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Shades of Sade: Eine Einführung in das Werk des Marquis de Sade
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eBook450 Seiten5 Stunden

Shades of Sade: Eine Einführung in das Werk des Marquis de Sade

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Über dieses E-Book

"Marquis de Sade, Urvater und Namensgeber des Sadismus, sein Schädel wurde aufgespalten, seine Perversionen bleiben unsterblich"

Es gibt im deutschen Sprachraum wohl kaum intimere Kenner des Werks D.A.F. de Sade als Stefan Zweifel und Michael Pfister. Seit 30 Jahren übersetzen sie seine Texte und setzen sich mit seinen Vorstellungen von Gesellschaft, Erotik, Religion, Philosophie und Moral auseinander. In "Shades of Sade" ziehen sie nicht nur die Summe ihrer Auseinandersetzung mit diesem monumentalen und erratischen Jahrtausendwerk sondern bieten auch eine Einführung und Leseanleitung zugleich.

Ihr kenntnisreicher und sehr persönliche Zugriff ermöglicht in Kombination mit den im Buch abgedruckten wichtigsten Stellen aus dem Sade'schen Werk dem Leser eine offene und zeitgemäße Begegnung mit dem verstörenden Werk. Zweifel und Pfister legen seinen bis heute aktuellen radikalen Bruch mit allen gesellschaftlichen, religiösen, moralischen und erotischen Tabus offen, sie betten zudem die Sade'schen Schriften in die Umstände ihres Entstehens ein und zeigen deren Sprengpotenzial für den heutigen Leser auf.

Die heutigen Bildwelten von S/M im Internet haben Sades Entdeckungen vermarktet und ihnen den Stachel des Widerstandes gezogen, "Shades of Sade" schützt Sade vor diesem Erfolg seiner Abziehbilder.

Stefan Zweifel: "Die ›Sub‹ presst im Millionenerfolg bei Bondage aus jedem Körperglied den sexuellen Mehrwert und wir alle tragen unseren Körper auf den Markt. Vielleicht ist Sade wieder so aktuell, weil wir gerade in seine Welt eintauchen."
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Mai 2015
ISBN9783957571274
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    Buchvorschau

    Shades of Sade - Stefan Zweifel

    gegeben.

    1. Vorspiel

    Fifty Shades of Sade

    Ah, wenn doch die ganze Pracht seiner Männlichkeit nicht immer aus dem gleichen »Zipper« und Wortschlitz springen würde, ehe Anastasia Steele, stets empfänglich, diese Allpracht mit einem Ah! in ihren Mund nimmt, um dann ganz lustrund Oh! zu stöhnen, während ihre »innere Göttin«, ihr verdrängtes Gegen-Ich, in den immergleichen Wendungen »vor Lust zersplittert«, sobald sie sich von ihm, ihrem reichen Herrn, quälen lässt, der wie ein Helikopter in seiner mannmännlichen Selbstherrlichkeit über ihr kreist, während sie gefesselt ist, sich im Pain Room windet, ein Lüstchen für den Tag, ein Schmerzchen für die Nacht. Ganz entfesselt und gefesselt zugleich, in einer Welt der unendlichen Möglichkeiten ganz ihm ausgeliefert, ihm, dem armen reichen Mann, der als Kind von seiner blonden Mutter missbraucht wurde und sich nun bei Bondage-Spielen an den blondierten Frauen seines Harems abreagieren muss, die ihm als Sekretärinnen dienen, oder eben an ihr, Anastasia, bei der er zufällig am Anfang des Romans ein Hanfseil kauft, mit dem er sie gängeln wird, bis ihre Liebe, grenzenloser noch als ihre Lust, ihn bezwingen, zähmen, heilen und in den hehren Hafen der Ehe führen wird, wo bei S/M-Spielen die Harmlosigkeit des Konsumismus zelebriert und aus jedem Körperglied der Mehrwert gepeitscht wird — ach, man wünscht den beiden als Hochzeitsgeschenk, abgesehen von einem Penisring an den Finger, nichts so sehr wie eine Gesamtausgabe des Marquis de Sade, oder zumindest: 50 Seiten Sade.

    Abgehackte Kuhfüße vor Schlachthöfen, gewaltige Blutstriemen am Boden, hingepinselt nicht von Francis Bacon, sondern von anonymen Metzgergesellen, dann große Zehen von Menschenfüßen, die unsere verdrängte Unbeholfenheit und Hässlichkeit illustrieren sollten, oder ersterbende Fliegen, die als dunkle Wolke des Todes auf Klebepapier wimmeln — zwischen all diesen Ekelerregungskunststücken tauchte in Georges Batailles Zeitschrift DOCUMENTS 1929 die Photographie eines Manuskriptes auf: Die Rolle der »120 Journées de Sodome«, jene schauerliche Abrechnung mit dem Projekt der Aufklärung, die der Marquis de Sade 1785 verfasste, ein Schriftstück, das noch weit mehr als die verhackstückte Tier- und Menschenmaterie das absolute Grauen symbolisiert, den namenlosen Schrecken und das Unsägliche, zu dem der Mensch fähig ist.

