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Backstreet Girl: Projektionsfläche Popstar - Wenn der Fan zum Schriftsteller wird
Backstreet Girl: Projektionsfläche Popstar - Wenn der Fan zum Schriftsteller wird
Backstreet Girl: Projektionsfläche Popstar - Wenn der Fan zum Schriftsteller wird
eBook388 Seiten4 Stunden

Backstreet Girl: Projektionsfläche Popstar - Wenn der Fan zum Schriftsteller wird

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Über dieses E-Book

Fantum ist eine sonderbare, wunderbare, manchmal erschreckende Sucht, die sich in allen Populärkulturen industrialisierter Gesellschaften findet. Sie führt dazu, dass Menschen sich verändern, sich selbst nicht wieder erkennen, wie besessen reagieren oder sich gar selbst aufgeben. In diesem Buch geht es um Fans von Popstars, die über ihr eigenes Fantum ein Buch geschrieben haben - wie die Autorin einst selbst, deren Fan-Buch "Backstreet Girl" Teil dieser Arbeit ist.


"Ein Buch von einem Fan über die BACKSTREET BOYS in unserer Gazette?! Ja, warum denn nicht?! Über die BACKSTREET BOYS kann man zwar deutlich streiten, ist ja aber eine reine Einstellungssache und somit kaum diskutierbar.
Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt: Tagebuch, Fantum und Interviews. Erster Teil liest sich wirklich Gänsehaut-mäßig. Wenn man selber Fan von etwas ist, seien es Bands, Musiker oder im Sport, dann kann man richtig mitfiebern, wie nah Jennie ihrem Objekt der Begierde gekommen ist. In diesem Fall ist dies Kevin, eins der Goldkehlchen der BACKSTREET BOYS. Jennie wagt sich mit diesem Buch das erste Mal auf das schriftstellerische Parkett. Was ihr auch sehr gut gelingt, weil sie einen einfach fesseln kann.

Demgegenüber stehen im Abschnitt Fantum die Analysen des Fan-Daseins im Vordergrund. Das komplette Buch wurde zunächst als Diplomarbeit erstellt. Daher auch der wissenschaftliche Schreibstil dieses Teils, der deutlich weniger dramatisch zu lesen ist. Im letzten Teil, den Interviews, werden andere Fan-Autoren befragt, wie und warum sie zum Fan-Autor wurden. Neben weiteren, nicht relevanten, Musik Idolen wie PETER MAFFAY, TAKE THAT und PUR (???!), ist hier nur das Interview mit Christian Gasser interessant zu lesen. Dieser referiert über sein Buch: " Mein erster Sanyo - Bekenntnisse eines Pop-Besessenen" und seine Vorliebe für Stars wie IGGY POP und deren selbstzerstörerischen Lebensweisen. Daher insgesamt nur eingeschränkt empfehlenswert. Die Tagebuchgeschichte war aber geil! Es erinnerte mich förmlich an meine Starverehrung der SPICE GIRLS."

Marky in: Pankerknacker
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum7. März 2012
ISBN9783940213877
Backstreet Girl: Projektionsfläche Popstar - Wenn der Fan zum Schriftsteller wird

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    Buchvorschau

    Backstreet Girl - Jennie Hermann

    21

    Tagebuch

    Intro

    Die Backstreet Boys – Ende der 90er Jahre kannte sie jeder. An dieser Boyband kam niemand vorbei. Nick, AJ, Brian, Kevin und Howie waren die Lieblinge von Millionen von Mädchen, Müttern und sogar etlichen Jungs. Allein in Deutschland füllten sie Stadien mit über 30.000 Zuschauern.

    Während die Backstreet Boys 1995 noch in weiten Basketball-Shirts und Baggy-Jeans als Vorband von DJ Bobo performten, lösten sie kurze Zeit später mit ihrer ersten eigenen Deutschland-Tournee eine flächendeckende Hysterie aus. Ihre Songs schossen in die Charts, die Jugendzeitschriften quollen über von Postern und Berichten, ihre Konzerte waren ausverkauft, die Hotels, in denen sie übernachteten, belagert. Alle waren verrückt nach den fünf Amerikanern.

