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Klara und das Geheimnis der Baumfrau
Klara und das Geheimnis der Baumfrau
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eBook340 Seiten4 Stunden

Klara und das Geheimnis der Baumfrau

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Über dieses E-Book

Adnila gehört zum Stamm der Baummenschen. Regelmäßig wird sie im Herbst an die Menschen als Sklavin und Liebesdienerin versteigert. Erst im Frühjahr darf sie zu ihrem Stamm im Wald zurückkehren. Doch auch dort fühlt sie sich bald nicht mehr zuhause. Ihre Eltern haben bereits gewurzelt, ein Schicksal, dem Adnila mit aller Macht entkommen will. Hilfe erhofft sie sich von Klara, der jungen Hutmacherin, die sich im Dorf der Menschen angesiedelt hat. Doch Klara hat ganz andere Sorgen. Ihre Meisterin ist in ein mysteriöses Koma gefallen, und Erich, Klaras neue große Liebe, macht anderen Mädchen schöne Augen. Als beide Frauen schließlich tief im Wald aufeinandertreffen, werden sie mit einer schrecklichen Wahrheit konfrontiert, die ihr Leben für immer verändern wird...

Spannender Fantasy-Thriller, der den Leser in eine faszinierende Welt der Fabel- und Mischwesen entführt, die sich gegen ihre skrupellosen Schöpfer zur Wehr setzen und beweisen, dass Freundschaft, Liebe und Ehre - gepaart mit einem Schuss Magie und großem Mut - siegreich sind.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Nov. 2017
ISBN9783743972810
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    Buchvorschau

    Klara und das Geheimnis der Baumfrau - Bärbel Strothmann

    Der Plan

    Adnila klopfte vorsichtig an die Haustür, dreimal kurz, dreimal lang, das war der vereinbarte Code für ihre Begrüßung. Es dauerte nicht lange, bis Nap erfreut den Kopf durch die Tür streckte.

    «Adnila», sagte er mit einem breiten Lächeln auf dem grün glänzenden Gesicht, «wie schön, dich zu sehen» Komm‘ schnell herein, bevor jemand bemerkt, dass du hier unbefugt herumwurzelst!» Er zog sie schnell in den Hausflur und schloss die Tür fest hinter ihr zu. «Was gibt es?» , fragte er gut gelaunt, denn es gab fast nichts, was seine gute Stimmung trüben konnte. Er war zum ersten Mal versteigert worden und hatte so viel Glück gehabt wie ein Vogelkind bei seinem ersten erfolgreichen Ausflug aus dem Nest, denn er war ja hier bei Gertrud gelandet. Eigentlich wäre er erst im nächsten Jahr an der Reihe gewesen, aber die Pane hatten nach der großen Versteigerung noch ein paar Nachrücker gesucht, und Nap war ungewöhnlich groß und stark für sein Alter. Und er liebte die Heilkunst, was ihn für die Arbeit, die er hier verrichten sollte, geradezu vorbestimmte. Eines Tages würde er vielleicht ein sehr guter Buchmane sein. Jedenfalls hatte er schon als Schatzenkind viel Zeit mit Llub verbracht und sich jeden Handgriff, jede Medizin und jede auch noch so ungewöhnliche Heilmethode eingeprägt. Nun konnte er seine Heilkünste an Gertrud ausprobieren, doch bisher hatte es noch nicht allzu viele Fortschritte gegeben.

    «Wie geht es Frau Gertrud heute?», fragte Adnila, denn sie war sehr besorgt um den Zustand ihrer Herrin, und dies war immer die erste Frage, die sie Nap stellte.

    «Oh, gar nicht so schlecht», antwortete Nap vage und schob seine Finger etwas fahrig durch den gekräuselten, dichten Haarschopf, «ich habe die Verbände heute Morgen gewechselt, aber die Heilung schreitet nur sehr langsam voran.» Er zögerte, bevor er fortfuhr. «Also ehrlich gesagt, sie stoppt», fügte er dann hinzu und ließ den Kopf hängen.

