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Die Gudrun Sage: Neu erzählt
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eBook277 Seiten2 Stunden

Die Gudrun Sage: Neu erzählt

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Über dieses E-Book

Eine der spannendsten Epen deutscher Heldendichtung neu erzählt.

Gudrun, wunderschöne Tochter der eigenwilligen Hilde, ist von Freiern umringt, doch niemand ist ihrem Vater gut genug. Als Herwig von Seeland mit Krieg droht, um ihre Hand zu gewinnen, willigt sie ein, seine Frau zu werden. Damit stößt sie jedoch ihre anderen Freier vor den Kopf. Das Blutvergießen, das sie vermeiden wollte, findet nun doch statt.

Die Gudrun-Sage wird neben dem Nibelungenlied als eines unserer größten deutschen Heldenepen betrachtet. Von der schönen Königstochter bis zu den tapferen Rittern hat die Geschichte alle Bestandteile einer historisch wertvollen Legende, doch wird hier zum ersten Mal dem mittelalterlichen Racheprinzip das Konzept der Versöhnung entgegengehalten.

Die Neuerzählung macht die Geschichte nachvollziehbar und leicht lesbar - ein Lesevergnügen für alle, die sich für die Grundfesten unserer Kultur interessieren.


Die Autorin lebt seit 1993 in England. 2009 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, "Mrs Mahoney's Secret War", das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

1. Auflage
Umfang: 298 Buchseiten bzw. 271 Normseiten

Null Papier Verlag
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Nov. 2015
ISBN9783954185764
Die Gudrun Sage: Neu erzählt

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    Buchvorschau

    Die Gudrun Sage - Claudia Strachan

    Claudia Strachan

    Die Gudrun Sage

    NEU ERZÄHLT

    Claudia Strachan

    Die Gudrun Sage

    NEU ERZÄHLT

    Published by Null Papier Verlag, Deutschland

    Copyright © 2015 by Null Papier Verlag

    1. Auflage, ISBN 978-3-95418-576-4

    www.null-papier.de/291

    ---

    Eine der spannendsten Epen deutscher Heldendichtung neu erzählt.

    Gudrun, wunderschöne Tochter der eigenwilligen Hilde, ist von Freiern umringt, doch niemand ist ihrem Vater gut genug. Als Herwig von Seeland mit Krieg droht, um ihre Hand zu gewinnen, willigt sie ein, seine Frau zu werden. Damit stößt sie jedoch ihre anderen Freier vor den Kopf. Das Blutvergießen, das sie vermeiden wollte, findet nun doch statt.

    Die Gudrun-Sage wird neben dem Nibelungenlied als eines unserer größten deutschen Heldenepen betrachtet. Von der schönen Königstochter bis zu den tapferen Rittern hat die Geschichte alle Bestandteile einer historisch wertvollen Legende, doch wird hier zum ersten Mal dem mittelalterlichen Racheprinzip das Konzept der Versöhnung entgegengehalten.

    Die Neuerzählung macht die Geschichte nachvollziehbar und leicht lesbar – ein Lesevergnügen für alle, die sich für die Grundfesten unserer Kultur interessieren.

    Die Autorin lebt seit 1993 in England. 2009 veröffentlichte sie ihr erstes Buch, „Mrs Mahoney’s Secret War", das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

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    Autorin

    Die Autorin Claudia Strachan lebt seit 1993 in England. Sie ist Lehrerin für Deutsch und Französisch an einer Gesamtschule in Sussex und bemüht sich nach Kräften, ihren SchülerInnen die Liebe zur deutschen Sprache zu vermitteln.

    2009 veröffentlichte sie ihr erstes Buch: „A Different Kind of Courage (Titel der 2. Auflage: „Mrs Mahoney’s Secret War), das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Es geht um die Erinnerungen ihrer Freundin Gretel Mahoney, die zu den „Stillen Helden" gehört, von denen wir wissen sollten.

    www.claudiastrachan.net

    Personenverzeichnis

    Gerlint: Hartmuts Mutter, lebt in Ormanie. Kann Gudrun nicht leiden, weil sie sie als hochmütig empfindet.

