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Faust und die Tragödie der Menschheit
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eBook766 Seiten9 Stunden

Faust und die Tragödie der Menschheit

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Über dieses E-Book

"Faust und die Tragödie der Menschheit" - Hunderte von Jahren nach seiner Begegnung mit dem teuflischen Verführer Mephisto ist Faust im Himmel. Die Schrecken vergangener Tage, die tragische Liebe zu Gretchen, die Weltfahrt und Helena sind fast vergessen. Unterdessen ist die Welt im 21. Jahrhundert angelangt - und ihr Untergang steht kurz bevor. Doch zu spät erkennt die Menschheit die Bedrohung aus den Tiefen der Hölle...
Faust, Inbegriff des ewig strebenden Menschen, will durch eigene Taten wirken und helfen - doch alles kommt anders, als Mephisto im Himmel auftaucht und ihm das Angebot einer neuen Weltfahrt unterbreitet. Von Erkenntnisdrang und Tatendurst getrieben, des passiven Wartens müde, willigt Faust ein. Während er alsbald mit Mephisto an seiner Seite die Wirren der Menschheitsgeschichte durchstreift, wirken dunkle Mächte auf die Erde und die Menschen ein. Und als ein großer Krieg die Menschheit heimsucht, scheint die Welt endgültig am Abgrund zu stehen...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum25. Jan. 2011
ISBN9783839196779
Faust und die Tragödie der Menschheit
Autor

Roman Möhlmann

Roman Möhlmann, Jahrgang 1980, hat nach dem Abitur ein Jahr Wehrdienst geleistet. Danach studierte er an der Ruhr-Universität Bochum Politikwissenschaften und Geschichte sowie an der Fernuniversität Hagen Kultur- und Sozialwissenschaften. Er übte in den letzten Jahren verschiedene Tätigkeiten in den Bereichen Dokumentation, Öffentlichkeitsarbeit, Unternehmenskommunikation und Personalberatung aus. Zudem schrieb er lange Zeit Kritiken zu Film und Fernsehen für verschiedene Online-Medien. Als Autor verfasst er vor allem Lyrik, Kurzgeschichten und Romane, unter www.taliteratur.de gibt er ein Online-Magazin für Literatur und Kultur heraus. Roman Möhlmann lebt in Wuppertal.

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    Buchvorschau

    Faust und die Tragödie der Menschheit - Roman Möhlmann

    mir.«

    1. BUCH: WELTFAHRT

    Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,

    so du nur selber nicht machst einen Unterscheid.

    Angelus Silesius

    1. GENESIS

    In leerem Raum, im großen Nichts, in der Unendlichkeit der Leere, im Sekundenbruchteil der Ewigkeit, schuf der Herr die Welt. Nichts wurde zu allem, zum Sein, zur Existenz. Aus dem Nichts entstand die Energie, unendliche Kraft, angestoßen durch eine Kraft, nicht anders zu erfassen, als die göttliche Kraft. Die Schöpfung hatte begonnen.

    Dimensionen waberten durch den Raum. Atome und Moleküle reichten sich die Hand, tanzten durch den leeren Raum, verdrängten mit ihrer Energie das Nichts. Tropfen von Dimensionen und Universen breiteten sich aus, und verfielen wieder. Doch im Chaos der jungen Existenz, des flüchtenden Nichts, ging nicht alles unter. Eine Dimension, ein Universum der Kontinuität, stieß empor aus dem intergalaktischen Chaos zwischen Leere, Energie und Materie.

    Dies war die Stunde der Schöpfung.

    Ein wuchtiger Knall, eine gigantische Explosion, die Detonation der Ewigkeit. Aus dem Nichts schossen plötzlich gigantische Energiemassen durch die Unendlichkeit. Eine Dimension, ein Universum. Eine Energie, die Materie formte, teils in Ewigkeit, teils in Vergessenheit, und über das Mysterium der Zeit hinweg unzählige Galaxien, Sonnensysteme, und schließlich Planeten entstehen ließ.

    Der Herr sah, dass es gut war.

    Das Entstehen von Materie und die Kombination mit Energie führten unweigerlich zur Bewegung der Dinge. Materie kollidierte mit Materie; Materie sammelte sich, wuchs. Aus Materie und Energie wurde Staub, aus Staub wurde Sand, aus Sand wurde Stein, aus Stein wurde Fels. Felsen trieben umher, in dem, was früher das Nichts war, jetzt das All. Und hin und wieder erinnerte auch das All mit den unendlichen Weiten seiner Leere an das frühere Nichts. Aber es war nicht das gleiche. Nichts gab es im Nichts so wenig wie das Chaos. Aber das Universum beruhigte sich, aus Staub wurden galaktische Nebel, es entstanden Sterne und Sonnen und Sternensysteme und Sonnensysteme. Es dauerte, bis all die Sonnen und Planeten entstanden waren. Nicht nur alles Gute, alles überhaupt braucht seine Zeit, in der Unendlichkeit des Alls. Doch inmitten der Milliarden von Galaxien entstanden mit der Zeit Planeten, die mehr waren als bloße, kalte, im All treibende Felsblöcke. Und der Faktor, den manche Schicksal oder Bestimmung, andere Zufall nennen, sorgte dafür, dass verschiedenste und seltenste Konstellationen den Weg für ein neues Zeitalter ebneten.

    Der eine felsige Himmelskörper hatte plötzlich einen anderen Abstand zu seiner Sonne als die anderen Planeten, in seinem Innern brodelte eine andere Energie, er hatte eine speziellere Kombination von Mineralien im Gestein. Und irgendwann brachte der Kampf der Einwirkungen aus dem All und den energischen Auswürfen der Vulkane auf der Oberfläche etwas hervor, das neu war: Eine Atmosphäre, Luft, Sauerstoff. Doch auch dieser Vorgang dauerte, brauchte Zeit.