    Mit dieser von den Surrealisten als Fetisch verehrten Rolle wollte Bataille seine Theorie des »Unförmigen« illustrieren: Kuhfüße und Schriftrolle sind gleichermaßen Elemente, die aus dem Chaos der sogenannten »niederen Materie« auftauchen, aus jenen Niederungen, die keinen Sinn machen, sich nicht durch Vernunft erklären und beherrschen lassen, sondern dem systematischen Zwang zur Homogenisierung als das Heterogene gegenüberstehen und als das ewig unzähmbare andere, als zerfetzte Glieder des zerstückelten Dionysos, andeuten, aus welchem Abgrund von Weh und Trauer der schöne Schein unseres »normalen« Lebens auftaucht.

    Diese Rolle also, von Sade aus kleinen Papierstreifen zusammengeklebt, diese über 12 Meter lange, mit winziger Schrift beschriebene Rolle, die er im Kerker der Bastille in Mauerritzen vor den Augen der Zensur verstecken musste, diese Rolle, auf der 600 menschliche Perversionen verzeichnet sind und die er nicht nur in den Löchern der Mauer versteckte, sondern, in ebenhölzerne Dildos eingerollt, eben auch in seinen eigenen Hintern steckte, aus dem sie während seiner einsamen Automasturbation »unter spitzen und hohen Schreien« auftauchte, wie die Gefängniswärter in Sades Akte notierten — dieses Manuskript, für das seine Frau Renée-Pélagie ein so großes »Futteral« kaufen musste, dass man sie für »eine Verrückte« hielt, dieses »Anuskript« wurde 2004 in der Fondation Bodmer in Cologny bei Genf zum ersten Mal vor den Augen der Öffentlichkeit ausgebreitet und, zehn Jahre später, für 7 Millionen Euro nach Paris verkauft, wo es 2014 im Musée des Lettres et des Manuscrits endlich wieder in jener Stadt ans Licht gelangt, in der Sade nach dem Sturm auf die Bastille 1789 »blutige Tränen« vergossen hatte, weil er sein Un-Werk in den Trümmern dieser Zwingburg des Ancien Régime nicht mehr finden konnte.

    Seit die Handschrift der »120 Journées de Sodome« um 1900 in Berlin wieder aufgetaucht war, wurde sie in endlosen Kommentaren von Interpreten wieder und wieder entrollt und als Nachtseite der optimistischen Aufklärung ausgelegt. Die vier Erzählerinnen, die 600 Perversionen herunterbeten, hat Alberto Giacometti einst im gleißenden Gegenlicht erblickt, als er 1946, am letzten Abend, bevor es geschlossen wurde, in sein Lieblingsbordell »Le Sphinx« ging, und sie dann 1950 als »Quatre figurines sur socle« verewigt; in der Version des Zürcher Kunsthauses sind die Augen der vier Frauen schwarz-blau angelaufen, Blutstriemen überziehen die Körper, als wären es jene erstarrten Leichen, die Giacometti in einer selten zitierten Notiz aus seiner Genfer Zeit eigentlich als »Sandwich« verspeisen wollte — ferne und karge Erinnerung an die Feten in der Villa Noailles bei Hyères an der Côte d’Azur, wo Man Ray 1929 seinen Film »Les Mystères du Château de Dé« drehte. Der Vicomte Charles de Noailles und seine Gattin, die Sade-Urururenkelin Marie-Laure de Noailles, finanzierten auch Luis Buñuels epochales Werk »L’Âge d’Or«, wo zuletzt die vier Lüstlinge aus Sades Roman über eine Schlossbrücke wanken, der letzte, ein Schauspieler, der auf Jesusfiguren spezialisiert war, kehrt noch einmal um, um ein Opfer seiner Gelüste abzustechen, mit einer Zerstümmelungswut, bei der nicht nur Augen zerschnitten, sondern auch ganze Beine ausgerissen werden, wie bei Giacomettis riesiger Skulptur, die er für den Garten der Villa Noailles konzipiert hatte — ach, ewig könnte man diese dunkle und verdeckte Gegengeschichte der Avantgarde rund um Sade ausbreiten, aber uns geht der Atem aus.

    Legen wir uns also in die Sonne, auf der bienensummenden Wiese der Hochebene hinter der Ruine von Sades provençalischem Stammschloss Lacoste, dessen Zacken sich schauerromantisch vor den glühenden Feuerball am Himmel schieben. Doch die Sonne Sades verweist auf jenen schwarzen Fleck, der sich einstellt, wenn man zu lange ins Licht der Sonne geblickt hat, jene Flecken, die über Nietzsches Netzhaut wanderten, nachdem er wieder und wieder so lange in den »Licht-Abgrund über mir« geschaut hatte, bis ihm Tränen aus den Augen liefen. Lange schon vor Nietzsche hat der Marquis de Sade, als genialer Genealoge der Gewalt, ganze Bibliotheken aufklärerischer Traktate verschlungen und sich intensiv der Strahlkraft der »Lumières« ausgesetzt, doch er ließ sich vom Licht der »Aufklärung« nicht blenden, sondern umriss die Konturen jenes rotglühenden Flecks, den die Sonne auf der Retina hinterlässt, wenn man sie lange fixiert hat und die Augen schließt — es sind die Konturen jener Öffnung, die von der sogenannten Hochaufklärung so gewissenhaft verdrängt wurde, jener »anus solaire«, durch den laut Georges Bataille das heterogene Wissen ausgeschieden wird, welches für den »Fortschritt« des Menschen nicht weiter verwertbar ist. Jener schwarze Punkt also, wo die reine Vernunft in das unreine andere der Vernunft umschlägt.