    Gudrun: Tochter von Hilde und Hetel, noch schöner als ihre Mutter. Kann es nicht ertragen, dass ihretwegen Blut vergossen wird.

    Hagen: König von Irland, wohnhaft auf der Burg Baljan. Als Kind von einem Greifen entführt worden und fast unbesiegbar.

    Hartmut: Gekränkter Freier Gudruns. Lebt in Ormanie.

    Herwig: Einer der zahllosen Freier Gudruns. Kommt aus Seeland.

    Hetel: Gudruns Vater. Lebt auf der Burg Matelane in Hegelingen. Holt Hilde mit List zu sich.

    Hildburg: Getreue Dienerin und Freundin Gudruns.

    Hilde: Tochter von Hagen, durch ihre Schönheit berühmt, Mutter von Gudrun. Verfällt dem zauberhaften Gesang Horants und läuft den Eltern davon, um Hetels Frau zu werden.

    Horant: Ein unglaublich begabter Minnesänger, der treu unter Hetels Lehnsherrschaft steht.

    Ludwig: Hartmuts Vater, König von Ormanie.

    Ortrun: Hartmuts Schwester. Die Einzige, die Gudrun wirklich versteht.

    Ortwin: Gudruns Bruder, Sohn von Hilde und Hetel.

    Wate: Treuer Gefolgsmann Hetels, den er dereinst aufgezogen hatte. Stark, kampflustig und grundsätzlich der Meinung, dass man jedes Problem mit Gewalt lösen kann.

    1. Hagen

    Als sie hörte, dass ihr Vater erneut einen ihrer Freier getötet hatte, brach Hilde in Tränen aus, raffte ihr Gewand und stürmte die Treppen hoch in ihre Kemenate. Hildburg stob ihr nach, kaum in der Lage mit ihr Schritt zu halten.

    »Nun beruhige Dich doch, Hilde! Ein Mädchen Deines Standes rennt nicht! Hilde!« Atemlos erreichte sie die Kemenate, in der sich Hilde schluchzend auf ihre Bettstatt warf. »Ich werde nie heiraten, nie, nie! Ich werde für immer und ewig in dieser Burg sitzen und spinnen und sticken und auf die Gunst meines Vaters hoffen, bei einem Festgelage dabei zu sein. Das war das dritte Mal, dass ein Fürst um meine Hand gekämpft hat, und was tut mein Vater? Erschlägt sie alle, einen nach dem anderen!«

    Hilde trommelte mit den Fäusten auf die Kissen, unfähig ihren Zorn zu zügeln. Hildburg setzte sich neben sie und hielt ihr die Arme fest. »Nun hör mal zu, mein Kind! Dein Vater will doch nur, dass Du den besten und tapfersten aller Krieger bekommst, einen, der Deiner wert ist!« Hilde grub ihr Gesicht in ein Kissen und murmelte: »Das wird nie geschehen. Du siehst doch, dass niemand eine Chance gegen ihn hat. Wieso ist er überhaupt so unbesiegbar? Es ist fast, als ginge es nicht mit rechten Dingen zu!«

    Hildburg seufzte. »Es wird Zeit, dass Du von seiner Geschichte erfährst. Deine Eltern wollten Dich nicht ängstigen, daher hat man es Dir bisher nicht erzählt.« Hilde drehte sich mit einem fragenden Ausdruck auf dem Gesicht um. Hildburg wischte ihr die Tränen in einer mütterlichen Geste mit dem Zipfel ihres Unterkittels ab. »Als Dein Vater noch klein war, etwa sieben Jahre alt, ist er von einem Greif entführt worden.« Hilde setzte sich auf, ihren Kummer vergessend. »Was ist ein Greif?«, fragte sie zweifelnd.