    Der Herr wusste um die Möglichkeit, die die Kombination von Materie und mit seinem göttlichen Funken bot, eine Kombination, die zum Bewusstsein führen würde, und gab ihr einen neuen Namen: Das Leben. Und als der Herr seine schöpferische Hand entfernte, waren aus den kleinen molekularen Teilchen Zellen geworden, die sich weiter verbanden, und das, was später als chemische und biologische Prozesse bezeichnet werden würde, ließ Organismen, ließ Leben entstehen, Einzeller, Bakterien, Amöben, Kleinstlebewesen.

    Das war der Beginn der Geschichte des Lebens.

    Und der Herr sah, dass es gut war.

    »Ist es nicht erbärmlich?« fragte Mephisto.

    Ein kalter Wind blies ihnen ins Gesicht. Faust und Mephisto standen am Fuße einer steilen steinigen Klippe. Das Wasser roch seltsam, weder frisch noch modrig. Es hatte eine tiefgrüne, nur selten leicht bläulich schimmernde Farbe. Der Himmel war bedeckt, es sah nach Regen aus. Hinter dem Meer und der felsigen Bucht erstreckte sich eine karge, schwarze Berglandschaft. Am Horizont warf ein Vulkan Magma aus dem Innersten der Erde. Das dumpfe Grollen des Ausbruchs war auch hier, Hunderte von Kilometern entfernt, noch deutlich hörbar.

    Die beiden Reisenden schauten auf den feuchten, schlammüberzogenen Kies zu ihren Füßen hinunter. Sie hatten bereits einige Zeit an dieser Stelle verweilt, doch soeben war es geschehen. Ein dunkles Etwas mit vier breiten Beinen, ein kleines schuppiges Lebewesen, nicht größer als Fausts Schuh, mit rollenden, dunkelroten Augen war langsam aus dem Wasser an den Strand gekrabbelt. Offenbar atmete es.

    »Erbärmlich?« fragte Faust.

    »Etwa nicht? Dieses namenlose, mickrige Ding ist die Grundlage eurer Existenz, des Lebens, wie du und alle anderen Menschen es kennt.« entgegnete Mephisto.

    »Es ist nicht unwürdiger als irgendein anderer Anfang. Die Evolution hat es so vorgesehen.«

    »Ja, natürlich.«

    »Verleugnest du die Biologie, die Evolution, jegliche Lehre von der Entwicklung der Lebewesen?«

    »Nein, wie denn auch. Aber dies ist gewiss nicht alles. Du weißt es.«

    Während das namenlose Tierchen seinen Weg an Land in unbeholfenem Krabbeln fortsetzte, fasste Mephisto seinen Begleiter am Arm.

    Als Faust die Augen wieder öffnete, standen er und Mephisto inmitten einer weiten Steppe. Ein warmer Wind fegte über das Land und ließ den hellen Sand um die braunen Halme tanzen. Faust blickte sich um. Weit und breit nichts anderes als karges, kaum fruchtbares Land. Doch was war das? Er drehte sich schlagartig um, als ihm wohliger Duft von reifen Früchten in die Nase drang. Hinter ihm erstreckte sich, umgeben von goldenen Bergkuppen und silbernen Schluchten, ein langes grünes Tal voll lebendiger Natur. Hohe Bäume und klare Bäche durchzogen die Felder der glitzernden Gegend. Faust war wie geblendet von der Schönheit und Anmut dieses vollkommenen Ortes.

    »Das ist der Garten Eden«, erklärte Mephisto, »hier schuf der Herr Adam, den ersten Eurer Vorväter, und sein Weib Eva.«

    »Das Paradies!« rief Faust verzückt.

    »Sieh genau hin!« sagte Mephisto und deutete auf einen schmalen Durchgang zwischen den Bergen. Der Unterschied zwischen den hellen, majestätischen Wiesen auf der einen und der leblosen tristen Erde auf der anderen Seite hätte gar nicht größer sein können.

    Faust wusste, was er sah. Ein Mann und eine Frau verließen den Garten Eden, und hochgewachsene, edel anmutende Wächter in glänzenden Rüstungen, die Cherubim, schlossen hinter ihnen ein Tor.

    »Gott hat die Menschen aus dem Paradies verstoßen…« murmelte Faust betrübt.

    »Ihr Sündenfall war schuld. Der Apfel, weißt du…«

    »Ein Komplott deines Herrn, der die Schlange anstiftete!«

    »Auch der Teufel war vor seinem Fall ein Engel.«

    Bevor Faust etwas entgegnen konnte, spürte er einen beißenden Windzug. Das Paradies verschwamm, sein Anblick wurde für Fausts Augen immer undeutlicher. Und als der Garten Eden verschwunden war, wurde es ruhig in der Steppe.

    Faust wandte sich wieder an seinen Begleiter.

    »Warum zeigst du mir all dies?«

    »Weil du es sehen wolltest«, war Mephistos kurze Antwort.

    Als Adam und Eva entschwanden und ihr Bild verschwamm, fragte Faust: »Was ist nun?«

    »Die Anmut der Ahnen entschwindet, und die Nachkommen erscheinen anfangs weniger edel. Sie bekommen die Welt nicht in die Wiege gelegt. Sie müssen sich die Erde selbst Untertan machen. Du weißt um den langen, beschwerlichen Weg.«

    Mephisto nahm Fausts Hand, und dieser schloss erneut für einen Moment seine Augen. Als er sie wieder öffnete, wirkte die Landschaft karger und trostloser als zuvor.

    Faust und Mephisto marschierten eine Zeit lang durch das weite, steinige Land. Sie kamen an einer fast vertrockneten Wasserstelle vorbei. In einiger Entfernung lagen Knochen eines großen Skelettes verstreut, vielleicht eines Mammuts, mutmaßte Faust. Am Horizont der rotbraunen Steppe lief einer Herde kleiner Huftiere umher.

    Hinter einigen Bäumen mit verschlungenen Ästen erhob sich schließlich eine kleine Felsformation. In ihrer Mitte knisterte ein Lagerfeuer. Faust kniete sich hin, um bequemer hinunterschauen zu können.