    Die Backstreet Boys tourten um die ganze Welt. Sie veröffentlichten sechs Alben und eine Best-Off-Compilation, die sich bis heute weltweit über 100 Millionen Mal verkauften.

    Im Jahre 2000 verschwand die Boyband plötzlich von der Bildfläche. Dem Streit mit dem Management folgten Herz- und Alkoholprobleme. Die Backstreet Boys waren ausgebrannt. Sie hatten sich eine Pause verdient, mussten neue Kraft schöpfen und ihre eigenen Wege gehen.

    Der einstige Publikumsliebling Nick floppte 2002 mit seinem Soloalbum und schaffte es danach nur noch, als Boyfriend von Paris Hilton Schlagzeilen zu machen. Leadsänger Brian heiratete, wurde Vater und widmete sich der christlichen Musik. Kevin heiratete ebenfalls und spielte zwischenzeitlich im Londoner Musical „Chicago" mit. AJ machte einen Entzug wegen seiner Drogen- und Alkoholsucht. Um Howie blieb es ruhig.

    Im Sommer 2005 wollten die Backstreet Boys es noch einmal allen zeigen. Mit einem neuen Album im Gepäck tourten sie erneut um den Globus. Doch das Comeback funktionierte nur mittelmäßig. Album und Singleauskopplung stiegen zwar in die Charts, aber die Konzerthallen füllten sich nur noch zur Hälfte. Die treuen Fans waren trotzdem überglücklich, die Jungs wiederzusehen, und feierten sie ohrenbetäubend. Woher ich das weiß? Ich war dabei – von Anfang an – und zwar ganz nah.

    Vor fast zehn Jahren, als alles begann, hatten Boybands für mich keine Bedeutung. Ich hatte seit einem Jahr mein Abitur in der Tasche und wollte Industriekauffrau werden. Zusammengecastete Popgruppen, die auf der Bühne zappelten, fand ich lächerlich. Gut, als Zwölfjährige stand ich auf Patrick Swayze und Michael Jackson, aber mein Fantum beschränkte sich auf ein paar Poster an den Wänden. Meine kleine Schwester war da anders. Sie weinte vor dem Fernseher, wenn Take That, die erfolgreiche britische Vorgänger-Boygroup der Backstreet Boys, auftrat. Ich beäugte sie ungläubig.

    Als Take That sich auflöste und damit eine Welle von Selbstmordgedanken bei jungen Mädchen lostrat, hielt ich das für übertriebenen Kinderkram. Ich fasste mich an den Kopf, wenn ich schreiende Fans im Fernsehen sah. Wie konnte man, um Himmels willen, beim Anblick eines hampelnden Milchgesichtes die Fassung verlieren? Wofür diese künstliche Aufregung? Das war doch nicht normal.

    Was mir nicht bewusst war, war, dass man auch mit einem gewissen Alter nicht automatisch immun gegen diese besondere „Krankheit" ist. Es gibt auch keinen speziellen Impfstoff dagegen. Obwohl ich mit meinen 20 Jahren weit über dem Durchschnittsalter eines BSB-Fans lag, infizierte ich mich am 13. Juni 1996 mit dem BSB-Fieber. Ich war nicht auf die Schnelligkeit vorbereitet, mit der sich das Fieber in mir ausbreitete. Es durchströmte mich, es bestimmte mich, es machte mich zu einem anderen Menschen.

    Was ich in sieben Fieber-Jahren erlebt habe, erzähle ich in diesem Buch. Die Namen einiger Personen habe ich dabei aus Rücksicht verändert.

    Das Buch beschreibt, wie mich die Welt einer Boygroup beeindruckt und aufgesogen hat. Es beschreibt aber auch, wie ich mich von meiner Faszination wieder befreit habe.