    »Ein Greif ist ein großer Raubvogel. Manchmal, wenn sie in Futternot sind, kommen sie und holen sich unsere Kinder. Das geschah auch mit Deinem Vater. Es geschah ausgerechnet, als Dein Großvater Sigebant das größte Fest feierte, das man bisher erlebt hatte. Ute, Deine Großmutter, hatte ihn dazu überredet, denn sie wollte den Ruhm ihres Mannes als guten, großzügigen Herrscher festigen. Sechsundachtzigtausend Gäste kamen aus allen Ländern. Ute beschenkte die Frauen und Mädchen mit Kleidern und Bändern und Sigebant ließ spektakuläre Kämpfe ausfechten und verschenkte seine besten Pferde. Das Fest war ein großer Erfolg. Es dauerte bereits neun Tage, mit Unterhaltung von den besten Spielmännern des Landes, die alle erdenklichen Instrumente spielten. Die bekanntesten Barden sangen die Neuigkeiten von fern und nah. Auch Dein Vater wollte natürlich dabei sein.

    Er überquerte gerade den Burghof, an der Hand einer Magd, um nach einem Turnier zum Fest zu gehen. Als die Magd den Vogel herabstürzen sah, schrie sie und floh. Man hat sie später dafür ausgepeitscht, dass sie die Hand des Kindes dabei losgelassen hat. Wenn Du mich fragst, hatte sie Glück, dass man ihr nicht den Kopf abgeschlagen hat. Ein Kind im Stich zu lassen! Unverzeihlich! Natürlich hat man das Fest sofort abgebrochen. Alle fuhren nach Hause zurück, entsetzt über den schrecklichen Ausgang eines so herrlichen Festes.« Hildburg schüttelte grimmig den Kopf.

    »Was ist passiert?«, fragte Hilde. »Offenbar hat ihn der Greif nicht gefressen.« Hildburg sah sie einen Augenblick sinnend an. »Er hatte großes Glück. Der Greif flog meilenweit mit ihm übers Meer bis zu einer kleinen, einsamen Insel. Als er Deinen Vater seinen Jungen als Futter ins Nest warf, stritten sie sich um ihn. Einer von ihnen flog mit ihm auf einen anderen Baum, doch der Ast, auf dem er sich niederließ, brach. Der Vogel flog davon, Dein Vater landete glücklicherweise ohne Knochenbrüche und dann lief er, was das Zeug hielt. Er hielt sich unter dem Schutz der Bäume und rannte, bis er vor Erschöpfung nur noch stolperte. So fanden wir ihn.«

    »Wir?!« Hilde traute ihren Ohren nicht. »Du hast ihn gefunden?« Hildburg nickte. »Der Greif hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Kinder zu stehlen. Einige Jahre zuvor hatte er auch mich und meine Leidensgefährtinnen geholt und Gott weiß, wie viele unglückliche andere Kinder. Manche von ihnen konnten entkommen, so wie wir und Dein Vater. Wie es mir und meinen Gefährtinnen gelungen ist, weiß ich nicht, denn ich war noch sehr klein. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist eine Höhle, in der wir hausten. Wir ernährten uns von Waldfrüchten, Wurzeln, Pilzen, Kräutern. Ich kann Dir heute noch sagen, welche wilden Pflanzen essbar sind und vor welchen Du Dich hüten musst.«

    Hilde saß inzwischen aufrecht und starrte Hildburg ungläubig an, ihren Kummer vergessend. Warum hatte man ihr nichts von alldem erzählt? Hildburg log nicht, so viel war ihr klar – Hildburg log nie. Hätte sie sich als Kind weniger unbefangen draußen aufgehalten, wenn sie von der Geschichte ihres Vaters gewusst hätte? Sie dachte an die unzähligen Male, an denen sie im Burghof und vor den Toren herumgelaufen war, Blumen gepflückt, Pferde bewundert, Turnierkämpfen zugesehen und den Wäscherinnen beim Bleichen zugeschaut hatte. Wie oft hatte sie versucht, sich den allgegenwärtigen Mägden und Hildburg zu entziehen, und wie oft hatte sie beklagt, dass sie nicht einen Augenblick allein sein durfte. Es schien plötzlich Sinn zu machen, dass sie ihre gesamte Kindheit über mit Argusaugen beobachtet worden war. »Und wie seid Ihr dann nach Baljan zurückgekommen?«

    Hildburg antwortete nicht sofort. Sie ließ ihren Blick gedankenverloren über die Wandbehänge schweifen. Hildes Kemenate war wunderschön dekoriert, die Wandteppiche hatten die feinsten Stickereien und machten, dass es warm und gemütlich aussah, selbst jetzt, als kein Feuer im Kamin brannte. Ihre Augen blieben an dem rundbogigen kleinen Fenster hängen. Der Holzladen war zurückgeklappt und die dünne Schweinsblase, die zwar Licht hereinließ, aber den Ausblick blockierte, war aufgrund des wärmer werdenden Wetters abgenommen worden.