    Er konnte fünf Menschen erkennen. Aber sie schienen nicht weit entwickelt. Ihre Laute waren primitiv, und sie trugen Felle als Bekleidung. Zwei weitere kamen aus dem freien Feld hinzu. Die Neuankömmlinge trugen eine Art von Speer und große, noch mit Fell und Knochen behaftete Fleischfetzen mit sich. Sie kamen wohl von der Jagd. Während der eine sich mitsamt seiner Last zu den anderen am Lagerfeuer begab, bewegte sich der andere in Richtung einer kleinen, mit Tierschädeln und Fellen behangenen Höhle, ohne die anderen zu beachten. Zwei der offensichtlich männlichen Frühmenschen schienen plötzlich sehr aufgebracht und stürmten mit wilden Rufen zu dem einzelnen.

    Faust machte ein skeptisches Gesicht. Er ahnte, dass die Eigennützigkeit des einen da unten von seinen Stammesgenossen, oder wie immer man das nennen mochte, missbilligt wurde.

    Und so war es. Die beiden Männer entrissen dem Einzelgänger seine Beute, darauf schlug dieser einen seiner Gegner mit einem weit ausholenden, animalisch wirkenden Schlag nieder und warf sich auf den anderen. Während diese beiden auf dem staubigen Boden weiterkämpften, rappelte sich der andere auf und ergriff einen Stein. Er näherte sich den kämpfenden, zögerte aber. Der Mann, der sich entschieden hatte, sein Fleisch nicht zu teilen, presste die Luft aus den Lungen seines Kontrahenten und erwürgte ihn. Als er sich umdrehte und aufstehen wollte, traf ihn ein harter, kantiger Stein mit der Wucht eines wütenden Mannes am Kopf. Sein Körper fiel leblos zu Boden. Blut floss aus einer klaffenden Wunde am Schädel.

    »Da hast du die Wurzeln deiner Menschheit.« Faust bemerkte Mephistos Grinsen nicht, da dieser hinter ihm stand. »Die Wurzeln und den Aufbruch der Menschheit!«

    »Das ist nicht alles, was unsere Entwicklung ausmacht!« gab Faust erzürnt zurück.

    »Das mag so sein.« Mephisto versuchte, ein verständnisvolleres Gesicht aufzusetzen, zweifelte aber daran, das Faust es ihm abnehmen würde. Er sollte recht behalten.

    »Wir schauen uns mehr an! Wir werden sehen, was uns ausmacht!« forderte Faust.

    »Wie du wünschst…« Mephisto versuchte sich nun an einer unterwürfigen Geste und fasste Faust am Arm. Soweit, so gut, sagte er zu sich selbst. So hatte er sich das gedacht…

    2. KEIN PAKT, KEINE WETTE

    Als Faust die Augen wieder öffnete, befand er sich zusammen mit Mephisto in einem kleinen, hochgewölbten Zimmer. Die Wände waren dunkelrot, die Decke schwarz. Ein massiver Holztisch stand in der Mitte des Raumes, an den Wänden lehnten Regale, in denen aber kaum Bücher standen.

    »Wo sind wir hier?« fragte Faust. Wäre die Decke etwas höher, der Raum nicht so eng und Ausstattung mit Büchern und sonstigen Utensilien nicht so spärlich gewesen, hätte ihn der Raum an seine alte Studierstube erinnert, wo seine erste Begegnung mit dem teuflischen Verführer seinerzeit stattgefunden hatte. In Gestalt eines schwarzen Pudels, wohlgemerkt, dem dann, nach einem kurzen Zischen, Blitzen und Qualmen, diese groteske Figur mit den roten Lippen, den eckigen Augenbrauen und dem süffisanten Grinsen entsprungen war.

    »In meinem, man könnte sagen, Arbeitszimmer hier.« antwortete Mephisto.

    »Und wo ist hier

    »In Bor’gia’Dum, einem Ort, von dem Du gehört haben magst, den du momentan aber nicht weiter zu kennen brauchst.« Noch nicht…

    »Interessant…« Bor’gia’Dum, das war Faust schon ein Begriff. Es war der Name eines Ortes in der Alten Sprache, und bedeutete so etwas wie „Ort der verlorenen Seelen". Hier lag die Zwischenwelt. Faust war niemals zuvor hier gewesen.

    »Lass uns über unsere Reise sprechen.« meinte Mephisto und bot Faust ein tiefrotes Getränk an. Es roch nach einem guten Wein.

    Faust ergriff nach einem kurzen skeptischen Blick das runde Glas und stieß mit Mephisto an. Er wartete, bis dieser getrunken hatte.

    »Dein Zweifel ist unnütz und nicht sonderlich nett, mein Freund.« erklärte der Verführer nach einem genüsslichen Schluck. »Warum sollte ich dich vergiften wollen, gerade jetzt, wo unser Verhältnis sich wieder so freundschaftlich entwickelt?«

    »Träume weiter!« Faust musste lachen und winkte ab. Dann nahm auch er einen kräftigen Schluck. Es war tatsächlich ein guter Wein, er schmeckte Faust. Mit einem weiteren langen Zug leerte er das Glas und schenkte sich selber nach.

    »Und nun?«

    »Und nun«, begann Mephisto mit verheißungsvollem Tonfall, »sprechen wir über unsere Zukunft.«

    Faust lehnte sich zurück und erwartete den Vortrag seines Gegenübers. Mephisto hatte sich tatsächlich kaum verändert, entschied Faust. Selbstsicher und doch stets eine gewisse Untertänigkeit schauspielernd, verkaufte dieser Teufel sich als Gönner, als Diener, mit eigenen Zielen zwar, aber irgendwo treu. Sich selbst am meisten und seinem dunklen Herrn in den Tiefen der Hölle sicher auch, aber eine gewisse Verbundenheit zu Faust seit den langen Jahren ihrer letzten Fahrten konnte Mephisto nicht verheimlichen. Faust war fast erschrocken darüber, dass auch er nicht nur Abscheu für den dämonischen Verführer empfand, der lange Jahre an seiner Seite gestanden hatte, ihm aber viel Leid zugefügt und fast seine Seele genommen hätte.