    Die Geschichte ist für all diejenigen, die Ähnliches erlebt haben. Sie ist für diejenigen, die wissen wollen, wie es ist, einen Star zu „lieben". Und sie ist für diejenigen, die diese Art von Liebe überhaupt nicht nachvollziehen können.

    Bevor ich anfing zu schreiben, begann ich, alles herauszukramen, was sich in meiner Backstreet-Boys-Zeit angesammelt hatte. Ich baute mir einen Schreibplatz voller Erinnerungen, pinnte Fotos an die Wände, hörte BSB-Musik, schaute BSB-Videos, blätterte stundenlang in Zeitungsartikeln und begutachtete Konzertkarten und Dinge, die mein Backstreet Boy angefasst hatte und die ich aus diesem Grund nie hatte wegwerfen können.

    Ich ließ mich noch einmal in die schönste und zugleich schlimmste Zeit meiner postpubertären Phase fallen.

    Klar, dass ich meine Tagebücher mit anderen Augen las. Trotzdem sah ich alles genau wie damals vor mir. Es fing ganz harmlos an …

    We’ve got it goin’ on

    Braunschweig, 13. Juni 1996

    Was für ein warmer, sonniger Frühjahrstag! Gegen 17.00 Uhr ruft mich meine Freundin Bettina an und verkündet, dass die Backstreet Boys in der Stadt seien. „Bitte wer? frage ich und überlege, wen sie meint. „Die sind echt süß, schwärmt Bettina, „von denen ist doch das Video, das jeden Tag auf MTV läuft!"

    Vergeblich versuche ich ihr zu erklären, dass ich diesen TV-Kanal nicht empfangen kann. Aber meine Freundin lässt nicht locker.

    „Die sind total berühmt, lass uns doch mal hingucken!"

    Berühmte Stars in Braunschweig? Eigentlich eine Seltenheit … Letztendlich willige ich ein, mit ihr an den Ort zu fahren, an dem die besagte Band ihr Konzert geben soll.

    Ich interessiere mich eigentlich nicht für Popstars. Die letzte Bravo habe ich vor vielleicht vier Jahren gelesen … Mehr Zeit zum Überlegen bleibt mir nicht, Betty steht mit ihrem goldmetallfarbenen Golf II schon vor meiner Haustür. Ja, ich habe jetzt eine eigene Haustür! Seit ein paar Tagen wohne ich in meiner ersten eigenen Wohnung. Zu Hause wird es wegen meinen jüngeren Schwestern eng. Die werden immer größer und brauchen dementsprechend größere Zimmer. Außerdem beginnt meine kaufmännische Ausbildung bald und ich sollte langsam erwachsen werden (denken zumindest meine Eltern).

    An der Eissporthalle ist die Hölle los. Vor dem Eingang hat das Rote Kreuz sein Areal durch eine Absperrung markiert und dahinter seine Zelte aufgeschlagen.

    Das Konzert ist ausverkauft, deshalb gesellen wir uns zu den vielen jungen Mädchen und denen, die aussehen wie wartende Eltern. Was sich in der Halle abspielt, können wir nicht sehen. Dafür staunen wir über die gestressten Sanitäter, die vor uns ständig neue Bahren anliefern. 10- bis 14-jährige Mädchen mit schweißnassen Haaren liegen darauf. Mit dem Handrücken halten sie sich die Stirn. Bleich sind sie, die aufgestellten Knie schwanken kraftlos hin und her. Weitere Sanitäter versorgen sie mit Wasser, Decken und gutem Zureden. Vereinzelt gibt es eine Backpfeife. Ich traue meinen Augen kaum. Noch weniger meinen Ohren. Wie ein Windzug schriller Schreie, überdrehter Bässe und vereinzelter Töne heult es aus den Ritzen des Gebäudes. Und wenn die Musik von Zeit zu Zeit mit einem Paukenschlag verstummt, steigt der schreiende Geräuschpegel um das Doppelte. Was spielt sich im Innern dieser Halle ab?