    «Nap, was meinst du damit?» Adnilas Stimme rutschte eine Oktave höher. «Was soll das heißen, die Heilung stoppt?»

    «Das soll heißen, dass es keinen Fortschritt gibt. Die schwarzen Stellen bleiben einfach schwarz.» Naps Kehlkopf bewegte sich einmal hoch und wieder herunter. In Wirklichkeit hatte sich die Schwarzfärbung sogar ein kleines bisschen weiter ausgebreitet, aber er wollte Adnila nicht weiter beunruhigen. Er wusste ja, wie sehr sie an ihrer Herrin hing und sich sorgte. Außerdem war er sich sicher, dass er das Problem mit einer Sondertinktur aus Weidenrinde beheben könnte.

    «Ich will das sehen, jetzt sofort», sagte Adnila aufgebracht, «nimm die Verbände ab. Lass mich einen Blick auf die Wunde werfen.» Nap seufzte. Er wusste, dass Adnila keine Ruhe geben würde, bis er ihrem Wunsch gefolgt war, und er konnte ihr sowieso keine Wünsche abschlagen. Sie war einfach das hübscheste Schatzenmädchen, das ihm je begegnet war.

    «Na gut, komm‘ mit», gab er sich kampflos geschlagen, «aber dann musst du mir auch beim Wiedereinwickeln helfen.» Er hoffte, Adnila so noch ein wenig in seiner Nähe zu haben. Ihr Duft nach Maiglöckchen und frischem Harz verwirrte seine Sinne, und mit ihrem Geruch in der Nase würde er heute Nacht wundervolle Träume haben. Er fasste Adnila vorsichtig um die Taille und schob sie in Richtung Wohnzimmer.

    Adnila konnte Gertruds dunklen Haarschopf im Ohrensessel sehen, und ihr Herz schlug ein wenig höher. Schnell war sie an Gertruds Seite und begann, die Verbände abzuwickeln. Was sie dann sah, erschreckte und beunruhigte sie. So schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt. Die schwarzen Linien, die beim letzten Mal, als sie Gertruds Arme gesehen hatte, nur die Oberarme bedeckten, hatten sich nun bis zu den Schultern ausgebreitet und begannen, Rücken und Brust zu bedecken.

    «Nap», sagte Adnila scharf, und es gelang ihr kaum, ihre Stimme zu beherrschen, «wir müssen sie so schnell wie möglich zu Llub bringen. Wir müssen für sie um Wananati bitten.»

    Nap riss erschrocken die Augen auf. Wananati? Einlass in die Schatzengemeinschaft? Das wurde Fremden nur sehr selten gewährt. Sobald das Wort von einem Schatzen ausgesprochen war, musste der Fremde unter allen Umständen beschützt werden, gegen Krankheit, Feinde und Tod. Notfalls mit dem eigenen Leben. Das gehörte zum Ehrenkodex der Schatzen. Wer kein Wananati gewährte, zog Scharm auf sich und wurde verbannt. Jetzt, da Adnila das Wort ausgesprochen hatte, mussten sich alle Schatzen daran halten. Nur, wie sollte das funktionieren? Er war hier, um Gertrud zu pflegen. Wenn sie ging, musste auch er gehen, und damit würde er sich den Ärger der Pane einhandeln.

    «Wie sollen wir das machen?», fragte er beunruhigt und schaute unwillkürlich zur Tür, als ob dort jeden Moment ein Pan auftauchen könnte, «wir sind beide versteigert, das wird großen Ärger geben.»