    BDSM als Zähmung des Unzähmbaren

    Die anhaltende Faszination für Sade, der die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer Autor geprägt hat, speist sich aus seinem schwarz-romantischen Leben und seinen unverdaubaren Texten.

    Dabei zeigt sich, wie unzeitgemäß Sade geblieben ist. Denn so sehr heutige Literatur wie die Roman-Trilogie der britischen Autorin E. L. James (Erika Leonard), »Fifty Shades of Grey« (2011–12), in die Tiefe unserer soziologischen Sphären verweist und im Sadomasochismus ungelöste Spannungen der Gegenwart zu lösen scheint, weil »BDSM eine brillante Lösung für die strukturelle Instabilität von Liebesbeziehungen ist« (Eva Illouz), so bleibt das massentaugliche Alltagsritual des BDSM in seiner Regelstarre dem Sade’schen Sadismus und Masochismus fremd. Unter der »Kontrolle« des Schmerzes und dem »Konsens« des Vertrags kristallisieren sich abermals klar definierte Rollen in einer Gesellschaft, in der sich die Rollenbilder der Geschlechter aufgelöst haben. Der Bastelkeller-Masochist lässt sich auf die Streckbank fesseln wie Odysseus an den Mastbaum. »Der gefesselte Hörende will zu den Sirenen wie irgendein anderer«, schreiben Horkheimer und Adorno, »nur eben hat er die Veranstaltung getroffen, dass er als Verfallener ihnen nicht verfällt.« In der »Dialektik der Aufklärung« erscheint Odysseus als Prototyp des modernen Subjekts, das sich kraft der List der instrumentellen Vernunft der mythischen Kraft des Schicksals und der eigenen Zwiespältigkeit unterwirft, um sie letztlich zu unterjochen. Doch »seit der glücklichmissglückten Begegnung des Odysseus mit den Sirenen sind alle Lieder erkrankt«. Das Subjekt hat sich selbst unterworfen — und zwar der instrumentellen Vernunft. Es hat sich selbst festgepflockt.

    Der BDSM als unverbindlicher Flirt mit der Grenzüberschreitung stabilisiert die Subjekte in ihrer Selbstherrschaft — bei Sade aber oder wie in Pauline Réages (Anne Desclos) »Histoire d’O« lockt zuletzt immer die Selbstauflösung. Bei Sade wird man nicht so leicht vom Sklaven zum Herrn der Natur und seiner selbst. Obwohl zwischen den hohen Libertins ähnliche Zustände herrschen wie in S/M-Clubs und Juliette oder Clairwil gern einmal die Rolle wechseln und sich peitschen lassen, können sie sich nie darauf verlassen, dass es ein Codewort gibt, das die Dynamik der sadomasochistischen Dialektik stoppt, sondern sie ahnen, dass jedes Wort nur Kot ist, ein Abfall wie die eigene Leiche, die dem anderen Lust bereitet.

    Sades Werk und Wesen ist unzähmbar und man muss sich kaum bemühen, ihm immer wieder zu Skandalgehalt zu verhelfen. So wetterleuchtet er aus vielen prägenden Romanen der letzten Jahre: Bret Easton Ellis hat sich 1991 für »American Psycho« an Sades Kult der Kälte geschult und Michel Houellebecq 1998 in »Les Particules Élémentaires« den Niedergang unserer Kultur dem »System Sade« angelastet, später dann hat William T. Vollmann die Affäre von Arcueil (1768) als paradigmatischen Fall in seiner Studie zur Gewalt »Rising Up and Rising Down« (2003) umkreist und Jonathan Littell als Vorhof seines Romans »Les Bienveillantes« (2006) mehrere Texte von Sade für Zeitschriften übersetzt.

    Wer in die Tiefe der Tabus und in die Tiefe seines Ichs mit all seinen Abgründen stürzen will, der kann dies anhand der vorliegenden Sammlung tun. Denn Sade lief einen Sturmlauf nicht nur gegen die Bastille, in der er eingekerkert war, sondern gegen alle Wehrmauern der Vernunft und Zivilisation — er entdeckte die Einsicht: »die Familie des Ödipus sind wir«, und sprengte das Inzesttabu, das universalste Tabu überhaupt, mit endlosen theoretischen Abhandlungen; er rannte auch an wie ein Rammbock gegen das Verbot der Sodomie, also: des Analverkehrs, dessen süßes Geheimnis er wohl in Italien der schönen jungen Schwester seiner Frau ins Ohr geflüstert hatte, von der erst kürzlich ein mit Blut geschriebener Liebesbrief an ihn auftauchte — einen Hauch von Inzest auch über seinem Leben verbreitend.

    Aber Sade hat auch Tabus gebrochen, über die die Gesellschaft heute geradezu panisch wacht: Die Pädophilie etwa, gipfelnd in Szenen in denen Löcher in die Lenden von Knaben gebohrt werden, um auch aus ihnen Mädchen zu machen, diese Szenen würgen jeden Leser, so sprachverspielt er auch ist.

    Doch den Sade-Interpreten vorzuwerfen, sie hätten Sade entschärft, greift zu kurz. Die Lektüren von Roland Barthes, der ihn als sprachspielenden »Logotheten« feierte, von Michel Foucault, von Georges Bataille vor allem, blieben stets für den Skandal empfänglich, ja Bataille wurde beim Lesen der »120 Journées de Sodome« jedes Mal wieder von Fieberanfällen des Grauens geschüttelt.