    Ich hatte ja schon Einiges gesehen, aber so etwas noch nicht. Ist das ein Scherz oder ist das ernst gemeint? Ist das ein normaler Zustand oder eine Ausnahme? Ich musste es herausfinden.

    Mit einem Mal läuft ein Schwung Mädchen los. Bettina und ich rennen ohne nachzudenken hinter ihnen her, Richtung Hinterausgang der Eishalle. Ein Bild für die Götter. Wie von der Leine gelassene Pittbullterrier jagen wir und – sind zu spät. Der Polizeibus fährt an uns vorbei. Wir sehen nur noch, wie das Blaulicht auf der Straße immer kleiner wird. Wo wollen die Backstreet Boys hin?

    Es ist kein Zufall, dass eines der Mädchen weiß, in welchem Hotel die Band wohnt. Woher soll ich auch wissen, dass das zur Taktik eines Boygroup-Managements gehört, um eine Band bekannt zu machen.

    Bettina und ich haben Blut geleckt und nur eins im Kopf: Hinterher! Triumphierend eilen wir zu ihrem Auto. Außer uns hat niemand einen Führerschein, geschweige denn ein Auto. Wir knallen die Türen zu, bevor uns jemand ums Mitnehmen bitten kann, und geben Gas. Auf der Fahrt halten wir kurz inne: Was tun wir hier? Wir verfolgen die Backstreet Boys – eine Band, die zumindest ich nicht mal kenne. Aber wem so viele Mädchen hinterher schreien, der muss doch irgendwie toll sein. Und wir wollen wissen wie toll. Scheiß auf das Erwachsensein.

    Die Backstreet Boys übernachten im Hotel Holiday Inn. Bingo! Das Hotel liegt direkt gegenüber meiner neuen Wohnung. Die Jungs könnten nachts heimlich zu mir herüberkommen, ja, eigentlich könnten sie gleich bei mir übernachten und sich das Hotel sparen. Es würde niemand erfahren. Betty und ich würden dichthalten und eine super Privatparty feiern. Welch unsagbare Vorstellung!

    Vor dem Hoteleingang haben sich zu unserer Enttäuschung bereits etliche Teenies postiert. Sie stieren die Hotelwand hoch, danach lechzend, dass sich einer der „Hinterstraßen Jungs" endlich aus dem Fenster hängt. Die können lange warten, denke ich abfällig. Mir vergeht unmittelbar die Lust, hier wie bestellt und nicht abgeholt herumzustehen. Dafür bin ich wirklich zu alt. Die Backstreet Boys würden doch niemals …

    Doch – sie tun es. Einer von ihnen lehnt sich plötzlich aus dem Fenster im zweiten Stock, winkt und ruft:

    „Hello!"

    Ein Zweiter stützt sich über ihn und grüßt uns ebenfalls. Die beiden sind also der Grund, warum alle Mädchen so schreien? Die sehen doch ganz normal aus!

    13. Juni 1996: Hotel Holiday Inn in Braunschweig. Das Warten hat sich gelohnt. Ein Backstreet Boy lässt sich blicken.

    Ein Mädchen neben uns singt einen Backstreet-Boys-Song. Ungläubig gucke ich sie an. Bettina grinst. Der Rest der Mädchen stimmt in den Gesang mit ein. Und dann passiert das Unglaubliche: Ich singe auch. Ich singe einfach mit, obwohl ich den Text gar nicht kenne. Bin ich von allen guten Geistern verlassen? Bettina jedenfalls scheint mein Verhalten nicht zu verwundern. Sie findet das Ganze völlig normal. Also ist es normal. Sie ist schließlich ein Jahr älter als ich.

    Einer der Backstreet Boys lobt unseren Gesang:

    „Beautiful, beautiful!"

    Doch dann schließt sich das Fenster. Wir gaffen weiter, unsere Köpfe in die Nacken gekippt.

