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Aufklärung und Aufregung: 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO
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Aufklärung und Aufregung: 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO
eBook521 Seiten4 Stunden

Aufklärung und Aufregung: 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO

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Über dieses E-Book

Seit 1956 hat die BRAVO Generationen von Jugendlichen aufgeklärt. Homosexualität, zunächst tabu, wurde erst ab Mitte der 60er Jahre zum Thema - als krankhafte Abweichung vom Normalen und um die Jugend vor Verführung zu warnen. Ab 1969 kam mit Dr. Sommer die sexuelle Offenheit. Als dieser 1972 gleichgeschlechtliche Erlebnisse schilderte (u. a. seine eigenen), wurde die BRAVO auf den Index der jugendgefährdenden Schriften gesetzt und stand kurz vor dem Aus. Den Anstoß für einen der ersten Beiträge über Homosexualität und Musik boten Village People mit ihrem Hit Y.M.C.A. (1979). Mit Smalltown Boy wurde Jimmy Somerville 1984 zu einer wichtigen Galionsfigur der jungen Schwulenbewegung. Das große Schweigen war nun endgültig vorbei! Heute erinnert kaum noch etwas an den schwierigen Weg der schwul-lesbischen Emanzipation. Hat sich BRAVO hier große Verdienste erworben oder eher gebremst? Dieses Buch untersucht ca. 1.000 Beiträge, die seit einem halben Jahrhundert dazu erschienen sind.
SpracheDeutsch
HerausgeberHirnkost
Erscheinungsdatum1. Jan. 2012
ISBN9783940213808
Aufklärung und Aufregung: 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO

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    Buchvorschau

    Aufklärung und Aufregung - Erwin In het Panhuis

    Sexualaufklärung

    Bei einer geschichtlichen Betrachtung der Sexualaufklärung von Jugendlichen in Deutschland sind unterschiedliche Aufklärungsinstanzen zu berücksichtigen, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Für die BRAVO war es z. B. eine erklärte Legitimation für ihre eigene Aufklärung, dass Sexualaufklärung durch andere Aufklärungsinstanzen nicht, verspätet oder unzureichend vermittelt wurde. Als die wichtigsten Aufklärungsinstanzen können Elternhaus, Freundeskreis und Schule angesehen werden, danach Zeitschriften.

    Die Sexualaufklärung durch die Eltern war bis in die 70er Jahre hinein oft auf Sexverzicht oder auf Verhütung reduziert.

    Die Sexualaufklärung durch die Eltern war bis in die 70er Jahre hinein oft auf Sexverzicht vor der Ehe oder auf Verhütung reduziert, und noch in den 80er Jahren gingen viele Eltern davon aus, dass sie durch ein einmaliges Gespräch über Sexualität mit ihren Kindern ihrer Verantwortung gerecht werden. Erst in der Gegenwart verstehen die meisten Eltern Aufklärung als einen laufenden Prozess. Die Aufgeschlossenheit und das Wissen der Eltern sind für die Qualität der sexuellen Aufklärung ausschlaggebend. Dabei werden Themen, die als schwierig angesehen werden oder sich außerhalb der Wahrnehmungs- und Erfahrungsperspektive der Eltern befinden – z. B. Homosexualität –, oft der Schule überlassen.

    Noch in den 80er Jahren gingen viele Eltern davon aus, durch ein einmaliges Gespräch über Sexualität mit ihren Kindern ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

    Das Interesse an sexuellen Themen erwacht in der Pubertät, also jener Phase, in der sich Kinder und Jugendliche mit ihren Problemen zunehmend den Eltern verschließen. In dieser Zeit steigt daher die Bedeutung des Freundeskreises bei der Meinungsbildung, nicht nur zu sexuellen Themen. Jugendliche können jedoch bei Gleichaltrigen oder Älteren nicht immer zwischen Angeberei, Halbwissen und Wissen unterscheiden, deshalb ist das Ergebnis von Aufklärung nicht selten Halbwissen.