    »Du hast nun gesehen, wo deine Ahnen herkommen, mein Freund.« fuhr Mephisto fort. »Und du hast gesehen, was trotz der Gunst eures… unseres Herrn aus ihnen wurde. Ein rohes Volk, bereit, den anderen aus Habgier, Sucht und Neid zu belügen und gar zu töten!«

    »Unsere Vorfahren wurden durch die Schlange verführt! Das war teuflisches, das war euer Werk!« hielt Faust gelassen dagegen.

    »Nun, vielleicht war es auch nur ein Test…?« Mephisto ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, obwohl die nächste Wand kaum drei Meter entfernt war. »Die Verführbarkeit ist nicht unser Werk, sie scheint in eurem Wesen begründet. Wir konnten und können nur erwecken, wo Potential bereits vorhanden ist! Hast du deinen Herrn nie gefragt…?«

    »Es kam mir nie in den Sinn…« Ein Test. Faust hatte gelogen. Dieser Gedanke ist ihm sehr wohl bekannt. Der Herr schien so einiges an dämonischem Wirken und auch Gestalten wie Mephisto zu tolerieren, um die Menschen zu versuchen. Das machte Sinn, denn verantwortlich für ihr Tun und ihr Handeln sind die Menschen selbst, nicht Gott. Und sie müssen sich seiner würdig erweisen.

    »Glaube, was du willst«, wandte Mephisto ein, »zumindest vorerst… Zurück zu uns beiden, mein alter Freund. Wollen wir unsere Fahrt durch die Geschichte der Menschheit fortsetzen? Wollen wir ergründen, was die Menschen antreibt, was sie bewegt, was sie formt? Wollen wir versuchen, zu verstehen, wohin sich die Menschheit bewegt, wohin die Menschen streben?«

    Ja, ja, ja,… dachte Faust. Er runzelte seine Stirn. Mephistos Angebot war in der Tat mehr als verlockend, es verlangte Faust, Antworten auf diese, ja auf seine Fragen zu erhalten. Dies waren seine Fragen. Vielleicht konnte er am Ende mehr für die Menschheit tun, wenn er noch mehr über ihren Weg in Erfahrung bringen konnte. Den Himmel hatte er bereits verlassen. Wenn er…

    »DU KANNST DEINEN WEG GEHEN, DOCH AM ENDE WIRST DU ZUR HÖLLE FAHREN.«

    Was war das gewesen? Eine tiefe, hallende Stimme, leise und wie aus weiter Ferne, aber scheinbar mitten in seinem Kopf. Wo war sie hergekommen? Hatte er sich das nur eingebildet? Aber die Stimme klang seltsam bekannt. Mephisto hatte nichts gesagt, sein Blick hatte sich nicht verändert, er schien es nicht bemerkt zu haben. Erst jetzt warf er Faust einen irritierten Blick zu.

    »Faust? Alles in Ordnung? Warum schweigst du so lang?« Mephisto musterte Faust, der ihn fragend anblickte. Hatte dieser selbstsichere, strebsame Mann mit den großen Augen, dem runden Kinn, den welligen grauen Harren und dem langem grauen Mantel immer noch Zweifel an seinen Absichten? War Fausts Zögern vielleicht in seinem Auftreten, in seiner vorschnellen Argumentation begründet? Mephisto wartete.

    Nach einem weiteren Moment des Schweigens sagte Faust: »Nochmals…: Kein Pakt, keine Wette! Ich bin dir zu nichts verpflichtet, du bist mir zu nichts verpflichtet! Es ist und bleibt eine reine Absprache unter Weggefährten, und unsere Reise endet, wenn ich es will!«

    »Kein Pakt, keine Wette!« erklärte Mephisto, »Und sorge dich nicht: Deine Seele ist für mich nicht mehr von Interesse, auch ich bin gewachsen und habe gelernt! Außerdem lässt du dich nicht verführen, wie ich erkannt habe. Nur reisen und lernen will ich, gemeinsam mit dir! Du willst doch wieder zu den Menschen! Nun, die Gegenwart der Erde schreibt nun, wie du weißt, bereits das 21. Jahrhundert in der Zeitrechnung der Menschen. Dorthin entlasse ich dich, sobald du willst!«

    »Lass mir ein paar Minuten, Mephisto.« sagte Faust, »Ich will mich noch einmal bedenken. Dann wirst du deine Antwort bekommen.«

    »Gerne, mein Freund. Eile haben wir keine. Ich lasse dich nun allein!«

    Mit einer fast unterwürfigen Geste verabschiedete sich der Verführer und verließ das Zimmer durch eine große hölzerne Tür.

    3. EINE VISION UND IHR PREIS

    Faust stand allein in dem hochgewölbten Zimmer. Einige Kerzen brannten. Ihre Flammen flackerten ruhig und rhythmisch und tauchten das Zimmer in ein behagliches, aber dennoch fremd wirkendes Licht. Faust begann, in dem kleinen Raum entlang der Regale auf und ab zu gehen. Er sprach in Gedanken versunken zu sich selbst.

    »Hab’ ich doch nun Jahre und Jahrzehnte auf Erden verbracht, bin durch die Welt gereist, habe mich verliebt, habe Liebe verloren, bin gestürzt und aufgestanden, habe Freude erlebt und viel Schmerz, Pein und Trauer, habe Hoffnung gesehen und erlebt, und viel, viel Leid. Und für vieles Leid war ich verantwortlich. Valentin, Gretchen Bruder, starb durch meine Hand, und andere folgten, wenn nicht durch meine Hand, so doch zumindest durch die Folgen meines Weges.