    Es fängt an zu dämmern, doch das ist für uns kein Grund, nach Hause zu gehen. Im Gegenteil: Wir rühren uns nicht von der Stelle. Dafür wird ein anderes Mädchen ungeduldig. Weil es uns nicht erlaubt ist, in das Hotel zu gehen, versucht sie, das Fallrohr an der Hotelmauer hochzuklettern. Es wird gefährlich. Ich kombiniere: Fan sein bedeutet nicht nur, bei der Anwesenheit seiner Boygroup hemmungslos herumzuschreien, man riskiert dazu auch noch Kopf und Kragen. Das geht zu weit!

    Wie wir so dastehen, fühle ich irgendetwas zwischen Peinlichkeit und Faszination. Was ist nur los mit mir? Bin ich schon infiziert? Etwa mit dem BSB-Fieber?

    Einen Tag später finde ich mich am Kiosk um die Ecke wieder – ich kaufe eine Bravo. Danach führt mein Weg direkt zur Konzertkasse. Ich besorge mir zwei Karten für das nächste Konzert der Backstreet Boys in unserer Nähe. Es findet fünf Tage später in Hannover statt.

    Just to be close to you

    Hannover, 19. Juni 1996

    Endlich ist er da, der große Tag. Die Sonne strahlt. Mein berufsvorbereitender EDV-Unterricht ist gähnend langweilig, so dass ich mittags einfach verschwinde. Bettina und ich müssen rechtzeitig in Hannover sein.

    Gegen 14.00 Uhr steigen wir frisch geduscht in Bettinas Golf. Vier Stunden sind es noch bis zum Einlass. Das muss reichen.

    Im Partnerlook fühlen wir uns einfach umwerfend. Dabei haben wir nur weiße, leicht taillierte T-Shirts und einfache schwarze Karotten-Hosen an. Ja, wir schreiben das Jahr 1996, da ist die Mode noch harmlos. Es gibt noch keine bauchfreien Tops, keinen Glitzerkram, keine offensiven Stiefel mit Pfennigabsatz, und trotzdem sind wir überzeugt, das passende Outfit für die erste Reihe zu tragen.

    Als wir an der Eilenriedehalle in Hannover ankommen, wird klar, wie ahnungslos wir sind.

    „Ach du Sch…!", stöhnt Bettina beim Anblick der hundert lärmenden kleinen Schreihälse. Sie scheinen schon seit Stunden dort zu stehen, und wir verstehen endlich, warum es Mädchen gibt, die vor Konzerthallen übernachten.

    Die Mädchenmasse entmutigt uns schlagartig. Wollen wir uns das wirklich antun? Ja, wir wollen und schieben uns in die Menge. Wenige Minuten später stehen wir eingepfercht zwischen 10- bis 16-jährigen Kinderkörpern und können weder vor, noch zurück. Kein schönes Gefühl in Anbetracht der Wartezeit, die wir noch vor uns haben. Ob wir das durchhalten?

    Etwas abseits verkauft ein Mann Brezeln. Trotz knurrenden Magens ist es für uns undenkbar, uns aus dem Gedränge zu befreien. Bevor wir uns ganz hinten anstellen müssen, hungern wir lieber.

    Die Menge beginnt, Songs der Backstreet Boys zu singen. Es wird anstrengend. Wir schauen uns hilflos um und blicken in verschwitzte Gesichter, deren Stirn und Wangen Schriftzüge wie „NICK und „BSB zieren. Wir passen hier nicht rein mit unseren zwanzig Jahren und fühlen uns extrem unwohl.

    Die Masse ist so aufgeheizt, dass sie kocht. Der Geruch von süßlichem Kinderschweiß schneidet die Luft. Unsere Dusche am Mittag war vergebens, wir sind bereits komplett durchgeschwitzt.

    Das Stehen und Warten wird unerträglich. Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Wir verdrehen die Augen, unsere Stimmung ist dahin. Bettina hat höllische Paranoia, dass sich ihre Haare von der Feuchtigkeit locken. Zum Glück habe ich einen Schirm mitgenommen. Den spanne ich auf, um unsere Frisuren zu retten. Wie eine Kindergärtnerin rage ich aus dem Gedränge und schütze nicht nur Bettinas Haare, sondern gleichzeitig fünf weitere Schäfchen vor der Nässe.