    Hildburgs schritt zum Fenster und schaute auf die bewaldeten Hügel, hinter denen gerade die Sonne unterging. Die beinahe voll belaubten Bäume erstrahlten in warmen Goldtönen. Noch waren die Nächte kalt, doch tagsüber war es schon warm genug, um spazieren zu gehen. Als nun die Abenddämmerung einsetzte, fröstelte Hildburg und zog sich ihren Umhang enger um die Schultern. Sie warf einen letzten Blick auf die Hügel und befestigte die Schweinsblase so, dass der Wind nicht mehr hineinblies.

    »Wir hofften, dass uns ein Schiff fand. Es kam aber keins. Unser Eiland muss weitab der üblichen Wasserwege gewesen sein, denn wie oft wir uns auch auf zum Strand machten, der Horizont blieb leer. Eines Tages sahen wir dann doch Schiffe, Kreuzfahrerschiffe, aber sie waren in Seenot. Es muss wohl ein Seebeben gewesen sein oder so etwas. Die Schiffe zerbarsten an den Felsen und die See spülte einige der Toten an den Strand. Wir konnten es nicht fassen. Wir waren so nah daran gewesen, zu entkommen, und nun lagen dort nur Tote am Strand und die Schiffe waren zerstört. Dein Vater rannte sofort los und sucht nach Vorräten, die vielleicht an Land gespült wurden. Während er den Strand durchkämmte, kam plötzlich einer der Greifen wie aus dem Nichts. Er stürzte herab und holte sich einen Toten. Als er zurückkam, hatte er noch mehr Greifen mitgebracht – seine Jungen, die inzwischen herangewachsen waren. Sie holten einen Toten nach dem anderen. Wir Mädchen hielten uns im Schatten der Bäume verborgen und beobachteten alles voller Entsetzen. Als die Greifen mit den Leichen abhoben, schrien wir Deinem Vater zu, er sollte schnell zurückkommen, aber er gab nicht auf, obwohl er gar keine Vorräte finden konnte. Schließlich kam er zur Vernunft.

    Bevor er allerdings zurückkehrte, zögerte er bei dem letzten der toten Kreuzfahrer. Dieser hatte eine Rüstung an, mit Kettenhemd, Brustschild, einem Schwert und Pfeil und Bogen. Natürlich hatte Hagen sich als Junge auf der Burg im Kampf geübt, daher erkannte er schnell, dass er mit Rüstung und Waffen bessere Überlebenschancen haben würde. Er zog dem Ritter die Rüstung aus und legte sie sich an. Er hatte gerade das Kettenhemd übergestreift, als einer der Greifen zurückkam. Schnell legte er das Brustschild an und nahm Pfeil und Bogen, um sich zu verteidigen. Er schoss gut, wenn man bedenkt, dass er seit Jahren schon keine Übung mehr hatte. Seine Pfeile prallten jedoch einfach an dem Greifen ab, es war unglaublich. Wir Mädchen schrien wie am Spieß; wir waren uns sicher, dass wir Hagen nicht lebend wieder sehen würden.

    Als Dein Vater merkte, dass er mit Pfeil und Bogen nichts ausrichten konnte, sah er sich nach dem Schutz der Bäume um. Sie waren aber zu weit entfernt und der Greif, inzwischen außer sich vor Wut, kam in Windeseile näher. Da zückte Hagen das Schwert und hieb auf den sich herabstürzenden Vogel ein. Er erwischte ihn am Flügel und an einem Bein, was ihn bewegungsunfähig machte. So konnte er ihm den Todesstoß versetzen. Ich werde in meinem ganzen Leben nicht das Bild vergessen, das sich uns bot.«