    Schulische Sexualerziehung war in der frühen Bundesrepublik Deutschland in den 50er Jahren ein Tabuthema und danach weitgehend sexualrepressiv ausgelegt. Die 68er-Bewegung stand für eine Enttabuisierung der Sexualpädagogik. Anfang der 70er Jahre wurde Sexualkunde in den meisten deutschen Schulen eingeführt, das Fach war zunächst nur biologisch ausgerichtet und klammerte emotionelle und erotische Aspekte aus. Seit den 90er Jahren ist die Sexualerziehung liberaler geworden und fest in den Lehrplänen der Bundesländer verankert. Dabei geben jedoch meistens der Lehrplan und nicht die Informationsbedürfnisse der Jugendlichen die inhaltliche Gestaltung vor und es bleibt das grundsätzliche Problem, dass persönliche Probleme, intime Fragen, Leistungsnachweise und Schulnoten ineinander gemengt werden. Aus diesen Gründen wird auch diskutiert, ob eine Unterrichtung durch schulfremde Personen und ein Lernen ohne überprüfte Lernziele eine vernünftige alternative Sexualaufklärung darstellen können.

    In den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik war Fernsehen hauptsächlich ein Medium für Erwachsene. Heute sind das Fernsehen und noch mehr das Internet zum Leitmedium der Jugend geworden und ihr großer Einfluss ist unbestritten. Dabei gibt es jedoch kaum spezifisch an Jugendlichen ausgerichtete Aufklärungsangebote, und andere Beiträge zu sexuellen Themen sind je nach Fernsehformat und Uhrzeit selten geeignet, das Informationsdefizit Jugendlicher zu decken, richten sie sich doch häufig an die Sensationsgier Erwachsener. Jugendliche haben oft einen eigenen Fernseher und damit auch nachts einen ungehinderten Zugang zu allen Fernsehkanälen. Wie das Fernsehen ist auch das Internet in der Regel nicht an pädagogischen, sondern an kommerziellen Zielen ausgerichtet. Das Internet bietet für Kinder und Jugendliche zudem keinen Schutz vor Pornographie. Deshalb ist das Thema Sexualität dort weder emotional eingebunden noch mit einfühlsamer Beratung und brauchbaren Informationen verbunden.

    Sexualaufklärung 1956-1969

    In den ersten Jahren war die BRAVO-Leserschaft mit 20-25 Jahren zwar jung, aber im Durchschnitt einige Jahre älter als heute. Zunächst gab es in BRAVO keinerlei Beratung in Fragen der Liebe und Sexualität. Von Mitte 1958 bis Ende 1959 half die Kunstfigur Steffi⁵ bei Liebesproblemen – auf Homosexualität wurde dabei jedoch nicht eingegangen. Dann wurde die BRAVO-Redaktion durch persönliche Kontakte bzw. schriftstellerische Erfolge auf die Unterhaltungsschriftstellerin Marie Louise Fischer aufmerksam⁶ und startete mit ihr 1963 eine eigene Aufklärungsreihe. Bis Herbst 1969 wurden ca. 30 Beiträge über Homosexualität veröffentlicht. Von einer eigentlichen Sexualberatung kann jedoch in diesen Jahren noch keine Rede sein.

    Marie Louise Fischer und ihre Arbeitsweise als Dr. Vollmer

    Mit dem Knigge für Verliebte erschien in der BRAVO Anfang 1963 erstmals in Deutschland eine Aufklärungsreihe für Jugendliche in einer Zeitschrift.⁷ Unter dem Pseudonym Dr. Christoph Vollmer beantwortete die Erfolgsautorin Marie Louise Fischer (1922-2005) Leserbriefe und schrieb auch größere Reportagen von ein bis zwei Seiten.⁸

    Die Absicht, aufzuklären und zu helfen, kann Frau Fischer nicht abgesprochen werden. Man muss jedoch annehmen, dass sie in erster Linie unterhalten wollte. Ihre Äußerung, Ich bin eine Unterhaltungsschriftstellerin und habe keine großen Aussagen zu machen. Ich möchte auch nicht das Bewusstsein der Menschen verändern, bezog sich nicht ausdrücklich auf ihre Tätigkeit für BRAVO. Nach einer Analyse ihrer Beiträge in BRAVO kann die Äußerung aber auf ihre Tätigkeit dort übertragen werden. Eine Beurteilung unter pädagogischen Gesichtspunkten ist kaum möglich. Fischers Arbeitsweise bzw. die Form ihrer Aufklärung ist am deutlichsten zu charakterisieren, wenn man ihre Beiträge in der BRAVO mit ihren Romanen vergleicht. Dies macht übrigens (in der Gegenwart) auch die Redaktion von BRAVO, die überraschend kritisch mit einer ihrer wichtigsten Autorinnen der 60er Jahre umgeht. Marie Louise Fischer lieferte Beiträge, die nach dem Muster der Illustriertenromane gestrickt sind. Die Arbeiten dieser Vielschreiberin sind serielle No-Name-Produkte. Die Texte ausladend, anweisend und gefühlvoll, dem Zeitgeist der […] 50 [er] Jahre voll ein- und angepasst.