    Sade 1:1 zu lesen, ist eine Falle, natürlich, vor der uns beim Übersetzen von Sades Hauptwerk »Justine & Juliette« die Sekundärliteratur bewahrte. Hingegen traf uns jetzt, nach zehn Jahren, dieser Text hinter der Netzhaut ins Sonnengeflecht der Empfindsamkeit.

    Ja, es war für uns eine besondere Form der Grenzerfahrung, zu spüren, wie Grenzen, die einmal gefallen waren, langsam wieder hochgezogen wurden, vielleicht auch, weil wir mittlerweile selbst Kinder haben und in einem Alter stehen, wo das Flirten mit Sade nicht mehr jugendlichen Übermut ausstrahlt, sondern uns die Grimasse alter Lüstlinge ins Gesicht schreibt. Wir erschrecken selbst vor diesem Spiegel des Textes und möchten Sade weder entschuldigen noch verharmlosen, sondern noch einmal ins Offene entgrenzen.

    Dreißig Jahre also saß Sade in den Zellen der Gefängnisse und Irrenhäuser von Frankreich und Italien. Unter drei völlig verschiedenen Regimes: Im Ancien Régime von der eigenen Familie verfolgt und zuletzt in die Festung von Vincennes und die Bastille verfrachtet, unter den terroristischen Tugendrevolutionären in einem Spital »mit der Guillotine vor Augen« auf den eigenen Tod wartend und unter Napoleon im Irrenhaus von Charenton entmündigt und sogar der Tinte beraubt, damit er nicht weiter an seinen Werken arbeiten konnte. Die Jakobiner verbannten ihn für seinen Widerstand gegen den Tugendkult und seine Reden gegen die Todesstrafe, Napoleon für ein gewaltiges Werk: »Justine & Juliette« — diesmal für die letzten dreizehn Jahre seines Lebens. Wenige nur trugen die Konsequenz ihres Schreibens so unbeugsam wie Sade, der in Charenton 1807 noch einmal ein Werk schrieb, »Les Journées de Florbelle«, 6000 Seiten lang, nach seinem Tod aber verbrannt von seinem Sohn und der Gendarmerie.

    Im biographischen Anhang zeigen wir, wie Sade schon in der ersten öffentlich gewordenen Affäre erotisch-blasphemische Texte von einer Prostituierten vorlesen ließ, um sich an der Vorstellung eines beschimpften Gottes aufzugeilen und aufs Kruzifix zu ejakulieren. In Marseille stellte er die gesellschaftlichen Regeln auf den Kopf und trat als Diener seines eigenen Dieners auf, von dem er sich sodomisieren und auspeitschen ließ. In der Bastille schließlich wurde er zum Denker des anderen der Aufklärung und schrieb — zum Teil mit Blut! — seine Phantasien nieder, die während der Französischen Revolution den Takt der Guillotine übernehmen, um in der hechelnden Hast seiner stichwortartigen »111 Notes pour la Nouvelle Justine« jedem Tabu den Kopf abzuschlagen — dem Humanismus sowohl als auch dem Menschen selbst, wobei er ihn nicht nur wie Hegel als »Kohlkopf«, sondern, poetischer vielleicht, als »Artischocke« bezeichnete.

    Die Blätter dieser Artischocke haben Flaubert und Baudelaire, die Décadents — Nietzsche werweiß? —, dann die Dadaisten und Surrealisten je und je in ihren eigenen Hirnsaft getaucht — das Herz dieser Artischocke muss jeder Leser selber essen und, wenn das überhaupt möglich ist, verdauen.

    Sade war lange unsere Liebe, unsere Sehnsucht nach dem Aufstand all jener Tobsüchtigen und Irren, die wegen ihres Kampfes gegen den Irrsinn der »Normalität« weggesperrt werden, all jener, wie Antonin Artaud schrieb, »von der Gesellschaft Geselbstmordeten«, deren Werke man nicht aus dem rechten Winkel des Analytikers einfach von oben herab betrachten und als Symptome bearbeiten oder gleich mit einem »kusch, kusch!« auf die Couch betten kann. Nein, Werke des Wahns, die uns selbst auf die schiefe Bahn locken, bis man in den Sog von Übertragung und Gegenübertragung gerissen wird. Die Sadelektüre ist, wie jetzt bei unserer erneuten Annäherung, ganz im Stil der Psychoanalyse ein unendlicher Prozess.

    Bicentenaire 1814 / 2014

    »Dieser Mann, der im neunzehnten Jahrhundert nichts zu gelten schien, könnte leicht das zwanzigste beherrschen.« (Guillaume Apollinaire)

    »Der Tag und das Jahrhundert werden kommen, wo man Sade in jeder Stadt Statuen errichten wird, und zu Füßen einer jeden Statue werden ihm Opfer dargebracht werden.« (Charles Algernon Swinburne)

    Nun feiert man in Paris nicht mehr wie 1989 das Bicentenaire des Bastille-Sturms, den Sade mit seinen Aufrufen durch den Pisstrichter mitverursacht hatte, sondern Sades zweihundertsten Todestag am 2. Dezember 2014. Sein Portrait ziert den Titel der Publikumszeitschrift »Le Point«, um die Massen ins Musée d’Orsay zu locken, wo unter dem Titel »Attaquer le Soleil« Sades Bildwelt üppig, aber auch recht beliebig evoziert wird.