    Aber warte, Mephistopheles, der Höhlenknecht, er war Schuld an meiner ganzen Misere, und er bleibt’s! Er hat mich verleitet, hat mich auf die Reise gebracht, hat meine Hand geführt, hat mein Tun bestimmt…

    Oder? Halte ein, Faust, besinne dich! Nicht Mephisto ist an allem Schuld. Du selbst hast seinerzeit mit ihm gewettet. Du hättest ihm Einhalt gebieten müssen, hättest ihn fortschicken können, hättest dich von ihm trennen sollen. Aber du tatest es nicht. Insgeheim hast du trotz aller Skepsis darauf gehofft, von ihm oder durch ihn Erlösung zu erhalten, zu dem zu gelangen, wonach es dir verlangte. Du hast nicht mit ihm paktiert, du hättest nicht bei ihm bleiben müssen! Aber du tatest es. Weil dich der Drang gepackt hat, mehr zu sehen, weil dich der Durst nach Wissen und Erkenntnis und Verwirklichung trieb. Wie weit hättest du gehen dürfen? Du hast viel Frevel begangen, und dennoch hat der Herr dich erlöst. Wie dankst du es ihm? Indem du dein kleines Herz nicht unter Kontrolle hast, und wieder einmal, auf ein neues, vor Tatendrang und Wirkungswille überschäumend, dem Verführer folgst. Auch diesmal hat dich niemand gezwungen. Oh Faust, was tust du nur.

    Aber warte…

    Habe nun, ach, doch auch im Himmel Jahre und Jahrzehnte verbracht, und nur am Anfang war’n sie glücklich. Oder? Die Ruhe und die Entspannung nach meinem harten Leben voller Wechselbäder der Gefühle haben mir gut getan, keine Frage! Die Erkenntnis der göttlichen Existenz, das Gefühl zur Nähe des Wesens der Schöpfung haben mir viel gegeben.

    Oh Faust, erstmals hattest du Ruhe finden können, hattest das Himmelreich erblickt und von Angesicht zu Angesicht dem Allerhöchsten gegenüber gestanden.

    Wie viel mehr kannst du erstreben?

    Doch ist es dieses, ja, göttliche Streben in meiner Brust, das mich noch immer antreibt, diese schöpferische Kraft in meinem Herzen, die mich und mein Denken noch immer bestimmt. Denn diese schöpferische Kraft ist Teil von allem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Nicht länger treibt allein das Verlangen nach höchster Erkenntnis mich an, es ist weitaus mehr, das habe ich längst schon erkannt. Am Abend meines irdischen Todes, als wir ganze Landstriche erschufen, habe ich es zum ersten mal gespürt, den Drang, durch eigene Taten und eigenes Wirken großes zu schaffen, dauerhaftes, und für die Menschheit wichtiges! Ja, das ist es!

    Nichts wertvolleres kann es für einen Menschen geben, als gemeinsam mit anderen immerwährendes zu schaffen!

    Ich kann nicht länger untätig sein, nein, ich kann es nicht. Möge der Herr mir verzeihen! Aber ich kann es einfach nicht. Ich muss wissen, wohin die Menschheit sich bewegt. Noch liegt ihr Weg für mich im Dunkeln, ist ihr Ziel für mich ein Geheimnis. Werden letztlich alle Menschen zu den himmlischen Gefilden streben, oder wird die Menschheit eines Tages untergehen? Ich weiß es nicht, ich muss es wissen, es ergründen. Mephisto soll mir helfen, mir die Geschichte der Menschheit zeigen! Ich werde ihn begleiten, diesen kleinen Teufel und Verneiner, und ihm beweisen, was uns Menschen ausmacht! Und dann kehre ich zurück auf die Erde der Gegenwart, und mit meinem gesammelten Wissen werde ich Seite an Seite mit den Menschen die Zukunft formen, auf dass sie für alle das beste sei!«

    Faust hatte seine Hand weit geöffnet zur Decke des hoch gewölbten Zimmers gestreckt. Dann legte er sich die Hand auf die Brust, ballte sie zur Faust und blickte zur Tür.

    »Mephisto!« rief er, »Wo bleibst du? Lass und aufbrechen! Wir wollen die Geschichte der Menschheit erkunden!«

    Kurz bevor die Tür sich öffnete und Mephisto den Raum betrat, vernahm Faust wieder diese tiefe, hallende Stimme, die sprach:

    »DU KANNST DEINEN WEG GEHEN, DOCH AM ENDE WIRST DU ZUR HÖLLE FAHREN.«

    Wieder wusste Faust nicht, woher sie kam. Doch glaubte er diesmal, die Stimme zu erkennen. Mephisto gegenüber, der mit erwartungsvoller Miene breit grinsend ins Zimmer stolzierte, ließ er sich nichts anmerken. Und doch war sein eben noch so starker Enthusiasmus einem kurzen Moment der Skepsis gewichen. So interessant der Weg der Menschheit war – wohin bewegte sich Faust selbst? War er auf dem Weg vom Himmel durch die Welt zur Hölle? Faust wusste es nicht. Aber wenn das der Preis war, würde er ihn zahlen. Es gab keinen anderen Weg für ihn als den seinen, den er als richtig erachtete. Er würde wachsam sein und aufpassen. Die Hölle würde ihn nicht bekommen, schließlich musste er den Menschen helfen, musste er dabei sein, wenn die Zukunft der Welt geformt werden sollte.

    »Du hast dich also entschieden?« fragte Mephisto siegessicher.

    4. HIMMEL UND ERDE

    Der Vatikan. Seit Jahrhunderten beherbergten seine imposanten Mauern und Gebäude inmitten der Straßenzüge Roms das Zentrum der Macht des katholischen Christentums. Seine erhabene Architektur, sein künstlerischer Glanz verliehen ihm seit jeher jene würdevolle und mächtige Ausstrahlung, nach der die Menschen sich so oft sehnten. Hier lag das Zentrum einer der größten und einflussreichsten Weltreligionen. Hier vereinten sich Glaube und Politik.

    Kardinal Lassinger wusste um die politischen Anteile seiner religiösen Macht. Er hatte sie nie gemocht. Lassinger war ein Mann des Glaubens, nicht der Politik. Und doch, so wusste er, konnte man ohne den politischen Faktor kaum etwas erreichen in dieser Welt. Aber man konnte ihn sich auch zu Nutze machen. Dies wusste Lassinger auch.