    «Das ist mir egal», antwortete Adnila entschlossen, «wir werden sie beide begleiten. Wir werden sie nach Hause bringen, damit Llub sie heilen kann. Dort sind wir sicher. Unser Volk wird uns beschützen. Und Llub ist der einzige, der ihr jetzt noch helfen kann.» Sie begann, die Verbände vorsichtig wieder um Gertruds Arme zu wickeln. « Und jetzt schnell, geh‘ in den Garten und suche nach den Pilzfäden, damit wir Kontakt aufnehmen können. Wir teilen unserem Volk mit, dass ich Wananati für Gertrud beantrage. Sie sollen alles Nötige veranlassen. Wir erwarten sie in einer der kommenden Nächte, kurz bevor der Kältepunkt erreicht ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass alle schlafen und unsere Flucht bis zum Morgengrauen unentdeckt bleibt.»

    Das hörte sich für Nap doch schon viel besser an. Die Aussicht, wieder im Wald bei seiner Stammesfamilie zu wohnen, noch dazu in Adnilas Nähe und mit einer wichtigen Aufgabe betraut, die ihm die Möglichkeit bot, dem großen Llub bei seinen Heilkünsten zuzuschauen, hellte Naps Stimmung augenblicklich wieder auf.

    «Das ist ein guter Plan, Adnila», sagte er bewundernd, «bis heute Abend habe ich bestimmt ein paar Pilzfäden im Boden gefunden.» Er begann, Adnila dabei zu helfen, Gertruds schwarze Arme wieder einzuwickeln. «Kommst du heute Abend noch einmal vorbei?», fragte er hoffnungsvoll.

    «Ja», antwortete Adnila, «ich werde nach dem Abendessen noch einmal kurz vorbeischauen. Dann kannst du mir sagen, ob du einen Zugang gefunden hast.» Adnila war sich ziemlich sicher, dass ihre Botschaft erhört würde, falls sie richtig übertragen wurde. Ihr Volk durfte Wananati nicht ablehnen, es rangierte bei den Schatzen über allen anderen Werten. Jetzt lag alles in Naps Händen, oder besser gesagt, Füßen, und in seiner Fähigkeit, genügend Wurzeln in einer ziemlich kurzen Zeit zu bilden, um einen Zugang zum Kommunikationsnetz zu finden. Adnila legte ihrem Cousin die Hände auf die Schulter.

    «Ich zähle auf dich», sagte sie eindringlich und schaute tief in seine olivgrünen Augen, «du schaffst das!» Dann umarmte sie ihn kurz und war aus dem Haus verschwunden, ehe Nap sich zu sehr über ihre Berührung freuen konnte.

    Die Reise

    Ich hatte die ganze Wand abgeklopft, doch nirgends war ein Hohlraum zu finden. Irgendwo hier musste es aber gewesen sein, das Loch, durch das ich vor ein paar Wochen hindurchgeklettert und in dieser Welt gelandet war. Ich konnte mich noch sehr gut an den ersten Moment des Erstaunens erinnern – der Blick von der Treppe aus auf den schönen Hutladen, auf die vielen verschiedenen Hutmodelle, und mitten unter ihnen Gertrud, die sich die Hände an ihrer Kittelschürze abwischte und mich freudestrahlend in ihrem Leben begrüßt hatte. Wie sie mir ohne große Umstände eine Lehrstelle angeboten hatte, mir zu einer neuen Wohnung verhalf und mich unter ihre zauberhaften Fittiche nahm, um mir die Geheimnisse ihrer Hutmacherkunst beizubringen. Wie ich staunend und nur ein ganz klein wenig zögernd beschlossen hatte, bei ihr zu bleiben und mein altes Leben in einer anderen Welt hinter mir zu lassen. Wie ich die seltsamen Wesen von „Notopia", wie ich diese neue Welt insgeheim nannte, die Omnipedesse, Schweibeine und Multikühe, kennengelernt hatte, ebenso wie Klaras Freunde, die mich sofort in ihre Reihen aufgenommen hatten. Und natürlich Erich, den verrückten Musiker, in den ich mich so verliebt hatte wie schon lange nicht mehr, und der mir die neue Welt erklärte, so gut er konnte. Doch dann, nach und nach, kamen immer mehr unschöne Wahrheiten über Notopia ans Licht.