    Tatsächlich können die Parallelen zu den Romanen kaum deutlicher sein. In den Romanen von Frau Fischer – die in einem emotionalen Sprachstil gehalten sind – gab es das einfache Handlungsmuster, dass sich dank einer einfühlsamen Protagonistin alle Konflikte – oft die von Mädchen in der Pubertät – in Wohlgefallen auflösen. Ein einsames Mädchen lernt z. B. die große Liebe kennen und heiratet.

    Die für BRAVO erstellten Texte wurden zweitverwertet – ohne BRAVO zu erwähnen und ohne den juristisch problematischen Dr.-Titel.

    Ihre Beiträge in der BRAVO funktionieren ähnlich. Auch hier ist ihre Ausdrucksweise auffallend emotional bis pathetisch. So heißt es 1964: Deine Mutter hat ihre ganze Liebe […] auf Dich konzentriert. […]. Sie hat Dich mit Liebe und Zärtlichkeit überschüttet […] und Dich wie einen kleinen Mann […] behandelt – mit dem sie all ihre Sorgen besprechen konnte (64/19). Auch die in den BRAVO-Briefen angesprochenen Probleme lösen sich anscheinend von selbst, wenn z. B. ein Junge wieder ein zivilisiertes Betragen annimmt – einem Mädchen zuliebe, das in sein Leben getreten ist (64/19). Außerhalb einer fiktiven Romanwelt muss dies als ein Wegreden von Problemen ohne konstruktiven Lösungsansatz angesehen werden.

    In den drei Büchern, die später unter dem Pseudonym Christoph Vollmer erschienen, wurden viele ihrer BRAVO-Beiträge wiederverwertet. In Verliebt, geliebt und liebenswert (1965), Lerne glücklich lieben (1967) und Was Verliebte wissen wollen (1969) finden sich auf insgesamt 10 Seiten Leserbriefe und sonstige Beiträge zur Homosexualität wieder. In diesen Büchern wies sie nie explizit auf die BRAVO hin, sondern schrieb nur 1969, dass die Beiträge für die Beratung in einer großen Jugendzeitschrift entstanden sind. Anders als in der BRAVO verzichtete sie bei ihren Büchern auf den juristisch problematischen Doktortitel.

    Leserbriefe

    Fragen zur eigenen homosexuellen Orientierung

    Ein Artikel von 1963 unterscheidet bei der Beziehung zwischen einem jungen Mädchen und einer älteren Freundin vorsichtig zwischen unnatürlichen und gesunden Freundschaften (63/13) und deutet damit (noch leicht tabuisierend) Homoerotik an. In sechs weiteren Leserbrief-Beiträgen¹⁰ wurden von 1964-1969 relativ offen zumindest homoerotische Wünsche von Jugendlichen besprochen. Allein der erste Beitrag (64/6) behandelt Leserbriefe von drei jungen Frauen und einem jungen Mann, die über gleichgeschlechtliche Empfindungen und Erfahrungen verunsichert waren. Auf den ersten Blick ähneln die besprochenen Konflikte in vielen Aspekten den heutigen Problemen. Die Heranwachsenden fühlten sich mit ihren Gefühlen allein gelassen und vertrauten sich in der Hoffnung auf Hilfe der BRAVO an. Es gibt aber auch Unterschiede: Auch wenn erotische Neigungen zu beiden Geschlechtern wahrgenommen werden, ist Bisexualität für die Betroffenen kein Thema, sondern nur die Angst, homosexuell, und der Wunsch, heterosexuell zu sein. Große Unterschiede gibt es aber bei den Antworten von Dr. Vollmer.

    Homosexualität – ein Übergangsstadium: BRAVO-Leser sind nicht homosexuell.