    Nachdenklich ließ er seine Blicke über die eleganten Deckenmalereien und die alten, hohen Säulen schweifen, als er langsam den breiten Gang zu den hinteren Gärten entlang schritt. Lassinger war alter Mann, der sich seit Jahrzehnten den Diensten der Kirche und des Heiligen Stuhls verschrieben hatte. Die grauen Haare und die Furchen in seinem Gesicht ließen sein Alter erkennen. Sein klarer Blick und seine leicht gebeugte, aber feste Haltung verrieten jedoch seine Stärke und seine Zielstrebigkeit. Im Vatikan hielt Lassinger eine Menge Fäden in der Hand. Als neuester Vorsitzender der Glaubenskongregation und Vertrauter des Papstes besaß er mehr Macht als die meisten anderen Kardinäle. Und das war gut so, wie er sich selbst immer wieder sagte. Heutzutage brauchte die Kirche in der ganzen Welt Orientierung. Die letzte Hochzeit der Kirche, die Ära der großen Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI., war vorüber. Sie hatten der Welt eine starke, gefestigte Kirche hinterlassen, weltoffen und gleichzeitig sich ihrer Wurzeln besinnend. Sie hatten den Menschen, die sie annahmen, Halt und Kraft gegeben.

    Der jetzige Heilige Vater, Pius Innozenz der I., war ein liebevoller, gutmütiger, kompromissbereiter Papst – doch fehlte ihm die Stärke seiner Vorgänger. Pius Innozenz, ein ehemaliger Kardinal aus Südafrika, wollte stets nur das beste für die Kirche und die Welt, doch die Bürde seines Amtes schien ihn manchmal zu erdrücken. Er wollte immer allen alles geben, und verpasste so die Gelegenheit, sich selbst und seine Gedanken und Vorstellungen wirklich in sein Amt einzubringen.

    Hätte er öfter meinen Rat befolgt, dachte Lassinger oft im Geheimen, stünden wir heute besser da. In vielen Ländern keimten Rufe nach mehr Autarkie und Reformen der Landeskirchen auf – Lassinger missfiel diese Entwicklung, da sie Rom die Zügel aus der Hand nahm. Reformen waren oftmals nötig, aber sie mussten der Zeit und dem sinnvollsten – und vor allem gemeinsamen – Kurs entsprechen. Sie nützten nichts, wenn sie von übereifrigen Jünglingen an den Peripherien der Kirche aus Ungeduld durchgesetzt wurden. Zu viele verschiedene Wege, zu wenige Gespräche, zu viel Kurzsichtigkeit, all dies ließ viele Menschen ihr Vertrauen in die Kirche verlieren, weil die Kirche nur dann Stärke ausstrahlen konnte, wenn sie einig und mit einer Stimme auftrat. In vielen Ländern wurde die Gutmütigkeit des Papstes aus Südamerika recht schamlos ausgenutzt, empfand Lassinger. Er hatte ihnen in so manchen Fragen und Wünschen nach Modernisierung und Restrukturierung den sprichwörtlichen kleinen Finger gereicht – und sie hatten gleich die ganze Hand an sich gerissen. Viele Entscheidungen, die kurzfristig vermeintlichen Jubel ausgelöst hatten, sorgten nun dafür, dass die Kirche aufgrund ihrer uneinheitlichen Haltung von vielen Menschen mit Argwohn und Lächeln betrachtet wurde. Es war nicht derart schlimm, dass sich die Anzahl an stetigen Kritikern oder Austritten immens erhöht hätte, aber man trat kirchlichen Themen und ihrer Diskussion zu oft nicht mehr mit der gebührenden Ernsthaftigkeit entgegen, und zu viel Gewicht hatte das Wort der Kirche in öffentlichen und politischen Fragen verloren. Soweit hätte es nicht kommen müssen. Oder dürfen? fragte Lassinger sich oft. Welch religiöses und weltliches Ansehen, welch politischen Einfluss hatte die Kirche unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. gewonnen und gehalten? Welch mächtige und ehrbare Stellung hatten diese beiden Männer der Kirche etabliert?

    Und unter Pius Innozenz war all dies verschenkt worden, zum Preis nicht enden wollender Zugeständnisse und Kompromisse, die stets selten mehr waren als ein kleinster gemeinsamer Nenner. Lassinger war traurig über diese Entwicklung. Er sah den Stern der Kirche sinken, und das in einer Zeit, in der die Menschen angesichts korrupter Politik und teils maroder Gesellschaften so sehr einen zusätzlichen Halt benötigten.

    Insgeheim hatte Lassinger das ein oder andere mal daran gedacht, seine Posten aufzugeben. Aber, so hatte er sich immer wieder gesagt, wenn du etwas bewegen kannst, dann hier. Und diese schwierigen Zeiten, vielleicht waren sie seine Prüfung.

    Denn seit einer Woche gab es noch ein Problem: Papst Pius Innozenz war alt und schwach geworden und rang zudem mit einer seltenen Krankheit, die ihn oft ans Bett fesselte. Die Ärzte schätzten seinen Zustand bereits sehr kritisch ein, und seine körperliche Schwäche behinderte Pius Innozenz merklich bei so vielen Notwendigkeiten seiner Amtsausführung. Was Lassinger aber wirklich Sorgen bereitete, war der steigende Einfluss eines Kardinals namens Simplivius, der immer enger an der Seite des schwachen Pius Innozenz agierte, ohne dass jemand eingriff. Simplivius war schon lange ein Gegenspieler Lassingers. Seit langem bereits an den korrupten Seiten der weltlichen Politik interessiert, hatte er den Weg in die heiligen Hallen erst vor wenigen Monaten gefunden. Der zwielichtige Lebemann hatte viele Freunde. Lassinger schreckte noch davor zurück, die Position des selbstgefälligen Kardinals offen anzugreifen. Er wusste, wie uneins die Kurie in der heutigen Zeit war, und wie destruktiv innere Streitereien auf solch hoher Ebene wirken mochten. Aber dies musste ohnehin warten, nun würde er sich erst anderen Dingen widmen.

