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Das homosexuelle Begehren: Nautilus Flugschrift
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eBook254 Seiten4 Stunden

Das homosexuelle Begehren: Nautilus Flugschrift

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Über dieses E-Book

Das fulminante Erstlingswerk des Philosophen und LGBT-Aktivisten Guy Hocquenghem, ein Schlüssel- und Initialwerk der Queer Theorie – endlich neu aufgelegt

Als er 1972 Das homosexuelle Begehren schrieb, war Guy Hocquenghem gerade 25 Jahre alt – eine schillernde Persönlichkeit, Philosoph, Trotzkist und Schwulenaktivist. Hocquenghem fordert ein neues Denken über Geschlecht, Begehren und Sexualität, jenseits binärer Schemata und des "ödipalen Dreiecks" der psychoanalytischen Theorie. Für ihn gibt es keine stabile (sexuelle) Identität, sondern nur ein universelles Begehren. Skeptisch gegen jede Behauptung von "Normalität" kritisiert Hocquenghem daher auch jene liberale Ideologie, die Homosexualität zwar toleriert, aber nur als von der Normalität klar abgetrenntes "Minderheiten-Phänomen". Sein Buch ist eine radikale Kritik der gesellschaftlich fest verankerten Homophobie, zugleich aber auch ein Appell an die Bewegung, sich nicht vom liberalen Integrationsversprechen blenden zu lassen, das die Stillstellung des Begehrens in einer "homosexuellen Identität" einfordert. Stattdessen sieht er die Rolle der homosexuellen Emanzipationsbewegungen darin, mit ihrer eigenen Befreiung auch die der Sexualität aller zu erkämpfen.
Für die soziologische Debatte in Frankreich ist Hocquenghems Werk wegweisend – so sind die Schriften Didier Eribons wie auch Michel Foucaults Hauptwerk "Histoire de la sexualité" (Band 4 erscheint 2019 erstmalig auf Deutsch), stark von ihm geprägt. Diese Neuauflage schließt eine große Lücke im deutschsprachigen Diskurs.
SpracheDeutsch
HerausgeberEdition Nautilus
Erscheinungsdatum30. Sept. 2019
ISBN9783960542094
Das homosexuelle Begehren: Nautilus Flugschrift

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    Buchvorschau

    Das homosexuelle Begehren - Guy Hocquenghem

    GUY HOCQUENGHEM (1946–1988) war früh in kommunistischen und trotzkistischen Gruppen aktiv. Als Student beteiligte er sich an den Protesten im Mai 1968 und wurde 1971 Mitglied des neu gegründeten Front homosexuel d’action révolutionnaire (FHAR). Der Vertraute von Gilles Deleuze, Michel Foucault und René Schérer veröffentlichte mehr als zwanzig Werke, bis er 1988 an Aids starb.

    LUKAS BETZLER, geboren 1989, promoviert gegenwärtig über die Literaturtheorie der älteren Kritischen Theorie an der Universität Lüneburg. HAUKE BRANDING, geboren 1988, forscht und veröffentlicht zu Klassentheorien, zur Geschichte der Schwulenbewegung und der Queer Theory.

    Zuerst erschienen 1972 unter dem Titel Le désir homosexuel bei Editions Universitaires Paris; neu herausgegeben 2000 bei Librairie Artheme Fayard. Auf deutsch zuerst erschienen 1974 unter dem Titel Das homosexuelle Verlangen bei Hanser.

    © Librairie Artheme Fayard, 2000.