    So haben wir uns das nicht vorgestellt. Wir warten nun schon zwei Stunden. Es ist der reinste Stress. Aber wer ein echter Fan ist, beschwert sich nicht.

    Alle fiebern dem Einlass entgegen. Immer öfter ertönt der Kampfesruf: „Wir wollen rein, wir wollen rein!" Uns wird mulmig. Was, wenn jetzt Panik ausbricht und alle von hinten schieben? Wir sind kurz vor dem Aufgeben. Wären wir zwei 10-jährige, halbwüchsige Mädchen, wären wir längst kollabiert.

    Endlich gehen die Türen auf. Die Menge schiebt sich ungeduldig vorwärts.

    „Laaaaangsam!", schreien die Securities von vorne.

    Bettina und ich krallen uns aneinander, um uns nicht zu verlieren. Von hinten wird kräftig gedrängelt und wir haben Mühe, das Kleingemüse vor uns nicht zu zertrampeln.

    Endlich sind wir drinnen. Ich schmeiße meinen Schirm in eine Ecke. Er hat das Gedränge nicht überlebt. Außerdem ist es uncool, mit einem Schirm in der Hand herumzulaufen.

    Der erste Eindruck von der Halle ist enttäuschend. Dunkel, leer und langweilig sieht sie aus. Schwer vorstellbar, dass hier noch etwas passieren soll. Doch es füllt sich schnell. Wir beeilen uns, einen Platz nah an der Bühne zu bekommen, was uns wider Erwarten auch gelingt. Vor lauter Freude beschließen wir, uns nicht mehr von der Stelle zu rühren. Das ist ein großes Vorhaben, denn die Show beginnt erst in einer Stunde und wir können schon jetzt kaum noch stehen.

    „Hinsetzen!!!" schreien die Muskelmänner von der Security immer wieder.

    Sie verstehen nicht, dass ihre Strategie nicht funktioniert. Immer, wenn sich ein Teil der Mädchen vor der Bühne hinsetzt, drängen die Stehenden von hinten nach vorne, in der Annahme, dass vorne Platz geworden ist. Aus Angst niedergetrampelt zu werden, stehen die Fans vor der Bühne natürlich schnellstens wieder auf.

    Hinter uns kommen die ersten Beschwerden:

    „Wir können nichts sehen!"

    „Ihr seid zu groß!"

    Ignoranz scheint uns die beste Antwort darauf zu sein. Doch die Zurufe werden lauter und wir schießen mit Wortbomben zurück. Bettina und ich ragen wie zwei Schiffsmasten aus der Menge und verteidigen unsere Position. Nach einer weiteren Viertelstunde sind unsere Nerven am Ende. Es ist unmöglich, die Plätze zu halten. Wir geben auf und ergreifen die Flucht. Die aufgeheizte Meute um uns herum jubelt.

    Der einzige Platz, der jetzt noch auf uns wartet, befindet sich ganz hinten an der Hallenwand. Dort angekommen, sinken wir zu Boden und atmen seit Stunden das erste Mal wieder richtig durch. Der Abend ist gelaufen. Auf was haben wir uns bloß eingelassen? Nach ein paar Minuten Erholung kaufen wir uns die ersehnte Brezel und schlendern enttäuscht zum Merchandising-Stand. Auf den Tischen liegen dicke Packen überteuerter Poster, auf denen fünf aalglatte Jungs abgebildet sind. Wenn uns zu Hause jemand fragt, können wir zumindest sagen, dass die Backstreet Boys vor uns lagen. Auf Postern. Toll!

    Der Blonde mit den halblangen Haaren ist wirklich süß. Aber der ist schon an Bettina vergeben. Der Ältere mit den schwarzen Haaren ist auch okay. Wer ist das? Kevin heißt er, aha.

