stück Papier herumkritzelte. Als er meinen Blick bemerkte, schob er den Arm schützend über das Blatt. Dachte sich wohl, ich könnte ja seine Sünden klauen. Als ob! Ich hatte eh sicher bessere als er. Seufzend fing ich an zu schreiben: „Ich war frech zu meiner Mutter. Ich habe unserem Hund einen Klaps gegeben. Ich habe meinen Bruder angelogen. Das sollte genügen! Das musste ja alles glaubhaft erscheinen. Zudem war ich nicht auf eine strenge Strafe erpicht. Wer weiß, was der alte Vogel sich einfallen lassen würde. Am Ende müsste ich noch die Kelche polieren oder die Heiligen entstauben. Wenig später begaben wir uns vom sonnendurchfluteten Klassenzimmer in die dunkle Kälte der Kirche, reihten uns auf einer Bank auf und warteten auf die Inquisition. Den Fluchtgedanken hatte ich schon aufgegeben, und irgendwann war ich dann dran. Ich kauerte mich auf den Sitz, senkte die Augen, nahm eine, wie ich dachte, demütige Haltung ein, murmelte: „Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt…, und schickte mich dann an, meine kurze Liste, die ich natürlich mitgeschmuggelt hatte (im Falle, dass ich etwas vergessen würde), runterzubeten. Ich glaube nicht, dass meine Gräueltaten Arnestus besonders beeindruckten. Er verdonnerte mich zu fünf Vaterunser und zehn AveMaria, die ich nachher in Windeseile runterleierte. Danach rannte ich raus in die Sonne und war endlich frei. Frei von Sünde, frei von Übelkeit und frei, um das zu tun, was ein kleines Mädchen an einem Frühlingstag eigentlich tun sollte: spielen.

    Die Kommunionsfeier einige Tage später ließ mich diesen schrecklichen Nachmittag übrigens dann schnell wieder vergessen, denn es gab viele Geschenke und Süßigkeiten. Am Ende war ich doch nur ein ziemlich materialistisches Biest und nicht das fromme kleine Ding, das sich Arnestus sicher gewünscht hätte. Wahrscheinlich hatte er bei mir noch Hoffnung, hatte ich doch als Sechsjährige beim Krippenspiel zwei Jahre zuvor als Engel verkleidet „Vom Himmel Hoch gesungen. „Das Kind hat so eine schöne helle Stimme… - „Das Kind war das einzige, das sich freiwillig für diese Rolle meldete", dachte ich.

    Meine Sünden blieben im Endeffekt nicht lange aus. Nur habe ich sie niemandem, der in ein schwarzes Gewand und einen weißen Kragen gekleidet war, jemals wieder gestanden. Und siehe da: Aus mir ist trotzdem etwas geworden, und ich lebe noch!

    Der erste Kuss

    Ich erinnere mich gern an meinen ersten Kuss. Also an meinen ersten richtigen Kuss. Ich habe auch schon davor geküsst. Ein bisschen. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, spielte ich mit den Nachbarskindern im Keller „Verstecken im Dunkeln", und Peter, der Sohn des Hauses gegenüber, stahl in der Dunkelheit ein ganz kurzes und freches Bussi von mir. Ich war recht verlegen, und als das Licht wieder angeschaltet wurde, tat ich so, als wäre nichts geschehen.

    Spulen wir ein paar Jahre vor. In der Schule war ich ein ziemlich gescheites Kind (bevor Jahre später das nächtliche Herumtreiben in Clubs interessanter wurde, als pünktlich zum Unterricht zu erscheinen) und hatte ohne große Anstrengungen immer gute Noten geschrieben. Davon wollte der eine oder andere Klassenkamerad profitieren. Unter anderem auch Dirk. Dirk hatte einen ganz besonderen Charme. Zu jeder Jahreszeit hing unter seiner ziemlich langen Nase ein Tautropfen. Es war faszinierend, diesen Tropfen zu beobachten. Dirk schnäuzte sich nämlich nie die Nase, und so baumelte der Tautropfen, ständig ums Überleben kämpfend, 365 Tage im Jahr an seinem Riecher. Dirk war kein guter Schüler, und so machte er es sich zur Aufgabe, mich dazu zu überreden, seine Hausaufgaben zu machen. Seine Gegenleistung? Ein Kuss von ihm… Nun muss man wissen, dass ich gerade einmal elf Jahre alt war und, nachdem ich den ersten Versuch eines Bussis vom Nachbarsjungen schon längst vergessen hatte, ziemlich neugierig war, wie sich so ein Kuss anfühlt. Enttäuschenderweise war das Ereignis so romantisch wie der kalte Wintertag, an dem es stattfand. Wir saßen auf dem Spielplatz, er beugte sich vor, seine Nase rieb an meiner Wange entlang und hinterließ eine feuchte Spur, und seine Lippen landeten irgendwo links von meinem Mundwinkel. Das Ganze dauerte weniger als drei Sekunden. Danach hatte ich vom Küssen erst einmal die Nase voll. Dirk auch. Aus den schon erwähnten Gründen.