    Und jetzt, nach dem katastrophalen „Schatzenfest", wie sie es nannten, stand ich plötzlich ganz allein hier im Hutladen. Gertrud, meine große Meisterin, die Hüterin der Geheimnisse der Hutmacherkunst, war ins Koma gefallen und damit für mich unerreichbar. Weder mit Worten, noch mit Berührungen konnte ich zur ihr durchdringen. Ich hatte sogar versucht, einen Genesungshutblitz für sie zu erzeugen und ihn in einen wunderschön flauschigen Hut fließen lassen, den ich ihr über die Ohren zog, wenn ich sie abends in ihrem Garten im Rollstuhl spazieren fuhr. Aber nichts nützte etwas. Sie blieb in ihrer eigenen Welt, die Augen halb geschlossen, stumm und weit entfernt von mir.

    Wie sollte ich nur ohne sie hier weitermachen? Frustriert schaute ich mich in dem schönen Hutladen um, der ohne Gertrud leer und verlassen wirkte, als habe er seine Seele verloren. Gertrud hatte mir zwar schon viel gezeigt in der kurzen Zeit, die wir zusammen verbracht hatten, aber bis zu einer richtigen Hutmacherin war es noch ein sehr weiter Weg für mich. Ohne eine Meisterin würde ich es nicht schaffen, das war klar wie Kloßbrühe. Ich musste einen Weg finden, Gertrud zurückzuholen, oder es blieb mir nichts anderes übrig, als irgendwie in meine alte Welt zurückzukehren. Aber im Augenblick schienen beide Alternativen ziemlich unmöglich.

    Mutlos ließ ich mich auf den Boden sinken, lehnte den Kopf an die kühle Wand und schloss die Augen. Ich war so erschöpft, dass ich kurz eingeschlafen sein musste, denn kurze Zeit später weckte mich ein fröhliches Gebimmel, das von der Ladenglocke ausging. Die Glocke hatte die erstaunliche Angewohnheit, ihre Töne dem Gemütszustand der eintretenden Kundschaft anzupassen, und die heiteren Töne, die sie gerade von sich gab, ließen auf einen gut gelaunten Gast schließen.

    Es war Erich. Sofort besserte sich meine trübsinnige Stimmung.

    «Hallihallo», rief Erichs Stimme gut gelaunt, «wo ist denn meine Prinzessin?»

    «Hier», krächzte ich von meinem Posten am Boden der Wand zurück, die mir die Rückkehr in meine alte Welt verwehrte, «ich bin hier!» Ich rappelte mich auf, doch bevor ich aufstehen konnte, war Erich schon die Treppe in drei großen Schritten hinaufgestürmt und hatte sich neben mich auf den Boden geworfen. Er drückte mir einen lauten Kuss auf den Mund.

    «Rate mal, was gerade passiert ist», sagte er freudestrahlend.

    «Du hast einen neuen Song komponiert», antwortete ich prompt, denn das war der wahrscheinlichste Grund für seine gute Laune. Kreativität sorgte bei Erich immer für unbändige Euphorie.

    «Falsch, oder besser, ja, auch richtig, aber das ist nicht das, was ich dir erzählen wollte. Rate weiter!»

    «Du warst den ganzen Tag im Studio mit deinen Komas, und ihr habt eines eurer Lieder fertig aufgenommen», riet ich weiter, denn das war der zweithäufigste Grund für glänzende Laune bei Erich. Er hatte nach dem Auftritt beim Schatzenfest einen Plattenvertrag unterschrieben und verbrachte nun die meiste Zeit im Aufnahmestudio, um die erste Platte der Band aufzunehmen. Insgesamt waren zehn Platten in fünf Jahren geplant, was viel Arbeit bedeutete. Aber Erich war Feuer und Flamme, und so waren die Bandmitglieder und er praktisch ins Studio umgezogen, um Tag und Nacht arbeiten zu können. Obwohl es anscheinend nicht immer Arbeit war, was sie dort trieben, aber das wollte ich gar nicht so genau wissen. Zum Glück war das Studio nicht allzu weit von dem kleinen Städtchen entfernt, in dem ich lebte und wo wir uns kennengelernt hatten. Erich hatte seine Wohnung hier behalten, und er kam recht häufig, um mich zu besuchen.