    Edition Nautilus GmbH

    Schützenstraße 49 a

    D - 22761 Hamburg

    www.edition-nautilus.de

    Alle Rechte vorbehalten

    © Edition Nautilus GmbH 2019

    Erste Auflage September 2019

    © Foto Seite 5:

    Jean-Pierre REY /

    Fond Photographique

    Jean-Pierre REY

    Umschlaggestaltung:

    Maja Bechert

    www.majabechert.de

    ePub ISBN 978-3-96054-209-4

    Guy Hocquenghem, 1972

    Inhalt

    Einleitung

    I. Die anti-homosexuelle Paranoia

    Das Widernatürliche und das Gesetz: Die Natur und der Code Pénal • Der Mythos des sittlichen Fortschritts • Die Zunahme der anti-homosexuellen Paranoia • Homosexualität und Kriminalität • Homosexualität und Krankheit • ›Latente‹ Homosexualität gegen ›offene‹ Homosexualität

    II. Schändliche, Perverse, Verrückte

    Perverser Polymorphismus, Bisexualität, unmenschliches Geschlecht • Der Hass auf die Frau • Die Ödipalisierung der Homosexualität • Die Kastration, der Narzissmus • Ödipus und der Homosexuelle • Der homosexuelle Präsident • Der Teufelskreis der Heilung • Scham und Homosexualität

    III. Familie, Kapitalismus, Anus

    Der signifikante Phallus und der sublimierte Anus • Homosexualität und Anus • Homosexualität und Identitätsverlust • Konkurrenzgesellschaft und Herrschaft des Phallus • Ödipale Reproduktion und Homosexualität • Die homosexuelle Gruppalisierung

    IV. Homosexuelle ›Objektwahl‹ und homosexuelles ›Verhalten‹

    Die ›Objektwahl‹ • ›Drittes Geschlecht‹ und Feminin-Maskulin • Masochismus und Homosexualität • Die Cruisingmaschine

    V. Der homosexuelle Kampf

    Die Revolution des Begehrens • Wieso die Homosexualität? • Die Falle des Perversen • Gegen das pyramidale Prinzip

    Schluss

    Lukas Betzler und Hauke Branding

    Guy Hocquenghems radikale Theorie des Begehrens – Nachwort zur Neuherausgabe

    Die Leben des Guy Hocquenghem • Rezeption und Vergessen • Kritik der Linken, Kritik der Psychoanalyse • Queer Theory avant la lettre • Anziehungskraft und Aktualität • Die Suche nach dem revolutionären Subjekt • Negative Irritationen • Was zu bewahren ist – eine radikal-queere Gesellschaftskritik • Editorische Epilegomena

    Literaturverzeichnis

    Personenregister

    Für Gérard Grandmontagne, der sich am 25. September 1972 im Gefängnis von Fresnes das Leben genommen hat.

    Einleitung

    Nicht das homosexuelle Begehren ist problematisch, sondern die Angst vor der Homosexualität; es gilt zu erklären, warum das bloße Wort bereits Fluchtbewegungen und Hassgefühle auslöst. Fragen wir uns also, wie man in der heterosexuellen Welt über die ›Homosexualität‹ zu reden und zu phantasieren pflegt. Die große Mehrheit der ›Homosexuellen‹ ist sich nicht einmal ihrer Existenz bewusst. Von Kindheit an wird das homosexuelle Begehren durch eine Reihe von Mechanismen in Familie und Erziehung gesellschaftlich eliminiert. Die Fähigkeit zu vergessen, die jene gesellschaftlichen Mechanismen angesichts des homosexuellen Triebes hervorbringen, ist groß genug, um jeden sagen zu lassen: Für mich existiert dieses Problem gar nicht.

    Wir nehmen hier das zum Ausgangspunkt, was man gemeinhin ›männliche Homosexualität‹ nennt. Nicht dass die Unterscheidung der Geschlechter selbstverständlich wäre: Sie soll hier letztlich selbst in Frage gestellt werden. Doch die Organisation des Begehrens, der wir unterliegen, beruht auf der Herrschaft des Mannes, und so bezeichnet man mit dem Terminus ›Homosexualität‹ vor allem die ödipal-imaginäre Konstruktion der männlichen Homosexualität. Es wäre sinnlos, die weibliche Homosexualität erneut in jenen Begriffen zu behandeln, in denen die männliche Ideologie es für gewöhnlich tut.