    Wir gehen zurück zu dem miesesten Platz des Abends, unserem Wandplatz. Von hier aus können wir alles sehen, nur nicht die Bühne. Wir würden uns gerne wieder hinsetzen, aber das sieht blöd aus, deshalb bleiben wir stehen.

    Es vergeht keine Viertelstunde, da mustern uns zwei Jungs aus ein paar Metern Entfernung. Dass sie über uns sprechen, ist nicht zu übersehen. Beide sind außergewöhnlich groß. Sogar mich überragen sie um Einiges, und das kommt selten vor. Der eine sieht afroamerikanisch, der andere europäisch aus. Wir schätzen sie auf Ende Zwanzig. Um den Hals der beiden baumelt ein Kärtchen an einem Band. Das sieht wichtig aus und wird in den kommenden Jahren inflatorisch bei Veranstaltungen jeglicher Art imitiert werden.

    Aber zurück zur Gegenwart: Wer sind die beiden?

    Wir haben keine Zeit zu überlegen, denn sie steuern direkt auf uns zu. Der europäisch Aussehende spricht mich auf Deutsch an.

    „Hättest du Lust, bei ‚I never break your heart‘ auf die Bühne zu kommen?"

    „Wie bitte?" frage ich, im festen Glauben, ihn falsch verstanden zu haben.

    „Bei dem Song kommen immer ein paar Mädchen auf die Bühne, antwortet er, „willst du dabei sein?

    Mein Herz beginnt zu rasen. Ich soll auf die Bühne – mit den Backstreet Boys? Jetzt sofort? Ich weiß noch nicht mal, dass „I never break your heart" eine Ballade von ihnen ist. Erst viel später rekonstruiere ich, dass ich genau diesen Song vor dem Hotel in Braunschweig gesungen habe. Wie auch immer, ich glaube, ich muss hier jetzt zusagen.

    „Ääh, ja klar!", stammele ich und kann nicht fassen, dass er mich und nicht Bettina gefragt hat. Eigentlich wird sie immer angesprochen. Oh Schreck – was wird überhaupt aus Bettina?

    „Kann meine Freundin auch mit?" schiebe ich schnell hinterher.

    Die beiden mustern Bettina und werfen sich einen Blick zu. Sie beratschlagen etwas auf Englisch und nicken.

    „Yes, ja, okay. Um Viertel nach acht an der Ecke rechts vor der Bühne."

    Und weg sind sie. Peng, Krach, Bumm! Wir stehen da, wie vom Donner gerührt und vom Blitz getroffen. Das muss ein Traum sein! Die Welt steht still. Und in der nächsten Sekunde dreht sie sich wieder, tausendmal schneller als zuvor. Wir schlagen die Hände vor den Mund und merken nicht, wie wir langsam aber sicher zu pubertierenden Teenagern mutieren. Den Tränen nahe liegen wir uns in den Armen und können es nicht fassen. Wie haben wir das bloß geschafft? Haben sie uns ausgesucht, weil wir so „erwachsen" aussehen? Oder finden sie uns sogar hübsch? Eins steht fest: Der Abend fängt gerade erst an.

    Unser Euphoriebarometer steigt, während wir aufgeregt durch die mittlerweile gut gefüllte Halle tänzeln. Dabei lernen wir gleich noch ein Promotion-Team kennen. Vier goldige Jungs verteilen für den Toursponsor „Chipie" Parfumproben. Wir stopfen uns mit der duftenden Erinnerung die Taschen voll. Der einzige Job der Jungs ist es tatsächlich, diese Giveaways unter die Fans zu streuen. Dafür werden sie bezahlt und dürfen auch noch die gesamte Tour der Backstreet Boys – auch hinter den Kulissen – begleiten. Oh, wie beneidenswert!

    Bettina und ich verstehen uns auf Anhieb super mit den Vieren. Besonders sympathisch ist mir Marc. Er ist kleiner als ich, hat blonde halblange Haare und surft für sein Leben gern. Ich schließe ihn sofort ins Herz.