    Der Kardinal erreichte des Ende des langen Ganges und trat durch ein verziertes Tor in einen der vatikanischen Gärten hinaus. Es war ein angenehmer Frühjahrstag. Der leichte, kühle Wind wehte sanft über das kurze Gras des Rasens. Die Sonne schien hell am Himmel durch vereinzelte weiße Wolken hindurch. Lassinger grüßte flüchtig zwei andere Mitglieder der Kurie, die ihm, vertieft in eine angestrengte Unterhaltung, entgegenkamen. Er hatte keine Zeit für Small Talk. Er hatte eine wichtige Verabredung einzuhalten.

    Der aus breiten Steinplatten bestehende Weg führte Lassinger durch eine schmale Allee aus Büschen und Bäumen zu einer kleinen Kapelle, die am Rande dieses Teils der vatikanischen Gärten in einer wind- und sichtgeschützten Senke lag. Außer ihm und wenigen anderen Menschen war der kleine, fensterlose Bau jedermann verschlossen. Seit Jahrhunderten waren stets nur wenige Eingeweihte über die Geheimnisse dieses Ortes informiert. Einige weiße und rosafarbene Blüten aus den ringsherum wachsenden Sträuchern rieselten langsam und lautlos zu Boden, während Lassinger sich mit bedächtigen Schritten und gesenktem Haupt der Tür der Kapelle näherte. Es war eine schmale, hohe Eisentür. Sie verfügte über keine Klinke, keinen Hebel, keinen Griff, und kein Schlüsselloch. Alte Verzierungen ließen Bildnisse von Maria erkennen, die den Sohn Gottes in ihren Armen hielt, und von zwei Engeln, die über ihr schwebten und ehrfürchtig auf sie herabsahen. Lassinger trat ganz nah an die Tür heran, legte seine rechte Hand auf das kühle Eisen und schloss die Augen. Dann flüsterte er leise einige Worte in altem Latein, die in ein Gebet mündeten. Er sprach eine ganze Zeit lang. Als er fertig war, ließ er von der Tür ab, faltete die Hände vor seinem Körper und hielt einen Moment lang inne. Nahezu geräuschlos öffnete sich plötzlich die schwere Tür und schwenkte nach innen. Lassinger öffnete seine Augen und betrat das Gemäuer. Als er sich sechs bis sieben Schritte in die Kapelle hineinbewegt hatte, schloss die Tür sich wie von selbst ohne jeden Laut. Lassinger blickte in das kaum beleuchtete Gewölbe im Innern der Kapelle. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Doch schon bald erhellte der Schein roter Kerzen an den Wänden den Raum und offenbarte den Blick auf einige mit feinen Schnitzereien versehene Holzbänke, einen eleganten, goldenen Altar und ein schlichtes, aber edel anmutendes Kruzifix. Ein dunkelbrauner Teppich führte von der Tür zum Altar. Bildnisse des Kreuzwegs und steinerne Heiligenstatuen zierten die Wände. Ein großes, altes Gemälde, eine Darstellung der Himmelfahrt Christi, bildete die Dekoration der tiefen, gewölbten Decke. In dem dämmrigen Licht waren nicht alle Details zu erkennen. Lassinger schritt langsam den Teppich entlang und kniete vor dem Altar nieder. Er schloss die Augen und wartete.

    Die Flammen der Kerzen an den Wänden begannen, wie durch einen leichten Windhauch angestoßen, zu flackern. Der Kardinal spürte einen sanften kühlen Luftzug an seinem Nacken und seinem Rücken. Die Schatten an den Wänden hörten schnell auf zu tanzen. Die Flammen der Kerzen hatten sich wieder beruhigt.

    »Bist du da?« fragte Lassinger mit ruhiger Stimme.

    »Ja. Ich bin hier.«

    Lassinger lächelte. Er öffnete die Augen, erhob sich und bemerkte dabei, dass der Raum hinter ihm heller zu leuchten schien als zuvor. Für ihn war dies jedoch schon seit langer Zeit nichts ungewöhnliches mehr. Er drehte sich um und hob die Hand zum Gruß.

    »Willkommen, Gabriel. Der Herr sei mir dir.«

    »Und mit deinem Geiste.« war die Antwort.

    Groß und von erhabener Statur, mit edlem Angesicht und kurzem blonden Haar, eleganter weißer Rüstung und einem bläulich schimmernden Umhang, so stand er vor dem altehrwürdigen Kardinal: Gabriel, einer der Erzengel, ein Gesandter des Himmels.

    Seit Jahrhunderten war es Brauch, dass Gabriel als einer der Erzengel die Vertretung Gottes auf Erden besuchte, auch wenn außer dem Papst selbst stets höchstens ein oder zwei enge Vertraute davon wussten. Seit Petrus wurde dieser Brauch gepflegt. Zwar war es oft in der Geschichte der Menschen vorgekommen, dass die Kirche auf Erden wenig dem Worte Gottes gefolgt war, und dann waren über lange Zeiten Gabriels Besuche ausgeblieben. Denn die Menschen waren letztlich für sich und ihre Welt selbst verantwortlich. Doch seit einigen Jahrzehnten waren wieder Ruhe und Vertrauen in das Verhältnis des Himmels und der Kirche eingekehrt. Und zu der Reihe derjenigen zu gehören, die Gabriel empfangen durften, machte Lassinger ebenso stolz wie seine Vorgänger. Seit vielen Jahren nun kannte er Gabriel und war ihm nunmehr eng verbunden. Und auch Gabriel spürte diese Verbindung der Freundschaft und der Vertrautheit.

    »Wie geht es dir, guter Freund?« fragte Gabriels ruhige, sanfte Stimme.

    »Ach, Gabriel… ich werde alt, weißt du? Ich spüre es, überall unter meiner Haut.« war die Antwort des leicht lächelnden Kardinals.

    »Alt?« gab Gabriel zurück. »Mein Freund, gemessen an mir bist du doch blutjung!«

    »Ja, wahrscheinlich. Aber das ist etwas anderes, oder?«

    »Zugegeben, ja.«

    Die beiden schmunzelten einen Moment. Dann hielt Lassinger inne und blickte Gabriel mit fragenden Augen an.