    Es gibt Ausdrucksformen des Begehrens, die wir alle schon verspürt haben, von denen wir jedoch in unserem Alltagsleben niemals sprechen. Darum können wir uns auch nicht damit begnügen, unsere Vorstellungen über unser eigenes Begehren heranzuziehen. Ein phantastischer gesellschaftlicher Mechanismus tilgt unaufhörlich die Spuren, die unser verdrängtes Begehren immer wieder hinterlässt. Um zu begreifen, welche Macht dieser Mechanismus besitzt, muss man sich bloß vor Augen halten, was mit einer so universell verbreiteten Erfahrung wie der Masturbation geschieht: Alle haben sich selbstbefriedigt, doch niemand spricht jemals darüber, nicht einmal in seinen engsten Beziehungen.

    Homosexuelles Begehren: Dieser Begriff ist nicht selbstverständlich. Es gibt keine Unterscheidung des Begehrens in Homosexualität und Heterosexualität. In strengem Sinne gibt es nicht mehr homosexuelles Begehren, als es heterosexuelles Begehren gibt. Das Begehren tritt in vielfältiger Form hervor, deren einzelne Bestandteile a posteriori trennbar sind, entsprechend den Behandlungen, denen wir es unterziehen. Wie das heterosexuelle Begehren ist auch das homosexuelle Begehren eine willkürliche Unterteilung (découpage) innerhalb eines ununterbrochenen und vieldeutigen (polyvoque) Stromes. Die Charakterisierung des Begehrens als ausschließlich homosexuell ist in ihrer derzeitigen Form ein Trugbild des Imaginären (leurre de l’imaginaire). Da jedoch das Spiel der Bilder in der Homosexualität am deutlichsten zum Vorschein kommt, kann man die Arbeit der Dekonstruktion dieser Bilder hier, an ihrem empfindlichsten Punkt, beginnen. Wenn sich im Bild der Homosexualität auf komplexe Weise Begehren und Furcht miteinander verbinden, wenn die Beschwörung des homosexuellen Phantasmas obszöner und zugleich erregender als alles andere ist, wenn man als Homosexueller nirgendwo auftauchen kann, ohne dass die Familien sich aufregen und ihre Kinder beiseite nehmen, ohne dass sich eine Mischung aus Schrecken und Begehren breitmacht, so eben darum, weil für uns Angehörige westlicher Gesellschaften des 20. Jahrhunderts eine enge Beziehung zwischen Begehren und Homosexualität besteht. Homosexualität bringt etwas vom Begehren zum Ausdruck, das sonst verborgen bleibt – und dieses ›etwas‹ ist keineswegs bloß der mit einer Person gleichen Geschlechts vollzogene Geschlechtsakt.

    Die Homosexualität sucht die ›normale Welt‹ heim. Dieser Feststellung konnte sich nicht einmal ein Alfred Adler entziehen: »Wie ein Gespenst, ein Schreckpopanz, erhebt sich die Frage der Homosexualität in der Gesellschaft. Aller Verdammnis zum Trotz scheint die Zahl der Perversen in Zunahme begriffen zu sein […]. Die härtesten Strafen, die mildeste Beurteilung, versöhnliche Haltung, Verschweigung zuletzt, – alle Versuche bleiben ohne Einfluß auf die Verbreitung dieser Anomalie.«¹ – so beginnt seine Schrift Das Problem der Homosexualität. In ihrem unaufhörlichen Kampf gegen die Homosexualität stellt die Gesellschaft stets von Neuem fest, dass ihre Verurteilung eben jene Plage, die loszuwerden sie beabsichtigt, selbst reproduziert.