    Fünf Jahre später, irgendein Samstagabend: Ich war mit einer Freundin in einer Disco. Das war in den achtziger Jahren, wo es noch Discos gab. Meine Freundin und ich tanzten ein bisschen schüchtern und peinlich berührt als einzige auf der klebrigen Tanzfläche, als mein Blick den eines jungen Mannes an der Theke traf. Ich war kein besonders hübsches Mädchen, umso mehr war ich überrascht, als ich auf dem Weg, mir etwas zu trinken zu holen von dem jungen Mann angesprochen wurde. Misstrauisch schaute ich über meine Schulter, ob hinter mir nicht irgendeine andere stand, die sein Interesse erweckt hatte, denn ich war davon überzeugt, dass er in einer ganz anderen Liga als ich spielte. Doch er sprach mich an. Mich. Manche mögen sich vielleicht daran erinnern, wie die darauffolgende Unterhaltung lief, zu Zeiten, in denen man sich noch unterhielt. Man redete über Musik, darüber, wie doof die Eltern/ Geschwister/ Lehrer waren, über die neuesten Filme, und so weiter und so fort. Die Zeit raste dahin, und irgendwann war es dann Zeit, sich zu verabschieden (meine Mutter hatte die Angewohnheit, wie ein Racheengel im Nachthemd in der Tür zu stehen, wenn ich zu spät nach Hause kam).

    Mit Bedauern griff ich also meine Jacke und drehte mich um, als er mich am Ärmel packte und an sich zog. Es fühlte sich so natürlich an, als er seinen Kopf senkte und sein Mund auf meinen traf. In diesem Moment passierte etwas, das ich vorher nur aus Filmen oder Büchern kannte. Die Welt um mich herum verblasste, und der Boden unter mir schwankte. Ich hatte vor lauter Verzückung fast das Bewusstsein verloren. Und als ich wieder zu mir kam, machte ich etwas, für das ich mich noch wochenlang hinterher hätte ohrfeigen können. Ich sagte „Danke! und ging. Meine älteste Schwester sagte einmal, dass ich ein recht ‚sperriges‘ Kind war. In dem Moment bewies ich es wohl. „Danke!

    Danach habe ich den Jungen nie wiedergesehen. Ich bin noch oft an Samstagabenden in diese Disco gegangen, aber der Junge tauchte nie wieder dort auf. Der Junge ohne Namen. Seinen Kuss habe ich nie vergessen… Mein erster richtiger Kuss!