    So übertrieben die Prophezeiung von Guillaume Apollinaire im Vorwort seiner Sade-Sammlung in der »Bibliothèque des Curieux« (1909) scheint, sie hat sich doch auf geradezu unvergleichliche Weise bewahrheitet: Nach der Apotheose des »Divin Marquis« bei André Breton und den Surrealisten wurde Sade zum Spielball der französischen Meisterdenker, die es darauf abgesehen hatten, die in Alexandre Kojèves legendären Vorlesungen Ende der 1930iger Jahre gepredigte Hegelsche Dialektik in einer Art sado-masochistischem Wechselspiel zu überschreiten. Die erratischen Ekstatiker Georges Bataille, Pierre Klossowski und Maurice Blanchot widmeten Sade jeweils mehrere Studien. Es folgten die existentialistischen Exegesen durch Jean-Paul Sartre und Albert Camus, vor allem aber Simone de Beauvoir, die die Titelfrage ihres Essays »Faut-il brûler Sade?« (Soll man Sade verbrennen?) voll Pathos verneinte:

    »In jedem Augenblick leiden und sterben Tausende von Menschen vergeblich, ungerechterweise, und doch rührt uns das nicht an: nur um diesen Preis ist unser Dasein überhaupt möglich. Sades Verdienst ist es nicht nur, mit lauter Stimme verkündet zu haben, was jeder Mensch sich verschämt eingesteht, sondern auch, sich damit nicht abgefunden zu haben. Um gegen die Gleichgültigkeit anzukämpfen, hat er sich für die Grausamkeit entschieden.«

    In den 1960iger und 1970iger Jahren trieb Sade die Strukturalisten und Poststrukturalisten um, namentlich Jacques Lacan, Gilles Deleuze und Michel Foucault, der ihn als Spurenelement des anderen unserer Vernunft durch die Wahnwelten der Diskurse spuken ließ und ihm 1970 in Buffalo eine eigene Vorlesung widmete, die erst vor Kurzem erschienen ist. Sogar Jacques Derrida trat als Sade-Exeget in die Fußstapfen des von ihm verehrten Blanchot, mit Kommentaren zu dessen Aufsatz »La littérature et le droit à la mort«.

    Schließlich wurde von Texterotikern wie Roland Barthes und Philippe Sollers auch der Literat und Stilist Sade entdeckt. »Neben Proust kenne ich keinen Schriftsteller, der mir, wenn auch auf ganz andere Weise, eine solche Lust am Lesen verschafft wie Sade«, sagte Roland Barthes, der, wie man 2003 in der Ausstellung »R/B« im Centre Pompidou sehen konnte, mit feinem Bleistift Sades Texte angestrichen und kommentiert hat.

    Diese gewaltige Renaissance fand ihren Bruch- und Wendepunkt in Pier Paolo Pasolinis Verfilmung »Salò o le 120 giornate di Sodoma« (1975): Die Kurzschließung von Sade mit dem italienischen Faschismus zerschlug, so Éric Marty in seiner großen und großartigen Studie über die Sade-Rezeption im 20. Jahrhundert, das Glasperlenspiel der französischen Meisterdenker, die sich mit Sade dem geschlossenen Kreis der Systemphilosophie entziehen wollten. Mit Pasolinis Film endet die Hochblüte der Sade-Interpretationen der großen Einzeldenker, die sich wie Foucault von Sade als »Sergeanten des Sex« und eines totalitären Diskurses abzuwenden beginnen oder noch einmal aufbegehren wie Roland Barthes. Gewiss wurde Barthes’ Sade-Lektüre nach einem »principe de délicatesse« (Prinzip des Zartgefühls) von einigen Schülern weitergetrieben, doch immer mehr wurde Sade zur Beute der Akademie und der Dix-Huitièmisten. Oder später der Popularisierung und Kommerzialisierung: Doug Wrights Broadway-Kassenschlager »Quills« über Sades letzte Jahre im Irrenhaus von Charenton, der 2000 mit Geoffrey Rush und Kate Winslet verfilmt wurde.

    Während Daniel Auteuil, der Hauptdarsteller im zweifelhaften Film »Sade« (2000), noch von sich sagen konnte, er habe vor dem Drehbeginn nie Sade gelesen, ließ Isabelle Huppert im Sommer 2014 tiefer blicken und entdeckte den »Exzess an Humor«, sobald sich Sades Heldinnen Justine und Juliette in der Stimme einer realen Frau »verkörpern«.

    Vielleicht sind die neuen Ausstellungen und Editionen ein Anzeichen dafür, dass Sade von einer neuen Generation entdeckt wird? Richten sich seine Sprachspiele an uns? Nennt er uns spottsüchtig »Lolottchen«?