    Hildburg schüttelte sich. »Wie durch ein Wunder gelang es ihm, die beiden anderen Greifen ebenfalls zu töten, als sie dazu kamen. Von dem Tag an hatten wir die Greifen nicht mehr zu befürchten. Was für ein Unterschied! Wir hatten ja in ständiger Furcht gelebt. Stattdessen hatten wir von nun an Fleisch und Fisch zu essen. Hagen hatte die Pfeile aus den Greifen gezogen und schnitzte noch mehr. Er fischte und jagte und brachte alles zurück zur Felsenhöhle, wo wir Mädchen es zubereiteten so gut wir konnten.«

    Hilde hatte wie gebannt Hildburgs Geschichte gelauscht. »Das erklärt aber nicht, warum Vater im Kampf unbesiegbar zu sein scheint und ich für immer und ewig als Jungfrau auf Baljan versauern muss.«

    Hildburg lachte. »Du wirst bestimmt nicht als Jungfrau auf Baljan versauern. Du bist die Tochter des Königs von Irland und noch dazu das schönste Mädchen, von dem die Barden bis in weite Ferne singen. Was meinst Du, warum so viele Freier um Deine Hand kämpfen? Freier aus Ländern, von denen wir noch nicht einmal gehört haben? Weil die ziehenden Sänger nicht aufhören können, von Deiner Schönheit zu singen.«

    »Du schmeichelst mir, Hildburg. Ich möchte wissen, warum mein Vater so stark im Kampf ist, dass keiner gegen ihn ankommt. Ist es, weil er sich vom Jagen ernähren musste und dadurch flink und zielsicher wurde, dass ihm niemand das Wasser reichen kann?«

    Anstelle einer Antwort erzählte Hildburg einfach weiter. »Eines Tages erlegte Dein Vater ein Tier, das ihn angriff. Niemand von uns hatte je ein solches Ungetüm gesehen. Viele sagen noch heute, es kann nur ein Drachen gewesen sein. Wie Hagen es geschafft hat, ihn zu töten, kann ich Dir nicht sagen. Gott selbst muss ihm dabei geholfen haben. Er hatte dabei jedenfalls eine lange Zeit im Wald verbracht und hatte einen solchen Durst nach dieser Jagd, dass er aus Wassermangel nicht lange überlegte und das Blut des Untiers trank. Das muss irgendetwas in ihm ausgelöst haben. Wenn Du mich fragst, war es tatsächlich ein Drachen, und Dein Vater hat dadurch seine unbesiegbare Kraft erhalten.«

    »Das sind doch Kindermärchen!«, sagte Hilde kopfschüttelnd. »Er hat sich bestimmt unschlagbar gefühlt, weil er zuerst von dem Tier angegriffen wurde und es dann getötet hat. Das muss ihm so viel Selbstvertrauen gegeben haben, dass er von da an glaubte, unbesiegbar zu sein.«

    Hildburg sah sie einen Augenblick sinnend an und räumte dann ein, dass sie recht haben könnte. »Deine Schönheit steht Deinem klaren Kopf nicht im Wege«, meinte sie und strich Hilde liebevoll übers Haar. In diesem Moment öffnete sich die Tür zu Hildes Kemenate und ihre Mutter trat ein, gefolgt von einer Magd. »Was höre ich, mein Kind? Warum hast Du Dich zurückgezogen? Wirst Du nicht den Sieg Deines Vaters mit uns feiern?«

    Hilde sah Hildburg an und senkte den Kopf. Hildburg stand vom Bett auf und ging auf Hildes Mutter zu. »Sie fürchtet, dass sie nie einen Gemahl bekommen wird, da Hagen alle Freier im Kampf besiegt und tötet. Als sie mich fragte, warum er so unbesiegbar sei, fühlte ich mich gezwungen, ihr Hagens Geschichte zu erzählen.«

    Hildes Mutter nickte. Es war durchaus an der Zeit, dass ihre Tochter davon erfuhr. Sie hatte eine unbeschwerte Kindheit erlebt, ohne die geringste Ahnung, welche Gefahren ihr auch außerhalb der Kriege und Raubzüge drohten. Sie betrachtete Hilde mit Stolz. Sie war schön, ihre Tochter. Sie hatte die ebenmäßigen Gesichtszüge, die hohen Wangenknochen mit den mandelförmigen Augen und das so ungewöhnliche, fast blauschwarze Haar ihrer Mutter geerbt. Kein Wunder, dass Hagen keiner ihrer Freier gut genug erschien, sie zur Braut zu nehmen. Langsam näherte sie sich und setzte sich auf Hildes Bett, wo gerade zuvor Hildburg gesessen hatte.