    Dr. Vollmer sah bei allen Jugendlichen immer nur eine homosexuelle bzw. -erotische Phase als Stufe auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Aber solche Freundschaften zerbrechen, wenn ein Mann in das Leben einer der beiden Partnerinnen tritt. Das ist ganz natürlich, denn die Liebe zu einem anderen Mädchen ist nur ein Übergangsstadium (64/6). Selbst der 20-jährigen Gerda attestierte sie, dass sie sich in einer vorübergehenden Entwicklungsphase befinde. Dass in allen Fällen nur eine Phase angenommen wird, ist insofern richtig, als die Heranwachsenden, wenn es sich tatsächlich nur um eine Phase handelt, nicht verurteilt, sondern beruhigt werden. Jeder Person, die jedoch tatsächlich homosexuell ist, wurden auch mit 20 Jahren Gefühle abgesprochen, ein Coming-out wurde erschwert. Es scheint fast, als wenn innerhalb der BRAVO-Leserschaft nie eine endgültige Fixierung auf das eigene Geschlecht vorliegen kann. Einem 18-jährigen wurden sogar Unreife und Oberflächlichkeit unterstellt (69/2) und der 22-jährige Eberhard erhielt Tipps, um aus dem Teufelskreis der Homosexualität herauszufinden (64/19).

    Die Ursachenforschung hatte einen hohen Stellenwert. Weil die Briefe oft von der Familie berichteten, konnten die homoerotischen Sehnsüchte u. a. mit einem gestörten Elternhaus in Verbindung gebracht werden. Bei männlichen Heranwachsenden wurden in der vaterlosen Kindheit und einer zu dominanten Mutter¹¹ eine Gefahr gesehen. Im außerfamiliären Bereich vermutete Dr. Vollmer neben der Angst vor dem anderen Geschlecht auch den Mangel an Gelegenheit als Grund für eine homosexuelle Orientierung. Bei weiblichen Heranwachsenden sah sie die Ursache in einem gestörten Verhältnis zur Mutter und einer falschen Erziehung (64/6). Auch Angst vor Männern als Folge negativer Erlebnisse und eine Internatsunterbringung gehörten nach Dr. Vollmer zu den Gründen, warum junge Frauen vorübergehend auch gleichgeschlechtliche Beziehungen suchen.

    Fragen zur sexuellen Orientierung anderer Personen

    In vier Leserbriefen standen die Fragen nicht in Verbindung mit der eigenen homosexuellen Orientierung.¹² Trotz der geringen Anzahl erlauben die Briefe einige Schlussfolgerungen. So ist in zwei Antworten erkennbar, dass Dr. Vollmer eine homosexuelle Orientierung als nicht gefestigt ansah. Sogar ein Umpolen schien möglich: Als zwei Mädchen Angst davor hatten, dass ihr Freund (67/35) bzw. Bruder (69/14) schwul sein könnte, riet Dr. Vollmer ihnen, sich ihnen als gute Kameraden zu erweisen, um so einen Gegenpol zu den homosexuellen Kreisen (67/35) darzustellen und zu signalisieren, dass auch ein Mädchen eine gute Partnerin sein kann (69/14).

    Aus: BRAVO 64/6

    In den 60er Jahren wurde Homosexualität stets in negativen Zusammenhängen dargestellt. Aus: BRAVO 65/48.

    Aus: BRAVO 67/35

    In Konfliktsituationen wurde kein konstruktiver Lösungsansatz verfolgt. Einem 16-jährigen Schüler, der fragte, wie er sich gegen körperliche Annäherungsversuche eines Mitschülers wehren solle, empfahl Dr. Vollmer statt einer offenen Aussprache mit Schüler oder Lehrer oder einer Grenzziehung nur eine Umgehung des Problems durch Platzwechsel (68/27).

    Homosexualität wird von Dr. Vollmer ständig negativ bewertet. Als Christa wissen wollte, was eine Lesbe ist, schrieb sie, dass Lesben aufgrund einer seelischen Störung nie Männer lieben können und sich in eine Liebe flüchten, die die innere Einsamkeit überwinden helfen soll (65/48).