    Marquis de Sade

    Liebesbrief an seine Frau Renée-Pélagie, geschrieben

    am 24. November 1783, um ein Uhr nachts, in der Bastille

    Zauberhaftes Geschöpf, Sie wollen meine schmutzige Wäsche, meine gebrauchte Wäsche? Wissen Sie, dass dies von vollendetem Zartgefühl zeugt? Sie sehen, ich weiß den Wert der Dinge zu schätzen. Hören Sie zu, Engelein mein, ich verspüre die größte Lust der Welt, Sie in diesem Punkt zu befriedigen, denn wie Sie wissen, habe ich Achtung für alle Neigungen, alle Grillen: wie barock sie auch sein mögen, ich halte sie alle für achtbar, und zwar weil man sie nicht bemeistern kann, aber auch weil selbst die ausgefallenste und wunderwürdigste von ihnen bei gründlicher Zergliederung auf eine Regel des Zartgefühls zurückgeht. Ich übernehme die Beweislast, wann immer man will: wie Sie wissen, zergliedert niemand die Sachfragen besser als ich. Ich verspüre also, meine kleine Bohne, die allergrößte Lust der Welt, Sie zu befriedigen; allerdings käme es mir recht niederträchtig vor, meine gebrauchte Wäsche nicht meinem Diener zu geben. So tat ich denn und werde es stets so halten; freilich können Sie sich an ihn wenden; ich habe ihm schon ein Wörtchen verraten, hinter vorgehaltener Hand, wie Sie sich leicht denken können. Er hat mich verstanden und mir versprochen, sie für Sie zu sammeln. Dieserweise, Lolottchen mein, magst Du dich bitte an ihn wenden, und Du wirst befriedigt werden. — Ah, gerechter Himmel! wenn es mir nur ebenso leicht und einfach gemacht würde, mir alle möglichen Dinge von Dir zu verschaffen, ich würde sie auf der Stelle verschlingen, wenn ich sie in Händen hätte, ach, wie würde ich aufspringen! wie würde ich ihnen entgegenfliegen! sie mit Gold aufwiegen! wie würde ich heraussprudeln: Rasch, rasch, Monsieur, geben Sie her, das kommt von meiner Angebeteten! ich werde die Düfte ihres Lebens schnuppern; sie werden das Fluidum in Brand setzen, das durch meine Nerven rieselt; sie werden etwas von ihr meinem Leben einverleiben, und ich werde mich glücklich schätzen! — So weit, so gut, doch werden Sie, meine Königin, wohl so freundlich sein, mir frische Wäsche zu schicken, da ich ihrer dringend bedarf?

    Sie fragen, mein Schoßhündchen, wie ich das Heft mit den 300 Blättern, das heißt also mit 600 Seiten, haben möchte: nun, mein Schätzchen, darauf will ich Ihnen antworten, dass es so aussehen muss wie das Heft [meiner Komödie] »Der Flatterhafte«.

    Wonne Mohammeds, Sie sagen, das Futteral, um das ich Sie bat, habe Ihnen Pein bereitet. Ich glaube wohl, dass es Ihnen Pein bereiten würde, wenn es schon angefertigt wäre, aber wenn es doch erst darum geht, es anfertigen zu lassen, kann ich mir beim engen Fassungsvermögen meines Gehirns nicht recht zusammenreimen, wie allein schon der Akt des Bestellens in Ihnen jene Nerven reizen mag, die der Seele Schmerzempfindungen übermitteln. Man hält Sie, so sagen Sie, für eine Verrückte: just das will mir nicht in den Kopf; denn ich kann nicht gelten lassen, das die Bitte um ein dickes Futteral durch eine kleine Frau irgend Verwirrung in der Zirbeldrüse hervorrufen mag, wo atheistische Philosophen wie unsereins den Sitz der Vernunft verorten. Sie können mir das dann in aller Ruhe auseinandersetzen, doch mittlerzeit sollen Sie, ich flehe Sie an, das Futteral bestellen und mir zusenden, denn ich benötige es dringendst, denn ohne dieses Behältnis werde ich meine Pläne in Dinge zwängen, die sie in Fetzen reißen, wiewohl sie den gleichen Umfang haben.

    Sie haben mir den hübschen Knaben geschickt, geliebtes Turteltäubchen. Der hübsche Knabe: wie süß klingt dies Wort in meinen italienisch angehauchten Ohren! Un’ bel’ giovanetto, signor, würde man mir sagen, wenn ich in Neapel wäre, und ich würde antworten: Si, si, signor, mandatelo lo voglio bene. Sie haben mich ein wenig wie ein Kardinal behandelt, Mütterchen… doch leider handelt es sich nur um ein Gemälde… Das Futteral also, zum allermindesten das Futteral, denn Sie lassen mir ja nur Trugbilder!

    Himmlisches Möschen. […] Da wir schon einmal beim Thema sind, werde ich Ihnen also berichten, Frischling meiner Gedanken — ich habe nämlich eine Schwäche für Schweinefleisch und bekomme es hier nur sehr selten —, dass ich mich mit dem Versuch abgemüht, Ihnen einen Aufriss des Kissens zu geben, das die Empfindlichkeit meines Hinterns erheischt. Ich möchte, dass Sie es sich vor Augen führen und mit dem Finger fühlen, und diesethalben habe ich mit der ganzen Kunstfertigkeit, über die ich verfüge, ein Blatt Papier ausgeschnitten, auf dem ich einen exakten Lageplan der Sache umrissen habe; das Blatt hat nun die Form, die auch das Kissen haben soll; Sie mögen es mit Daunen und Pferdehaar ausführen (denn so sind sie am vorzüglichsten) sowie mit einem gewöhnlichen, aber dicken Stoff überziehen lassen. Das Blatt ist ziemlich groß, doch lieber zu groß als zu klein, schön weich und tüchtig gefüttert. Wenn Sie mir dieses Kissen schicken, süßer Schmelz meiner Augen, so macht dies das Tuch aus Cingalette überflüssig. […]