    Und dies nicht ohne Grund: Die kapitalistische Gesellschaft erzeugt den Homosexuellen, wie sie den Proletarier produziert, wodurch sie ständig ihre eigenen Schranken hervorbringt. Die Homosexualität ist ein Erzeugnis der normalen Welt; wir verstehen diesen Satz jedoch selbstredend nicht im Sinne eines gewissen Liberalismus, der zur Entschuldigung der Homosexuellen erklärt, dass die Gesellschaft schuldig sei – eine pseudo-progressive Haltung, die für den Homosexuellen noch gnadenloser ist als die offene Repression. Niemand wird jemals die Vieldeutigkeit (polyvocité) des Begehrens beseitigen. Was aber erzeugt wird, ist jene psychopolizeiliche Kategorie der Homosexualität, jene abstrakte Unterteilung des Begehrens, die auch noch über den zu bestimmen erlaubt, der sich ihr entzieht, jene gesetzliche Erfassung dessen, was jenseits des Gesetzes ist. Die Kategorie – und sogar das Wort selbst – sind eine relativ neue Erfindung. Der wachsende Imperialismus einer Gesellschaft, die auch dem nicht Klassifizierbaren einen gesellschaftlichen Status zuweisen will, hat diese Partikularisierung des Ungleichgewichts geschaffen: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Gottesleugner, diejenigen, die nicht sprechen konnten, und die ›Sodomiten‹ in ein und dasselbe Gefängnis geworfen. So wie das Aufkommen der Psychiatrie und des Irrenhauses bezeugt, welche Fähigkeit die Gesellschaft bei der Erfindung spezifischer Mittel zur Klassifizierung des nicht Klassifizierbaren entwickelt², so erschafft das moderne Denken eine neue Krankheit: die Homosexualität. Laut Havelock Ellis soll das Wort ›homosexuell‹ 1869 von einem deutschen Arzt erfunden worden sein.³ Das pseudowissenschaftliche Denken der Psychiatrie hat, indem es zum Zwecke besserer Beherrschung Unterteilungen vornahm, die barbarische Intoleranz in zivilisierte Intoleranz verwandelt.

    Damit kennzeichnete sie das, was am Rande steht, doch indem sie das tat, rückte sie es ins Zentrum. Lehrreich ist hier das erstaunliche Unternehmen Alfred Kinseys: Er setzte lediglich die Einschließungsbemühungen der modernen Psychiatrie fort, indem er ihnen die materiellen, soziologischen und statistischen Grundlagen verschaffte: In einer Welt, die von Zahlen lebt, hat er gezeigt, dass man die Homosexuellen auf einen Anteil von vier oder fünf Prozent eingrenzen kann. Und es waren nicht diese wenigen Millionen, die den Entrüstungssturm bei der Veröffentlichung des Kinsey-Reports ausgelöst haben, sondern die folgende Entdeckung, die wissenschaftliche Einfalt nicht zu verheimlichen wusste: »Da nur 50 Prozent der Bevölkerung als Erwachsene ausschließlich heterosexuell sind und nur 4 Prozent der Bevölkerung während ihres gesamten Lebens ausschließlich homosexuell sind, scheint es, daß sich fast die Hälfte der Bevölkerung als Erwachsene (46 Prozent) sowohl heterosexuell als auch homosexuell betätigt oder auf Personen beiderlei Geschlechts reagiert.«

    Es geht also nicht mehr bloß um die kleine ›Tunte‹, die jeder kennt, sondern um jede zweite Person – um Ihren Nachbarn oder, warum nicht, um Ihren Sohn. Und der naive Kinsey schreibt: »Die Welt läßt sich nicht in schwarze und weiße Schafe aufteilen; denn nicht alle Dinge sind schwarz oder weiß. Es ist ein Grundsatz der Taxonomie, daß die Natur selten getrennte Kategorien aufweist. Nur der menschliche Geist führt Kategorien ein und versucht, die Tatsachen in bestimmte Fächer einzuordnen. Die lebende Welt ist in allen ihren Aspekten eine Kontinuität.«⁵ Immer genauere Unterscheidungen will man treffen und trifft dabei auf das Ununterscheidbare. Waren tatsächlich so viele Fragebögen und Befragungen nötig, um am Ende herauszufinden, dass jeder mehr oder weniger homosexuell ist? Freilich, man wird die Rechte der quantitativen Normalität mit der berühmten Kinsey-Skala wiederherstellen, jener Skala, die die Individuen nach dem Grad ihrer homosexuellen Praxis durchnummeriert und dabei den Prozentsatz auf das Niveau der in jedem Menschen vorhandenen Quantität homosexuellen Begehrens hinabdrückt.