    «Auch richtig, aber immer noch nicht das, worum es geht», seufzte Erich. Seine dunklen Augen funkelten wie zwei Leuchtraketen, die kurz davor waren, zu explodieren. «Los, noch einmal raten, wenn du es dann nicht hast, sage ich es dir.»

    «Ihr habt einen Auftritt vor einem ganz großen Publikum, mindestens tausend Leute», versuchte ich es weiter, denn das wäre das dritte Ereignis, das Erichs Herz so hoch schlagen lassen würde, wie es jetzt anscheinend klopfte.

    «Fast richtig, Prinzessin. Aber es ist nicht nur ein Konzert. Es sind gleich zehn! Eine ganze Tournee – kannst du dir das vorstellen?» Er sprang auf, schnappte sich ein Hutböckchen von der Hutgalerie und hielt es wie ein Mikrofon vor den Mund. «Meine Damen und Herren, sehr verehrtes Publikum», rief er mit donnernder Stimme in das Böckchen hinein, «darf ich vorstellen: Erich Arosa und die Koma-Combo! Heute Abend live für Sie im Miller-Stadion!» Dann vollführte er einen kleinen Freudentanz, wobei er sich ein paar Mal um die eigene Achse drehte und mit Trippelschritten hin- und herlief. Schließlich warf er sich wieder neben mich auf den Boden und zog mich in seine Arme. «Was sagst du, Prinzessin, ist das nicht superduperaffenstark?»

    Ich ließ den Kopf hängen. Ja, das war natürlich wunderbar für Erich und seine Band. Genau das, was er sich erhofft hatte und wofür er lebte. Die Musik war sein Ein und Alles, das wurde mir immer klarer, und da gab es keine Kompromisse. Das musste man wissen, wenn man einen Musiker zum Freund hatte.

    «Wann soll es denn losgehen?» Ich versuchte ein Lächeln, aber es fiel mir schwer, Erichs Begeisterung zu teilen. Die Aussicht, ihn noch weniger zu sehen, als ich es sowieso schon tat, war nicht sehr erfreulich. Er war es, der mit seinem Optimismus, seiner Leidenschaft und seiner Gabe, in allem immer das Gute zu sehen, wesentlich dazu beitrug, dass ich den Mut nicht sinken ließ.

    «Schon in einer Woche, meine Süße», freute sich Erich, «und weißt du was, du kommst einfach mit.»

    «Wie soll das denn funktionieren?», antwortete ich, «Ich habe doch Gertrud zu versorgen, und den Laden hier gibt es ja auch noch.» Von der Hutwurmfarm ganz zu schweigen, die sich hinter dem Laden in Gertruds Garten befand und von der Erich nichts wusste. Die Hutwürmer gehörten zu den Geheimnissen der Hutmacherkunst, die Gertrud praktizierte – oder besser gesagt, praktiziert hatte, bevor sie ins Koma gefallen war. Aber die Hutwürmer waren das geringste Problem, mit genügend Futter würden sie eine Zeitlang auch ohne tägliche Pflege überstehen. Gertrud war der limitierende Faktor. Ich konnte sie in ihrem jetzigen Zustand unmöglich allein lassen.

    «Den Laden kannst du doch ruhig mal eine Woche lang schließen, das hat Gertrud auch ab und zu gemacht. Und was Gertrud betrifft, fragen wir einfach Nap, ob er es sich zutraut, ein paar Tage allein auf sie aufzupassen. Vielleicht findet er ja auch noch einen Schatzenkumpel, der ihm dabei hilft. Oder eine Kumpeline.» Erich zwinkerte mir zu. Für ihn schien das kein großes Problem zu sein. Ich zögerte.