    Aus: BRAVO 68/27

    Leserbriefe zu Zwittern, Transvestiten, Transsexuellen

    In den Jahren bis 1969 gab es nur einen veröffentlichten Leserbrief, bei dem ein Junge nicht aufgrund seiner Gefühle, sondern aufgrund des gefühlten Unterschieds zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität beunruhigt war. Der Hilferuf des 16-jährigen Lutz (66/2), der sich in Stimme, Aussehen und Fühlen als ein Mädchen wahrnahm, hatte viel Ähnlichkeit mit den vielen anderen Fällen der nächsten Jahrzehnte. Lutz verglich seine körperliche Entwicklung mit der von Gleichaltrigen bzw. setzte diese in Bezug zu seinem Lebensalter, machte sich Sorgen, traute sich offenbar nicht, einen Arzt aufzusuchen, erstellte sich ohne Arzt eine zweifelhafte Diagnose (hier: Hermaphrodit) und wollte diese offensichtlich nur bestätigt bekommen. Dr. Vollmer nahm sein Problem ernst, beruhigte, schrieb, dass vermutlich alles in Ordnung ist, und schickte ihn sicherheitshalber zum Arzt. Die Verunsicherung von Lutz wurde möglicherweise durch einen Beitrag Dr. Vollmers über geschlechtsangleichende Operationen selbst ausgelöst (65/38, s. a. 67/20), in dem sie die Operationen bei Hermaphroditen (körperliche Geschlechtsmerkmale beider Geschlechter) behandelte, ohne dabei jedoch auf Transsexuelle (Geschlecht und Geschlechtsidentität weichen ab) einzugehen.

    Aus: BRAVO 66/2

    Aus: BRAVO 65/38

    Aufklärungsreportagen

    Die Aufklärungsreportagen waren journalistisch aufwendiger gestaltet als die knapp gehaltenen Briefe und die Antworten darauf. Bis Ende 1969 erschienen in BRAVO zehn Reportagen zu schwulen oder lesbischen Themen,¹³ die in den späteren Jahren mehrere Seiten umfassten und illustriert waren.

    Diese für die 50er Jahre typische Leserbrief-Illustration wurde für die Aktion Anonym bis in die 60er Jahre hinein verwendet. Die Formulierung Öffnet Eure Herzen wurde Jahrzehnte später von dem Hamburger Transvestiten Ernie Reinhardt alias Lilo Wanders mit Herzt Eure Öffnungen parodiert. In der frühen BRAVO waren Lust und Freude an Sexualität kein Thema. Aus: BRAVO 67/35.

    Das Herz als Inbegriff von Liebe, die auch ohne Sexualität möglich ist, und das Wort Knigge im Rahmen mehrteiliger Serien ab 1962, das als Synonym des guten und richtigen Benehmens auch von Konservativen positiv assoziiert wird – das waren die Markenzeichen der frühen Sexualaufklärung in der BRAVO. Das selten verwendete Motiv von turtelnden Tauben erscheint da fast als gewagt. Aus: BRAVO 64/06.

    Reportagen von Dr. Christoph Vollmer (d. i. Marie Louise Fischer)

    In der ersten Reportage schrieb Frau Fischer als Dr. Vollmer offen über ihre zwiespältige Einstellung zu Menschen mit einer gefestigten Homosexualität: Ich habe nichts gegen Homosexuelle. Von mir aus kann jeder nach seiner Fasson selig werden. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen unter Männern sah sie als nicht ganz gerechtfertigt an. […] Aber […] Homosexuelle sind […] im tiefsten Inneren unglücklich und unzufrieden. […] Bei neunundneunzig Prozent aller Homosexueller kann bis zum 24. Lebensjahr eine völlige Heilung bewirkt werden (66/26). Homosexualität war für sie pathologisch und heilbar. Ihrer Meinung nach konnte dabei sogar eine Hormonbehandlung erfolgreich eingesetzt werden.¹⁴

    Bei den weiteren mit Dr. Vollmer gekennzeichneten Beiträgen Peter: Ich kann kein Mädchen lieben (69/30) und Monika: Ich kann nur Mädchen lieben (69/38) als auch bei zwei früheren Beiträgen¹⁵ wurden Probleme von Jugendlichen, die sich als schwul bzw. lesbisch empfanden, nebeneinander dargestellt. Das belegt schon früh den offensichtlichen Wunsch, schwul-lesbische Themen zwar nicht gleich, aber gleich ausführlich zu behandeln.