    Schlaraffenland

    Als ich klein war, wollte ich immer ins Schlaraffenland ziehen. Ich wollte mir ein kleines Lebkuchenhaus am Bach bauen, in dem statt Wasser Milch mit Honig floss (im Bach, nicht im Haus) und mit Messer und Gabel bewaffnet auf die gebratenen Hähnchen warten, die in regelmäßigen Abständen vorbeiflogen. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als in einem Land zu leben, in dem es überall Süßigkeiten und Reichtum gab. Das Konzept Diabetes und Herzinfarkt gab es in meinem kleinen Gehirn damals noch nicht. Und so saß ich in der Vorweihnachtszeit in unserem Esszimmer auf dem Boden, den Rücken an die Heizung gelehnt und lauschte entzückt und sehnsüchtig diesem Märchen auf einer kratzigen Schallplatte, während meine Mutter am Tisch saß und sich die Nägel lackierte, Frauenzeitschriften las und andere Dinge tat, die eine Hausfrau in den Siebzigern so machte. Damals konnte man das noch. Es war eine schöne und stille Zweisamkeit, geschwängert vom Geruch des Nagellackentferners. Ich mochte die Vorweihnachtszeit in unserem Haus sehr. Das Kaminfeuer im Wohnzimmer prasselte, im Hintergrund spielte hin und wieder leise klassische Musik, abgewechselt von Weihnachtsliedern, die noch kratziger klangen als meine Märchen. Und auch wenn es im Haus nicht immer nach frisch gebackenen Keksen duftete - es wurden kurz vor dem vierten Advent lediglich ein paar Alibi Mürbeteigkekse, Nusshäufchen und Kokosmakronen in den Ofen geschoben - war die Schüssel auf der Anrichte wenigstens immer mit Lebkuchen, Dominosteinen und Marzipankartoffeln gefüllt. Apropos Nusshäufchen und Kokosmakronen. Am meisten faszinierten uns Kinder die Oblaten, auf denen sie pappten. Diese wurden heimlich entwendet und fürs Spiel „Wir feiern die Heilige Messe verwendet. Einmal Katholik, immer Katholik. Eine weitere beliebte Tätigkeit in der Vorweihnachtszeit war das Geschenke suchen. Bei uns im Haus gab es den Weihnachtsmann nicht und auch das Christkind wurde (wenigstens von mir) schnell als Betrug entlarvt. Zwei meiner Geschwister und ich hatten die Spurensuche perfektioniert. Wir teilten uns im Haus auf und durchkämmten es wie kleine Geheimagenten. Man konnte die Titelmelodie von „Mission Impossible quasi im Hintergrund hören. Natürlich lernten wir übers geschickte Verbergen von vorweihnachtlichen Einkäufen viel und unsere Eltern nichts, und so fanden wir jedes Jahr in den üblichen Verstecken (unten in Mamas Kleiderschrank, im Kabuff im Elternschlafzimmer, im Heizungskeller) schon Wochen vorm Fest unsere Geschenke. Wir waren Weltmeister im „überrascht gucken und „lautstark freuen, als wir unsere Gaben am Heiligabend endlich unter dem Weihnachtsbaum aufmachen durften. Obwohl Materielles mich schon als Kind nie so richtig interessiert hatte. Mir gefiel einfach nur die Atmosphäre. Der riesengroße Baum, der sich bis zu vier Meter der Decke entgegenstreckte. Es war jedes Mal ein Kampf, ihn ins Haus zu bekommen und gerade hinzustellen. Er musste oben immer am Geländer der Empore, die unser Wohnzimmer und das Obergeschoss verband, festgezurrt werden. Unten an den Zweigen waren immer einige paar Lebkuchen festgebunden, die unsere Hunde abknabbern durften. Ich liebte die Kerzen, die das Licht der Wohnzimmerleuchten ersetzten. Der Schein des Kaminfeuers, das in den Wintermonaten täglich zu brennen schien. Selbst das nervige Singen, ohne das wir erst gar nicht unsere Geschenke öffnen durften, machte mir nicht so viel aus. Das gehörte ja alles irgendwie dazu (obwohl ich bei „Oh Du Fröhliche" auch heute noch leichte Zahnschmerzen bekomme).

    Eine Legende besagt, dass ich in einem Jahr, als ich circa vier oder fünf war, alle Geschenke ignoriert hatte und den ganzen Abend nur mit einem Sektkorken spielte. Das war wohl der erste Pflasterstein auf dem Weg zu der Frau, die an keinem Glas Crémant/ Prosecco/ Champagner vorbeigehen kann. Weitere Gerüchte, dass ich meinen Puppen ihren Tee in Deckeln von Schnapsflaschen statt in kleinen Teetassen servierte, erwiesen sich jedoch als unbestätigt. Ich servierte meinen Puppen keinen Tee. In einem anderen Jahr fand ich es spannender, einen Karton, in dem irgendetwas Größeres geliefert wurde, als mein Haus zu reklamieren.

    Mit fünf Kindern konnten sich meine Eltern nie wirklich teure Geschenke leisten. So wurden zum Beispiel einmal ein paar Tage vor Weihnachten unsere Puppen gekidnappt und tauchten neu gewandet, die hübschen Kleider von irgendjemanden in der Nachbarschaft gestrickt, unter dem Weihnachtsbaum wieder auf. Aber die Eltern gaben sich wirklich Mühe, uns etwas zu bieten. Als ich sechzehn Jahre alt war, stand am Heiligabend plötzlich ein Mofa vor mir. Ein Mofa! Sowas bekamen bei uns normalerweise zuerst die älteren Geschwister, damit sie testen konnte, ob das überhaupt alles sicher war. Aber hier stand es. Für mich. Ich war vor Freude ganz aus dem Häuschen. Wo die Eltern das versteckt hatten, ich hatte keine Ahnung. Das einzige Manko an dem Geschenk war, dass ich mir kurz zuvor einen Bänderriss zugezogen hatte und mein Bein in Gips steckte. Die erste Spritztour fiel also aus. Dachten sich die Eltern… Ich ließ mich allerdings weder vom Gipsbein noch vom Glatteis, das an dem Abend unsere Nachbarschaft in einen rutschigen Parcours verwandelte, abhalten und schob meine Maschine nach draußen. Ich kam keine fünfzig Meter weit, und schon schlidderte ich, wenig graziös und unsanft, in der instabilen Seitenlage die Straße hinab. „Nichts passiert!, brüllte ich, rappelte mich auf und bugsierte mein neues Baby (unbeschädigt) und meine Würde (angeknackst) in die Garage. Dort blieb das Mofa dann bis zum Frühjahr stehen. Unglücklicherweise verlangte das Gesetz genau in diesem Frühjahr, dass man fürs Mofa fahren einen Führerschein brauchte. Dieser war für mich bei meinem mageren Taschengeld unerschwinglich, und so verkaufte ich das Teil an ein Nachbarmädchen, ohne jemals richtig darauf gefahren zu sein. Die Eltern dachten sich im Nachhinein sicher: „Hätten wir das doch erstmals bei den älteren Schwestern ausprobiert. Und ich? Ich lasse auch heute hin und wieder noch, wenn angebracht, die Bemerkung fallen: „Ja klar hatte ich mit 15 ein Mofa. Du etwa nicht?"