    «Wohin geht es denn überhaupt?» wollte ich wissen. Erich nannte ein paar Städtenamen, die ich nicht kannte, aber das war auch nicht weiter verwunderlich, denn eine Landkarte hatte ich von meiner neuen Welt noch nicht gesehen.

    «Das klingt nach einer weiten Reise», sagte ich ohne große Begeisterung.

    «Oh ja, das ist es. Wir fahren mit dem Nachtliner, die Plattenfirma hat schon alles organisiert.» Erich sprang auf und zog mich hoch. «Ein Traum wird für mich wahr, Prinzessin», sagte er sanft, «du bist mein Glücksbringer. Seitdem ich dich kenne, läuft alles prima. Bitte, begleite mich!» Damit nahm er mich in seine Arme, und mein Widerstand schmolz augenblicklich dahin. Eigentlich war der Glücksbringer ja Gertrud. Sie hatte Erich und seine Koma-Combo mit Hüten versorgt, die sie mit Erfolgs-Hutblitzen bestückt hatte. Aber immerhin war ich bei der Übergabe dabei gewesen und somit wenigstens indirekt am Glücksbringen beteiligt. War es wirklich nur ein paar Wochen her? Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Doch seitdem Erich und seine Komas die Hüte bei ihren Konzerten trugen, hatten sie unbändigen Erfolg. Nicht, dass sie nicht schon vorher erfolgreich gewesen wären, aber mit den Hüten ging ihre Karriere plötzlich steil bergauf. Ich war mir ziemlich sicher, dass die bevorstehende Tour der Start für etwas Großes werden würde. Eigentlich wollte ich auch wirklich gern dabei sein, und die Aussicht, Erich für möglicherweise viele Wochen nicht zu sehen, war mehr als trübselig. Auf der anderen Seite wollte ich Gertrud jetzt auch keinesfalls alleine lassen. Ich war hin- und hergerissen wie ein Baum zwischen Süd- und Nordwind.

    «Lass‘ uns mit Nap reden», schlug ich schließlich vor, «vielleicht kann er jemanden ins Haus holen.» Obwohl Nap noch nicht lange bei mir war, hielt ich große Stücke auf ihn. Er war ein gut gelaunter, kräftiger junger Schatzenmann, der im Stande war, unter seiner fröhlichen Oberfläche eine tiefe Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit durchblicken zu lassen. Ich vertraute ihm.

    «Das ist meine Prinzessin!», freute sich Erich und schwenkte mich freudestrahlend über die Hutgalerie, auf der Gertrud ihre schönsten Stücke ausgestellt hatte. Im Vorbeitanzen bewunderte ich ihre Kunst. Würde ich es jemals so weit bringen? Sicherlich nicht ohne Gertrud, die eine großartige Lehrmeisterin war. Ich hoffte sehr, dass sie zurück ins Leben kehren und mir weitere Einblicke in ihr Wissen und ihre Kunst gewähren würde. Aber vielleicht war es jetzt wirklich einmal an der Zeit für etwas Abstand. Ich versuchte, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Nach dem Schatzenfest und der Schatzenversteigerung hatten viele Geschäfte im Ort Betriebsferien gemacht, und außerdem hatten wir vorher genügend Umsatz in unsere Kasse gebracht, um ein paar Tage zu überbrücken. Ich war neugierig, wie die Welt hinter dem kleinen Ort, in dem ich gelandet war, aussah. Bis auf die wenigen Ausflüge, die Erich mit mir unternommen hatte, hatte ich noch nicht viel gesehen, und eine Tour durch das Land würde mein Wissen ganz erheblich erweitern.

    «Na gut», sagte ich etwas außer Atem, «lass mich runter und mit Nap sprechen.»