    Vor lauter Spaß mit den Chipie-Jungs verpassen wir nicht nur den Beginn des Konzertes, sondern auch fast unseren wichtigen Termin. Schnell tauschen wir Telefonnummern aus, verabschieden uns und auf geht es zum abgemachten Treffpunkt.

    19. Juni 1996: Hannover, Eilenriedehalle. Das Konzert hat begonnen. Noch sind wir weit entfernt von den Backstreet Boys

    Meine Hände triefen wie ein nasses Tuch. Es ist so aufregend. Hoffentlich haben die mit dem wichtigen Band um den Hals uns nicht vergessen.

    Das haben sie nicht. Um 20.20 Uhr werden wir mit zwei weiteren Mädchen hinter die Bühne geführt. Wir sind stolz wie Oskar.

    Der Typ, der uns angesprochen hat, heißt Fabian, ist 26 Jahre alt und gehört zur Crew der Backstreet Boys. Und siehe da: Nach wenigen Minuten ist sein gesteigertes Interesse an Bettina nicht mehr zu übersehen. Hab ich nicht gesagt, dass kein Mann an ihr vorbeigehen kann?

    Wir stehen ganz lässig am Treppenaufgang zur Bühne. Es kann sich nur um Stunden handeln, bis hier etwas passiert, denke ich, als Brian, einer der Backstreet Boys, plötzlich zielstrebig die Bühnentreppe herunter auf mich zu kommt. Es durchzuckt mich wie ein Blitz. Nicht etwa, weil ich so begeistert bin – neeeeiiiin, im Gegenteil – Brian reicht mir gerade mal bis zum Kinn! Ich versuche mich wegzudrehen, doch er greift schon meine Hand. Es darf nicht wahr sein! Wie sehen wir bitte nebeneinander aus? Der Traum wird zum Alptraum. Brian hat meine Hand fest im Griff und zieht mich auf die Bühne. Ich habe keine Wahl.

    Auf der Bühne stehen drei mit glitzernden Decken geschmückte Tische, umstellt von jeweils zwei billigen roten Klappstühlen aus Plastik. Auf jedem Tisch liegt eine rote Rose. Ich spüre die Blicke der 5.000 Mädchen, die mich anstarren, und wage nicht, in die Menge zu schauen. Die Band stimmt „I never break your heart" an. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Da lässt Brian meine Hand los. Und ich stehe vor jemand anderem. Und dieser Jemand ist größer als ich. Er kommt mir bekannt vor. Das ist doch der vom Poster! Das ist Kevin!

    Vielleicht ist es das Chipie-Parfum, das eine opiumartige Wirkung auf mich hat, denn plötzlich kann ich nicht mehr klar denken. Ich blicke in die Augen von diesem Backstreet Boy und es reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Ich falle und falle. Alle bisherigen Vorstellungen von einem Traummann brechen wie ein Jenga-Turm in mir zusammen. Schwankend, aber unaufhaltsam. Und ich stehe vor diesem Fremden, der mir nicht fremd ist, und plötzlich ist alles anders.

    Kevin gibt mir seine Hand, meinen Wangen rechts und links ein Küsschen (Re-Li-Küsschen) und stellt sich vor: „Hello, I’m Kevin – nice to meet you, what’s your name?" Er führt mich zu einem der Tische, wir setzen uns.

    „Where are you from?"

    Es ist so laut, dass ich ihn kaum verstehe. Auch er versteht mich nicht und schnappt nur auf, dass ich ihn in Braunschweig gesehen habe, obwohl ich ja nicht beim Konzert war, sondern nur vor seinem Hotel gestanden habe. Ich will es ihm gerade erklären, da unterbricht er mich und zieht mich hoch.

    „So you know what we’ll do – we’ll dance."

    Vor lauter Überwältigung fällt mir nicht auf, dass Kevin nur seine Lippen bewegt. Oder hat er wirklich gesungen? Vergeblich versuche

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