    Seien Sie gewiss, Seele meiner Seele, dass der erste Einkauf, den ich nach meiner Entlassung tätigen werde, ja sogar meine erste Handlung in Freiheit, nachdem ich Ihnen Ihre beiden Augen, Ihre beiden Brüste und Ihre beiden Popobacken geküsst, darin bestehen wird, auf der Stelle und koste es, was es wolle, Folgendes anzuschaffen:

    Die »Meilleurs Éléments de Physique«, die »Histoire naturelle« von Monsieur de Buffon, in-4°, mit Bildtafeln sowie in toto die Werke von Montaigne, Delille, d’Arnaud, Saint-Lambert, Dorat, Voltaire, J.-J. Rousseau. […] Es ist unglaublich geistreich, Kitzel meiner Nerven, über Bücher zu witzeln […], doch ich verlange nur eines von Ihnen: sehen Sie doch zu, dass sich im Buch mindestens ebenso viel Geist und Witz findet wie in den Titelpossen, — das nämlich haben Sie bis anhin nicht so gehalten, denn man kann die neuen Romane, die Sie mir schicken, unmöglich lesen, auch wenn sie die schönsten Zahlen der Welt bilden: eine 59 mit Verfallsdatum 84, eine 45, mit einem Wort, echt erhellende Dinge. Doch wäre es nicht möglich, Abbild der Gottheit, all diese Zahlen und all diese langen Traktate auf gute Bücher abzustimmen? […]

    Siebzehnter Planet des Weltenraums, über Stirnbänder sollten Sie keine Witze machen, erstlich weil eine Frau nie über den Kopf ihres Gatten spötteln soll; zweitens, Quintessenz der Jungfräulichkeit, derlei Bänder sind eine reine Gunstbezeigung von Ihrer Seite, sie werden in keiner Liste auftauchen, es handelt sich um ein freiwilliges Geschenk, das Sie mir machen. Doch wollen Sie mir etwa weismachen, Ausfluss der Engelsgeister, dass diese Weigerung eine kleine Niederträchtigkeit sei? Ich weiß wohl, dass der Leutnant Charles [Sades Kerkermeister], über dessen Kopf man ruhig spötteln darf, eine Witzelei bezüglich der Stirnbänder veranstalten wollte; doch jetzt, Sinnbild der Schamhaftigkeit, wo der Leutnant Charles seine 6 Livres verdient hat, könnten Sie mir, wie mir scheint, so viele und so gute Stirnbänder schicken, wie es Ihnen beliebt. Wunder der Natur, ich habe Sie gebeten, mir ein prächtiges Paar Popobacken zu schicken, sobald ein Duplikat zu signalisieren ist, doch stattdessen haben Sie mir den Leutnant Charles hergeschickt, der mir erzählte, er sei Kammerherr geworden! Taube der Venus, das nennt man eine Verdrehung von Tatsache und Ursache.

    Dem Schoße der Grazien entsprossene Rose, nun bleibt mir nur mehr zu fragen, worauf die Verweigerung des Pfirsichweins gründet: welche Analogie mag zwischen der Staatsverfassung und den Fasern meines Magens bestehen? Ein oder zwei Fläschchen Pfirsichweines, mein Schnuckel, wir werden doch damit nicht das alte Gesetz der Salier erschüttern oder den Codex Justinianus verletzen? O Günstling der Minerva, solche Dinge darf man nur einem Trunkenbold verweigern: mir aber, der ich mich einzig an deinen Reizungen berausche, die meinen Durst doch nie stillen können, Ambrosia vom Olymp, mir darf man keinen Pfirsichwein abschlagen! Augentrost, ich danke dir für den schönen Stich von Rousseau, den du mir geschickt hast. Fackel meines Lebens, wann, wann nur werden deine alabüsternen Finger unvermutet kommen, um die Ketten des Leutnant Charles mit den Rosen deines Busens auszutauschen? Adieu, ich küsse ihn und schlummere ein.

    2. Das Abjekt der Aufklärung

    »Es darf bezweifelt werden, dass die Sade-Industrie im späten 20. Jahrhundert ebenso leicht toleriert worden wäre, hätte sie unter deutschen statt französischen Intellektuellen stattgefunden.« (Susan Neiman)

    Wer in die Abgründe der aufklärerischen Vernunft einen Blick werfen will, kann die großen Erzählungen der Systemdenker von ihrem Zentrum aus wie eine Reihe von Dominosteinen zu Fall bringen und dekonstruieren. Oder er kann sich an die Ränder der Aufklärung begeben und von dort ins Herz der Finsternis schauen. Ein solcher randständiger Denker war der Marquis de Sade, der jenseits von Gut und Böse durch karnevaleske Texte eine Anti-Ethik und Ästhetik der Moderne entwickelte, die dann im 19. Jahrhundert aus den Brüchen des zerrissenen Bewusstseins aufkeimte und im großen Nein der Avantgarde des 20. ihre bösesten Blüten trieb: im provokatorischen Spiel, das Dada und Surrealismus mit dem Skandaleffekt verbotener Gedanken und verfemter Figuren veranstalteten. Für diese Avantgarde wird Sade zum Ahnvater der Revolte.