    Nap stand im Garten und hatte seine Füße tief in der Erde vergraben. Das war nicht weiter ungewöhnlich, denn alle Schatzen, so hatte ich gelernt, verbrachten ihre Pausen im Freien und standen einfach nur so da. Meistens barfuß. Ich hielt es für eine ihrer wesenstypischen Merkmale.

    «Nap», rief ich ihm zu, als ich mit Erich durch die Hintertür des Hutladens in den Garten trat und ihn zwischen den Bäumen entdeckt hatte, was gar nicht so einfach war, denn er fügte sich wirklich hervorragend in die Umgebung ein und war fast unsichtbar, «kannst du ins Haus kommen? Wir wollen etwas mit dir besprechen.» Naps grünes Gesicht schien im Schatten der Bäume etwas dunkler zu werden. War das etwa so etwas wie Erröten? Hatte ich ihn bei etwas ertappt, bei dem er nicht ertappt werden wollte? Es dauerte einen Moment, bis er antwortete.

    «Ja, ich komme sofort», rief er mir zu, «ich muss nur noch meine Schuhe suchen. Bin gleich da!» Aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Er winkte mir freundlich zu, eine Bewegung, die andeutete, dass wir schon vorgehen und nicht auf ihn warten sollten. Ich schaute Erich fragend an, der breit grinste. «Keine Ahnung, was Schatzen so treiben, wenn sie die Füße tief in die Erde gesteckt haben», bemerkte er, «vielleicht schlagen sie Wurzeln?» Er zuckte die Schultern. «Ich bin kein Schatzenexperte, Prinzessin», sagte er.

    «Auf jeden Fall mehr als ich», gab ich zurück, aber nach den vielen Überraschungen, die mich in dieser Welt bereits überrumpelt hatten, hatte ich aufgehört, mich zu wundern. Hier gab es nicht für alles eine logische Erklärung, zumindest nicht auf den ersten Blick. Ich schüttelte nur etwas verwundert den Kopf, und wir gingen durch den Garten in Gertruds Haus, um dort auf Nap zu warten.

    Gertrud saß noch immer stumm und mit halb geschlossenen Augenlidern am großen Fenster zum Garten.

    «Tee?» fragte ich Erich.

    «Mit Rum», antwortete er.

    Ich machte eine ganze Kanne und war gerade dabei, Gertrud ein paar Schlucke davon mit einem Teelöffel einzuflößen, als Nap das Haus betrat.

    «Wie ist es Gertrud heute ergangen?», fragte ich ihn routinemäßig, denn ich hatte Nap seit dem Morgen mit Gertrud allein gelassen.

    «Sehr gut, Frau Klara», antwortete Nap und senkte höflich den Kopf. Ich hatte es ihm noch nicht abgewöhnen können, mich mit „Frau Klara anzusprechen. Nur das Wort „Herrin, das er anfangs mir gegenüber benutzen wollte, hatte ich ihm verboten. In meinen Ohren klang es zu sehr nach Sklavenhaltung, und ich hatte mir vorgenommen, die Schatzen nicht wie Sklaven, sondern wie ganz normale Hausangestellte zu behandeln. Dazu hatte ich Nap angeboten, ihn für seine Dienste zu bezahlen, aber er hatte entsetzt und heftig abgelehnt. ‚Nein‘, hatte er gesagt, ‚nein, nein, nein, das geht nicht‘. Mit Geld wolle er überhaupt nichts zu tun haben, das sei Sache der Pane. Es würde nur dazu führen, dass die Pane kamen und nach dem Geld suchten. Er schien ziemlich große Angst vor diesen merkwürdigen Geschöpfen zu haben. Ich konnte das gut verstehen, denn mir hatten die ziegenbockähnlichen Gestalten mit ihren weiten Fellhosen, den gehörnten Köpfen und klauenähnlichen Füßen auch einen ziemlichen Schrecken eingejagt, als ich sie zum ersten Mal bei der Schatzenversteigerung gesehen hatte. Denen wollte ich lieber nicht im Dunkeln begegnen, und im Hellen eigentlich auch nicht.