    Ich habe nichts gegen Homosexuelle. Aber …

    In den Reportagen ging Dr. Vollmer auch auf Personen mit einer gefestigten homosexuellen Orientierung ein; von Anfang an warnte sie ausdrücklich vor so genannter Verführung, worunter man einvernehmliche homosexuelle Handlungen eines Erwachsenen mit einem Jugendlichen verstand, die als prägend für die spätere sexuelle Orientierung angesehen wurden. Durch Hinweise auf Polizei und Zuchthaus (66/26) wurde unmissverständlich deutlich, dass man entschlossen war, Jugendliche auch vor einvernehmlichen sexuellen Erlebnissen mit älteren Homosexuellen zu schützen. In der Zeit bis 1969 ist kaum ein Unterschied auszumachen in der Beurteilung der Verführung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Die Strafbarkeit homosexueller Handlungen hat hier deutlich wahrnehmbar eine entsprechende Einstellung geprägt. 1966 wurden 2-3 % aller Homosexuellen für unheilbar gehalten, alle anderen waren angeblich durch Verführung oder ungünstige Einflüsse in der Kindheit homosexuell geworden (66/25). Auf zwei Seiten beschäftigt sich Frau Fischer nur mit der Heilbarkeit von Homosexualität (66/26). Nur ein Jahr später – die Abschaffung des § 175 wird diskutiert – rudert BRAVO leicht zurück. Eine konstitutionell und damit nicht veränderbare angeborene Anlage soll eine größere Rolle als die Verführung spielen (67/26), wird nun in Betracht gezogen.

    Auf zwei Seiten beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, ob männliche Homosexualität heilbar ist. Aus: BRAVO 66/26.

    1969: Zum ersten Mal wird in der BRAVO das Wort schwul verwendet.

    Über sexuellen Missbrauch von Jungen durch Männer wurden keine selbständigen Beiträge veröffentlicht. Ein gleichgeschlechtlicher Missbrauch wurde von Dr. Vollmer durch Formulierungen wie auch Jungen (66/9) in einzelnen Beiträgen nur miterwähnt, ohne dass eine spezifische Aufklärung erfolgte. Es wurden für Jungen keine konkreten Fälle genannt und die Gefahr blieb abstrakt. Weil es früher ein Tabu war, Sexualstraftäter im familiären und scheinbar wohlbehüteten Umfeld zu suchen, wurden gleichgeschlechtliche Sexualstraftäter im einsamen Park und auf abgelegenen Plätzen geortet (64/14). Damit verbreitete sie die bestehenden Klischees. Fehlende Sensibilität in diesem Bereich der Aufklärung kann auch gut an einem Beispiel belegt werden, das nicht mit Homosexualität in Verbindung steht: Bei weiblichen Opfern sexueller Belästigungen betonte Dr. Vollmer, dass die Opfer vorher versuchen, die Aufmerksamkeit anderer Erwachsener auf sich [zu] lenken (66/9). Damit suggeriert sie eine Form von Mitschuld und stilisiert die Mädchen zu Mittätern. Sie schloss sich dabei ausdrücklich nicht der Forderung nach einer Todesstrafe für Sittlichkeitsverbrecher an (66/9). Sexuellen Missbrauch von Mädchen durch Frauen macht Dr. Vollmer nie zu einem Thema.

    Reportagen von Dr. Kirsten Lindstroem

    Unter dem Namen Dr. Kirsten Lindstroem, einer angeblich jungen schwedischen Ärztin, erschien ab 1969 eine Aufklärungsserie in BRAVO. Die BRAVO folgte hier einem Trend – in Büchern, Filmen und Zeitschriften hieß es, Sexualität sei in Skandinavien freier oder gar hemmungsloser. Die Unterschiede in der Pornographie-Gesetzgebung führten zu diesen Vorstellungen. Auch diese Serie soll pseudonym von Marie Louise Fischer geschrieben worden sein. Gegen diese Vermutung spricht jedoch einiges.¹⁶ In Dr. Lindstroems Rubrik erschienen auch zwei Reportagen zur Homosexualität,¹⁷ die in einzelnen Aspekten positiv auffallen. Bei der Reportage Wenn Mädchen Mädchen verführen sieht man Frauen, die sich zärtlich berühren und in Unsere heimlichen Spiele wird die Liebe zwischen Jungen auch als solche bezeichnet. Zum ersten Mal wird in der BRAVO das Wort schwul verwendet – auch wenn es als Zitat gekennzeichnet und mit einer entsprechenden Erklärung versehen

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