    So ist die normale Sexualität von allen Seiten umstellt, und in unaufhörlicher Bewegung wird sie von ihren Rändern her unterspült. Alle Bemühungen um Isolierung, Erklärung, Eindämmung des pestkranken Päderasten⁶ enden damit, dass sie ihn in den Mittelpunkt der Wachträume rücken. Hierin ist Jean-Paul Sartre recht zu geben, wie immer man auch sonst sein psychologisches Portrait Jean Genets kritisieren mag: Warum lässt die Gesellschaft immer nur die Psychiater zu Wort kommen, niemals aber die Homosexuellen – es sei denn in der traurigen Litanei der klinischen ›Fälle‹? »Für uns ist allerdings wichtig, daß man uns bloß nicht die Stimme des Schuldigen selbst hören läßt, diese sinnliche und erregende Stimme, die junge Leute verführt, diese atemlose Stimme, die während der Lust murmelt, diese vulgäre Stimme, die eine Liebesnacht wiedergibt. Der Päderast muß ein Objekt bleiben, Blume, Insekt, Bewohner des antiken Sodom oder des fernen Uranus, ein Automat, der im Rampenlicht herumhopst; alles, was man will, nur nicht mein Nächster, nur nicht mein Bild, nur nicht ich selbst. Denn man muß schon wählen: wenn jeder Mensch der ganze Mensch ist, muß dieser Abweichler entweder nur ein Kieselstein oder ich sein.«⁷ Aus der Unterscheidung erwächst die Sicherheit, doch aus eben diesem Wort pédéraste erwächst etwas merkwürdig Verführerisches: pédérasque, wie das Ungeheuer Tarasque, oder pédérastre, wie Zoroastre (Zarathustra). Dergleichen gängige Fehler, gefunden in Leserbriefen an Zeitungen, sagen genug über das aus, was geschieht, wenn man dieses Wort ausspricht. Nebenbei sei auf den außerordentlich reichen Wortschatz zur Bezeichnung des männlichen Homosexuellen hingewiesen: Tante (tante), Tunte (tantouze), Schwuchtel (pédé) (egal ob als Maskulinum oder Femininum) usw. – alles sieht so aus, als mühte sich die Sprache ab, das Unsagbare einzugrenzen und zu benennen.

    Wenn also immer wieder betont wird, dass es keinerlei Unterschied zwischen den Homosexuellen und den Heterosexuellen gebe, dass die einen wie die andern sich in Reiche und Arme, Männchen (mâles) und Weibchen (femelles), Gute und Böse aufteilten, dann gerade deswegen, weil zwischen den Homosexuellen und den Heterosexuellen eine Distanz besteht, weil alle Bemühungen um eine Eingliederung der Homosexualität in das normale Leben immer wieder enttäuscht werden, weil sich bei jeder Gelegenheit ein unüberbrückbarer Abgrund auftut. Die Homosexualität existiert nicht und existiert doch: Was die Gewissheit ihrer Existenz in Frage stellt, ist die Art und Weise, in der sie existiert.

    1 Adler, Das Problem, S. 23.

    2 Vgl. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft.

    3 Vgl. Ellis, Sexual Inversion.

    4 Kinsey, Das sexuelle Verhalten des Mannes, S. 605. Diese 1948 veröffentlichte und als Kinsey Report bekannt gewordene Studie stellte das männliche Sexualverhalten erstmals auf Grundlage groß angelegter statistischer Erhebungen dar (Anm. d. Hrsg.).

    5 Ebd., S. 594.

    6 Der Begriff pédéraste meint im Französischen im Allgemeinen einen männlichen Homosexuellen und impliziert, anders als die Bezeichnung ›Päderast‹ im Deutschen, nicht (notwendigerweise) ein auf männliche Jugendliche gerichtetes Sexualempfinden. Die im Französischen gängige abwertende Bezeichnung pédé für ›Schwuler‹ oder ›schwul‹ sowie der Verlan-Begriff race d’ep, nach dem ein Essayfilm von Hocquenghem und dem Filmemacher Lionel Soukaz betitelt ist, leiten sich aus diesem Wort ab (Anm. d. Hrsg.).