    »Glaubst Du, dass Vaters Kraft von dem Drachenblut kommt?«, fragte Hilde. Ihre Mutter lächelte. »Ich glaube, ja. Als er wiederkam, war er völlig verändert. Er brachte uns Fleisch von dem Tier mit, aber wir ekelten uns davor, es roh zu essen. Da sprang er auf und sagte, dass er versuchen würde, ein Feuer zu machen. Er suchte sich verschiedene Steine und schlug sie gegen den Felsen der Höhle, bis er einen fand, der Funken sprühte. Als er das sah, suchte er schnell trockenes Gras und ein paar Zweige, schlug den Stein erneut an den Felsen und im Nu hatten wir ein Feuer. Wir brieten das Fleisch und hatten von dem Tag an warmes Essen, was wir seit Jahren vermissten.«

    »Moment, Moment«, rief Hilde. »Wir? Du warst doch nicht etwa auch dabei?« Ihre Mutter schaute auf Hildburg, die die Achseln zuckte und sagte: »Ich war ja noch nicht fertig mit dem Erzählen.« Sie nahm Hildburgs Hand und zog sie neben sich aufs Bett. »Wir sind zwei der drei Mädchen in der Höhle. Ich denke, in dem Moment, als Hagen den Drachen erschlug, ist er zum Mann geworden, und als solchen habe ich ihn von da an gesehen. Er sah gut aus, er war groß und kräftig und selbstsicher, jagte und fischte, und wären wir nicht so alleine auf der Insel gewesen, wären wir sehr glücklich gewesen.«

    Hilde schwieg beeindruckt. Die Geschichte ihrer Eltern hörte sich unglaublich romantisch an. »Wie seid Ihr denn zurück nach Baljan gekommen?« Hildes Mutter antwortete nicht gleich, stattdessen schlug sie ihr einen Handel vor: »Wenn Du wieder herunter an die Tafel kommst, werden wir Dir erzählen, wie wir entkommen sind. Komm her, lass mich Deine Haare kämmen und Dein Gewand herrichten. Du siehst aus, als seist Du selbst im Kampf gewesen.«

    Bereitwillig ließ Hilde sich zurechtmachen. Hildburg nahm einen schön verzierten Hirschhornkamm und fuhr damit durch Hildes lange schwarze Haare, bis sie glänzten. Sie flocht die vorderen Strähnen mit roten Bändern zu Zöpfen und setzte einen Stirnreif auf Hildes Kopf. Danach suchte sie einen hübschen Armreifen aus Hildes Schmuckkästchen aus. Sie zupfte noch den perlenbestickten Oberkittel zurecht, bevor sie zufrieden nickte. »So geziemt es sich für die Tochter des Königs von Irland. Nun lass uns gehen.«

    Hilde folgte ihrer Mutter und Hildburg die enge Treppe hinunter zur Halle. Dort saßen die Männer an der Wandseite eines langen Tisches, der mit einer bodenlangen Tischdecke festlich geschmückt war. Man konnte Hagen sofort an seiner erheblich höheren Stuhllehne erkennen. Zudem hatte er einen edelsteinbesetzten goldenen Reif auf dem Kopf und seine Kleidung war wesentlich farbenfroher als die seiner Fürsten und Ritter. Hilde spürte eine Mischung von Respekt und Zuneigung, als sie ihren Vater dabei beobachtete, wie er gerade seinem Ehrengast zutrank.

    Die Atmosphäre war laut und fröhlich. Ein Menestrel strich gerade eine muntere Weise auf seiner Fiedel, während ein Vortänzer zu seiner Musik durch die Halle tanzte. Als er die Königin, Hildburg und Hilde eintreten sah, verbeugte er sich ohne seinen Tanz zu unterbrechen und wies sie galant an den Tisch. Während die Frauen Platz nahmen, kam eine unaufhörliche Kette Bediensteter zum Tisch, um den Gästen die leckersten Gerichte anzubieten.