    Ich liebe übrigens immer noch das Märchen vom Schlaraffenland. Und hin und wieder höre ich es mir an, um das Kind in mir frohlocken zu lassen.

    Rock Göre

    Meinen allerersten Liebesbrief schrieb ich, als ich sechs war. Ich füllte eine A5-Seite mit meiner Rechtschreibfehler verseuchten, krakeligen

    Erstklässler-Handschrift, steckte den Brief in einen Umschlag, adressierte ihn und legte ihn aufs oberste Regal unseres Wäscheschranks. Und vergaß ihn prompt! So groß kann die Liebe also nicht gewesen sein. Eigentlich sollte diese Erklärung meiner ewigen Zuneigung an die Bay City Rollers gehen, die ich kurz zuvor im Fernsehen gesehen hatte. War’s die ‚Hitparade‘ oder ‚Disco 75 („Hallo Leute! - „Hallo Ilja! Das Publikum war damals ja so einfach zufriedenzustellen…)? Ich weiß es nicht mehr, aber ab dem Moment verlangte ich von meiner Mutter Jeans mit Schottenkaro-Aufnähern und trällerte tagelang „Bye Bye Baby vor mich hin. Meine große Liebe zu den Schotten erlosch so schnell wie sie entflammt war, zumal sie auch Konkurrenz von den Rubettes hatten. Deren Lead Singer Alan war einfach süßer als Les von den Rollers, hatte aber nicht das Schottenkaro. Auch kleine sechsjährige Mädchen werden vor Dilemmas gestellt. Aber egal! Bald darauf entdeckte ich nämlich Smokie, und diese Kuschelrocker, besonders Chris Norman mit seiner Reibeisenstimme, hatten mich in ihren Bann gezogen. Gott sei Dank trugen sie keine Klamotten, die die Nähkünste meiner Mutter herausforderten (und ihre Nähkünste erstreckten sich dahin, dass sie eines Jahres mein Karnevalskostüm an meinem Schlüpfer festnähte. Noch Fragen?). „Lay Back In The Arms Of Someone erweckte in mir romantische Gefühle, die eine Achtjährige bestimmt noch nicht hätte haben sollen. What can I say? Ich war ein bisschen frühreif? Chris‘ Reibeisen wurde bald von einem neuen ersetzt: Suzy Quatro. Was für eine Frau! Genau so wollte ich sein. Und so kam es, dass ich mit neun in engen Röhrenjeans, gepaart mit einer kleinen Jeansjacke Rock’n’Roll-esk über den Schulhof stolzierte. Nach außen hin war ich eigentlich fast schmerzhaft schüchtern, aber Suzy weckte etwas in mir. Plötzlich war ich cool. Plötzlich bemerkten mich auch Schüler, die ein oder zwei Jahre älter waren als ich. Von der evangelischen Schule gegenüber. In diesen Tagen war ‚evangelisch‘ das Synonym für den Feind. Wir katholischen Kinder sollten mit denen nicht fraternisieren. Die mussten während der Messe ja noch nicht mal in ihren Bänken sitzen bleiben und durften herumlaufen. Ich war stolz darauf, dass der eine oder andere jetzt grüßte. Ich war ein Rebell in bester Suzy- Manier! „If You Can’t Give Me Love und „Can The Can wurden die Hymnen eines kleinen dürren kurzhaarigen Mädchens, das Girl Power für sich entdeckt hatte, lange bevor die Spice Girls in den Neunzigern es für sich entdeckten. Suzy blieb ein bisschen länger an meiner Seite und bekam Gesellschaft von Queen. Queen in den Siebzigern war für mich die Offenbarung schlechthin. Schuld daran ist mein Bruder, der die Fähigkeit hatte, durch seine zusammengepressten Lippen und Zähne Brian Mays Gitarrensolos perfekt nachzustellen. Dadurch erlangte er für mich Hero Status. Verdammt, wie machte er das? Das wollte ich auch können. Aber so sehr ich es auch versuchte (und ich saß stundenlang in meinem Zimmer und übte), es wollte mir nie gelingen. Ich konnte mit zwölf Jahren noch nicht mal pfeifen (peinlich genug!). Jedoch nahm ich es weder meinem Bruder noch Queen übel. Die konnten ja nichts dafür, dass weder Lippen noch Zunge gehorchen wollten. Hin und wieder, wenn

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