    7 Sartre, Saint-Genet, S. 910.

    I. Die anti-homosexuelle Paranoia

    Die Herausbildung der Homosexualität als gesonderter Kategorie geht eng einher mit ihrer Unterdrückung. Es ist also kaum verwunderlich, wenn man entdeckt, dass die anti-homosexuelle Unterdrückung selbst ein gestörter Ausdruck des homosexuellen Begehrens ist. Die Haltung dessen, was man gemeinhin ›die Gesellschaft‹ nennt, ist aus dieser Perspektive gesehen paranoisch: Sie leidet unter einem Deutungswahn, der sie dazu bringt, überall Indizien für eine homosexuelle Verschwörung gegen ihr gutes Funktionieren finden zu müssen. Martin Hoffman, ein gewissenhafter und phantasieloser Soziologe, hat die Existenz einer solchen Paranoia selbst zugegeben.⁸ Ein Film wie Jagdszenen aus Niederbayern⁹ verdeutlicht sehr gut, wozu der paranoische Deutungswahn eines bayerischen Dorfes führen kann angesichts eines Mannes, auf den sich die homosexuelle Libido sämtlicher Dorfbewohner konzentriert: Die Jagd, mit der der Film endet, verstößt den Repräsentanten des Begehrens aus allen Bindungen an die Gemeinschaft. Der Auftritt eines erkennbaren oder eingestandenen Homosexuellen löst bei den Anwesenden sofort eine panische und irrationale Angst vor Vergewaltigung aus. Der Austausch zwischen einem ›Schwulen‹ und jemandem, der sich für normal hält, erwächst aus jener Spannung, die im ›Normalen‹ sofort die Frage aufkommen lässt: Begehrt er mich etwa? – als ob der Homosexuelle sein Objekt niemals auswählte, als ob ihm jedes Individuum männlichen Geschlechts recht wäre. Spontane Sexualisierung bestimmt jede Beziehung zu einem Homosexuellen.

    Die Psychiatrie nimmt im Allgemeinen an, dass eine enge Verbindung zwischen Homosexualität und Paranoia besteht. Doch meistens gibt sie ihr die folgende Form: Der Homosexuelle leidet häufig unter einem Verfolgungswahn, er ›fühlt sich bedroht‹. Dies ist eines seiner wichtigsten klinischen Merkmale. Homosexualität fällt unter die Kompetenz des Arztes, und was der Homosexuelle sagt, ist nur in der Projektion auf den psychiatrischen Bildschirm von Interesse und von Wert. Denn eine Umkehrung der Perspektive schreibt den aus der Situation entstandenen paranoischen Diskurs dem Individuum zu. In anderen Worten: Fühlt sich der Homosexuelle bedroht, oder ist er es tatsächlich? Der gesellschaftliche Diskurs über Homosexualität, den der Homosexuelle verinnerlicht hat, ist das Ergebnis jener Paranoia, durch die ein vorherrschender Sexualitätsmodus – nämlich die reproduktive familiale Heterosexualität – seine Angst vor stets erneut hervortretenden Formen der eliminierten Sexualitätsmodi zum Ausdruck bringt. Die Diskurse der Ärzte, Richter, Journalisten, Erzieher sind Ausdruck des unaufhörlichen Bemühens, die homosexuelle Libido zu verdrängen.

    Der berühmte ›Verfolgungswahn‹ ist in Wahrheit tatsächlich eine paranoische Verfolgungssucht. Sehr lehrreich ist hier die Umkehrung, die dem Freudianismus widerfahren ist. Freud hat erklärt, dass die Paranoia im Allgemeinen auf eine Verdrängung der homosexuellen Libidoanteile zurückgeht. Die Furcht vor der eigenen Homosexualität verleitet den Mann zu der paranoischen

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