    Der erste Gang war bereits vorüber, denn gerade kamen zwei Mägde mit silbernen Becken und einer Kanne Wasser, sodass sich die Gäste die Hände waschen konnten. Ein Ritter, der neben Hilde saß, trocknete sich die Hände am Tischtuch ab, wischte sich damit über den Mund und lächelte sie freundlich an. »Welch eine Ehre, Euch als Tischnachbarin begrüßen zu dürfen.«

    Hilde senkte sittsam den Kopf. »Die Ehre gebührt mir. Habt Ihr dem Kampf zugesehen?« Der Ritter nickte und hob seinen Becher, wobei er auf Hagen sah. »Der Stärkere hat gewonnen, und so soll es auch sein.« Hilde seufzte, nahm den Becher, der vor ihr stand, und deutete einem Diener an, ihn zu füllen. Er kam sofort zu ihr herüber und bot ihr aus zwei Rinderhörnern Obstwein und Met an. Hilde entschied sich für den Obstwein, hob ihren Becher dem Ritter zu und trank ihn beinahe leer. Ein sanfter Stoß von Hildburgs Ellenbogen brachte sie dazu, den Becher abzusetzen. Der Ritter fing ihren empörten Blick auf und lachte.

    Die Musik hörte auf, als eine lange Reihe Bediensteter mit weiteren Speisen zur Tafel trat. Man konnte zwischen Hechtsuppe, Würsten, Pökelfleisch und Koteletts wählen. Hilde nahm etwas Pökelfleisch und legte es auf ihre Brotscheibe. Sie war froh, mit Hildburg ihre Portion zu teilen und nicht mit dem Ritter, der sich für die Suppe entschieden hatte und sie laut schlürfend löffelte. Sie neigte ihren Kopf Hildburg zu und raunte: »Wie ging es weiter? Erzähl mir, wie Ihr von der Insel entkommen seid!«

    Hildburg tunkte ihr Fleisch in eine Schüssel mit Soße, steckte es genüsslich in den Mund und ließ Hilde erst einmal warten. »Du solltest Deine Mutter fragen«, sagte sie schließlich. Hilde schüttelte trotzig den Kopf. »Sie hat gesagt, dass ich die Geschichte weiter hören darf, wenn ich zum Bankett gehe, und das habe ich.« Hildburg nahm sich noch etwas Fleisch und gab nach.

    »Wir gingen wieder an den Strand, um nach Schiffen Ausschau zu halten. Es war ein langer Weg, doch da wir die Greifen nicht mehr zu befürchten hatten und Hagen sogar einen Drachen besiegt hatte …«

    »Wenn es denn wirklich ein Drachen war«, warf Hilde ein, worauf sie einen tadelnden Blick von Hildburg erhielt. Ungerührt fuhr sie fort: »… und Hagen sogar einen Drachen besiegt hatte, fühlten wir uns wesentlich sicherer und trauten uns, am offenen Strand das Meer abzusuchen. Mit einem Mal sahen wir tatsächlich ein Schiff – Du kannst Dir nicht vorstellen, wie wir gejubelt und gerufen haben, die Arme geschwenkt, gehüpft und gesprungen sind wir!«

    »Und dann haben sie Euch an Bord genommen und nach Baljan gebracht«, sagte Hilde zufrieden. Hildburg schüttelte jedoch den Kopf. »So einfach war es nicht. Du darfst nicht vergessen, dass wir viele Sommer wie Wilde gelebt haben. Wir hatten ja nicht einmal Kleider.« Hilde schnappte nach Luft. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass Ihr … Ich meine, Ihr wart doch nicht nackt?«

    »Wir hatten uns aus Gras, Rindenstreifen und Moos so gut wie es ging Kleider zusammen geflochten. Es war besser als gar nichts, muss aber dermaßen merkwürdig ausgesehen haben, als das fremde Schiff uns dort am Strand sah, dass sie dachten, wir wären Nixen.« Hildburg warf Hilde einen verschwörerischen

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