    «Ich habe Frau Gertrud heute Morgen und heute Mittag gefüttert, bin mit ihr spazieren gefahren, und heute Nachmittag habe ich sie ans Fenster gesetzt, damit sie ihren schönen Bauerngarten betrachten kann», berichtete Nap brav. «Ihre Verbände habe ich auch gewechselt, Frau Klara».

    «Und hast du irgendwelche Veränderungen bemerkt?», wollte ich wissen. Ich hoffte jeden Tag auf eine Regung, ein Augenzwinkern vielleicht, ein Kopfnicken, ein Handzeichen, irgendetwas, das Fortschritt signalisieren würde.

    «Nein, Frau Klara», antwortete Nap traurig und ließ den Kopf sinken, als sei es seine Schuld. Ich ging zu ihm und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Sofort wurde sein grünes Gesicht wieder fröhlicher.

    «Ich danke, dir, Nap. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich tun sollte», tröstete ich ihn. Und das stimmte. Allein wäre ich mit Gertrud völlig überfordert.

    «Meister Nappi, hör zu», mischte sich Erich in unser Gespräch ein, «wir wollen dich etwas fragen.»

    «Ja, Herr Erich?» Naps Kopfäste zitterten leicht, als er sich an Erich wandte. Er verehrte Erich zutiefst und war auch bei ihm nicht bereit, auf die förmliche Anrede zu verzichten, obwohl Erich das genauso peinlich war wie mir.

    «Würdest du dir zutrauen, ein paar Tage lang allein oder mit einem anderen Schatzen, den du dir selbst aussuchen darfst, hier auf Gertrud aufzupassen? Klara und ich wollen verreisen, aber nur, wenn wir wissen, dass du mit Gertrud auch allein zurechtkommst.»

    Naps Äste begannen noch heftiger zu zittern. Ich machte mich innerlich auf eine Ablehnung gefasst.

    «Aber das wäre wunderbar!», rutschte es Nap heraus, und sofort schlug er die Hand vor den Mund. «Entschuldigt, Frau Klara und Herr Erich, ich meine natürlich nicht, es wäre wunderbar, Euch so lange nicht zu sehen. Aber es wäre wunderbar, wenn Ihr eine Weile zusammen verreisen könntet, ohne Euch um Frau Gertrud sorgen zu müssen. Ich mache das gern. Es wird mir überhaupt nichts ausmachen, und meine Cousine Adnila kann mir ab und zu helfen.» Nap machte eine kleine Verbeugung vor uns. «Es ist mir eine große Ehre, dass Ihr so großes Vertrauen in mich setzt. Ich werde alles tun, um Frau Gertrud zu pflegen und zu heilen, während Ihr auf Reisen seid.»

    Ich war erleichtert, erstaunt und besorgt zugleich. So eine lange Rede hatte ich von Nap nicht erwartet, der nach Schatzenmanier eigentlich immer recht zurückhaltend war. Für ihn war das schon fast ein Gefühlsausbruch, aber möglicherweise war er wirklich überwältigt von dem Vertrauen, das wir in ihn setzten. Wie auch immer. Ich wollte mir gar nicht zu viele Gedanken darüber machen, denn das würde die Aussicht auf ein paar schöne Tage mit Erich trüben. Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass Gertrud bei Nap in guten Händen war. Aber wer war diese Adnila? Hatte ich ihren Namen nicht schon einmal irgendwo gehört? Ich zermarterte mein Hirn, ohne fündig zu werden.

    «Na dann ist doch alles paletti», freute sich Erich. «Lass deine Cousine doch einfach mal vorbeikommen, und wir besprechen alles.» Für Erich war die Sache schon entschieden.

    Vorbereitungen

    Nap schaute sich suchend im Garten um. Es war dunkel und windig, der Geruch nach Herbststürmen und kalten Regentropfen lag in der

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