    Die Vektoren, welche in Sades Werk das Kräftefeld von Vernunft und Leidenschaften durchziehen, weisen gerade durch ihr Abweichen und ihre entgrenzende Heterogenität ins Zentrum der aufklärerischen Diskurse mit ihrem homogenisierenden Systemzwang.

    Gerade als tabuisiertes Objekt, als eigentliches »Abjekt«, entzieht sich Sades Werk dem Zugriff und den Maßstäben der Vernunft. Es gehört zu jenem Abfall, der bei allen Rechnungen der Ratio als unteilbarer Rest übrigbleibt. Denn er sprengt seine Philosopheme in ein literarisches Korpus ein, das Ekel erregt und die Vernunft würgt. Indem er im Gewande des »philosophe«, das heißt im damaligen Sinn des Wortes: eines im Kampf gegen die Autorität der christlichen Tradition engagierten Denkers, zum einen den Argumentationskatalog der Materialisten und Enzyklopädisten plündert, zum anderen Sophismen aus gegenaufklärerischen Schriften übernimmt, untergräbt er gleich auch noch die Autorität einer einzigen Vernunft und zeigt, dass jede Vernunft perspektivisch ist.

    Lange vor Nietzsche ahnte Sade bereits, dass der Kopf von Louis XVI zwar unter der Guillotine gefallen war, aber an seiner Stelle nicht nur auf der politischen Ebene neue Machthaber und Machthäupter erscheinen, sondern in unseren eigenen Köpfen immer ein oberster Wert sich alles unterwerfen würde, sei es das Gute, sei es das Böse, solange wir nicht auch in der Sprache die Herrschaft des Subjekts zerschlagen, das selbstherrlich über die Objekte verfügt, sie ins Feld führt wie in jedem Krieg, schön aufgehübscht mit einem grünen Federbusch wie bei den k.u.k. Generälen im Ersten Weltkrieg oder mit Nachtsichtgeräten insektoid erweitert wie heute, damit sie dem Schlachtruf der Verben Folge leisten und hinter der Avantgarde mit Nebensätzen und Kausalsätzen, die den Krieg jeweils mit guten Gründen heiligen, die Reihen und jeden Satz mit dem erforderlichen Hilfsverb schließen, das dann und wann auch die Farben des Weißen Kreuzes tragen darf, damit der Schein von Humanität gewahrt wird.

    Wie weit Sade mit seinem Bewusstsein der Verknüpfung von Sprache und Macht seiner Zeit voraus war, zeigt eine Anmerkung aus dem achten Band von »Justine & Juliette«:

    »Es ist unerhört, dass die Jakobiner während der Französischen Revolution die Altäre eines Gottes stürzen wollten, der genau dieselbe Sprache sprach wie sie. Und noch unglaublicher ist, dass jene, die die Jakobiner verachten und zernichten wollen, dies im Namen eines Gottes tun, der die Sprache der Jakobiner spricht. Was, so frage ich voller Nachdruck, ist das nec plus ultra menschlicher Hirnbrünstigkeit, wenn nicht dies?«

    Gerade dass Sade anders als viele französische Aufklärer oder deutsche Klassiker die Relativierung einer religiösen Weltordnung nicht durch idealistische, idealisierende Menschenbilder und Moralprogramme kompensierte, sondern als Vorläufer Nietzsches den menschlichen Machtwillen schonungslos darstellte, macht ihn für die wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts so interessant. Bataille, Klossowski und das Collège de Sociologie hielten sich schon in den dreißiger Jahren, um den Faschismus zu analysieren, an Nietzsche, Sade und die ethnologische Forschung, die sich viel offener mit den dunklen, irrationalen Seiten des Menschseins beschäftigte als die »offizielle« Philosophie. Die Resonanz aus solchen Perspektiven blieb aber sehr beschränkt.

    Nach dem Schock des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust fand einerseits eine Renaissance des Humanismus statt, der in der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 gipfelte. Andererseits bewegte sich die »engagierte« Philosophie im Dienst der Menschheit oft gefährlich nah an einem neuen System der Unmenschlichkeit: dem Stalinismus. Erst allmählich entwickelte sich eine wachsende Skepsis gegenüber den alten Erzählungen vom guten und vernünftigen Menschen, die alsbald als elitärer, irrationalistischer »Antihumanismus« angegriffen wurden. Strukturalisten, Poststrukturalisten und einzelgängerische Querdenker wie Louis Althusser, Blanchot, Derrida und vor allem Foucault kritisierten ein zu universalistisches, essentialistisches Menschenbild und die Alibi-Funktion eines wohlfeilen Humanismus-Begriffs, der von zynischen Euphemisten als Deckmantel der Unterdrückung missbraucht werde. Philippe Lacoue-Labarthe nannte den »Nazismus« einen »Humanismus, insofern er auf einer Wesensbestimmung der ›humanitas‹ beruht, die in ihren [der Nazis] Augen wirkungsmächtiger ist als jede andere«.

    Éric Marty zeigt auf, dass es kein Zufall war, dass die bahnbrechenden Essays über Sade von Horkheimer und Adorno,* Klossowski, Bataille und Blanchot allesamt 1947 erschienen. Der perverse, skandalöse Individualist Sade ist einer der wenigen Autoren

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