    »Was kann ich für dich tun? Deine Nachricht klang eilig, und unser nächstes Treffen wäre doch erst in ein paar Wochen gewesen.«

    »Es gibt Entwicklungen, die uns alle sehr beunruhigen.« antwortete Gabriel. »Entwicklungen, deren Bedeutung ich noch nicht vorausahnen kann.«

    Lassinger wurde hellhörig. Es schien dringend zu sein. Was war passiert?

    »Es geht um Faust.« fuhr Gabriel fort.

    Faust. Heinrich Faust. Lassinger kannte diesen Namen nur zu gut. Die Legende des Mannes, der diesen Namen trug, war bis heute fester Bestandteil des Kulturgutes der Welt. Faust war ein Mensch gewesen wie kein zweiter. Gebildeter und intelligenter als jeder andere vor ihm, strebsam zu höheren Zielen und Erkenntnissen emporblickend, vereinte er wie kein anderer das Wesen einer Menschheit in sich, die über jeden Rand hinausblicken wollte, um alles zu verstehen. Und gerade dieser eine Mensch war es gewesen, der sich dem Teufel verschrieben hatte, gar eine Verbindung mit dem verführerischen Mephistopheles eingegangen war, um in größter Verzweiflung seine Sucht nach Weltverständnis durch die weltlichen Gelüste zu ertränken. Fast hatte es ihn seine Seele gekostet. Doch letztlich, so sagt man, konnte er sich selbst erlösen, und wurde in den Himmel aufgenommen. Doch selbst dort, so hatte Gabriel es oft berichtet, war der Drang in diesem Mann, etwas zu bewegen, niemals ganz erloschen. Faust hatte dem Herren wohl stets viel bedeutet. Und Lassinger wusste, dass Fausts Geist und Wesen für die gesamte Menschheit von Bedeutung waren. Dieser Mann war der Inbegriff des endlos strebenden Menschen.

    Was nun vorging, schien tatsächlich von höchster Wichtigkeit zu sein.

    »Er hat den Himmel verlassen.« erklärte Gabriel weiter.

    »Was?« fragte Lassinger mit erregter Stimme. »Warum? Wo ist er jetzt? Ist er allein?«

    »Nein. Er ist fort, an Mephistopheles’ Seite.«

    »Das kann ich nicht glauben. Was in aller Welt kann ihn zu diesem Schritt bewegt haben?«

    »Wir wissen es nicht. Der Verführer hat den Himmel besucht, einfach so, wie es früher einmal öfters vorgekommen ist. Ich habe dir schon einmal erzählt, welch eigentümliches Verhältnis unser Herr zu diesem Schalk hat. Es gefällt ihm, ihn schalten und walten zu lassen, weil sein Tun die Menschen anregt, Reaktionen provoziert, die sie letztlich oft besser und größer werden lassen. Er versucht die Menschen, aber ihre Versuchung ist gleichwohl auch eine Prüfung, wie du weißt.« Gabriel ließ seine Blicke über das alte Deckengemälde schweifen, das vom Schein der Kerzen gerade genug beleuchtet wurde. »Wie dem auch sei, er fragte nach Faust, und sprach auch mit ihm. Der Herr hatte ihn gewähren lassen. Es wirkte nicht, als wenn Faust sonderlich begeistert von Mephistos Besuch war, der ihm so viele Jahre treuer Begleiter und größter Nemesis gleichermaßen war. Jedenfalls unternahmen die beiden einen Spaziergang, von dem sie nicht zurückkehrten. Das Himmelstor haben sie mit ungewissem Ziel passiert, soviel ist sicher.«

    »Glaubst du, Mephisto hat Faust entführt?«

    »Nein, niemals. Mephistopheles ist ein mächtiger Teufel, aber Fausts Geist zu fassen ist er nicht imstande. Nein, Faust muss ihm aus freiem Willen gefolgt sein, warum auch immer, wir wissen es nicht.«

    »Wie steht der Herr dazu?«

    »Er sagt, Faust müsse seinen Weg alleine gehen, wenn er dies wünsche, und ihn auch alleine finden. Auf Erden war er niemals glücklich und zufrieden, und selbst im Himmel war er dies bis zuletzt nicht. Er müsse tun, was er für richtig hält. Der Herr hat noch immer großes Vertrauen in Faust. Es heißt, selbst jetzt würde er noch zu ihm sprechen…«

    Lassinger war überrascht über diese Entwicklungen, deren Hintergründe er nicht zu erschließen vermochte. Er fragte Gabriel, was er jetzt tun wolle.

    »Am meisten…« entgegnete Gabriel langsam, »am meisten beunruhigt mich, dass ich nicht weiß, was Mephistopheles wirklich vorhat, was ihn antreibt, was seine Ziele sind. Friedfertige Gründe gab er vor, um sich mit Faust zu treffen, doch die nahm ich ihm von Anfang an nicht ab. Ich will in die Zwischenwelt reisen, und schauen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann. Ich will ergründen, was vor sich geht, denn dieser Zug Mephistos kam unerwartet und ohne offensichtlichen Anlass.«

    In die Zwischenwelt, dachte Lassinger. Er wusste von diesem Ort, ohne wirklich etwas über ihn zu wissen. Es handelte sich hierbei offenbar um eine seltsame Kaskade zwischen den Sphären der Erde, des Himmels und der Hölle, in denen sich verlorene und vergessene Seelen sammelten, die nicht bereit waren, nach dem Tod ihres menschlichen Körpers den vorgezeichneten Weg weiter zu gehen.

    »Ich verstehe, was du meinst.« Lassinger zog die grauen Augenbrauen etwas höher. »Wie kann ich dir helfen? Was kann ich von hier aus tun?«

    »Sei auf der Hut, mein Freund.« Gabriels blaue Augen blickten Lassinger aus dem edlen, anmutigen Gesicht sorgenvoll an. »Halte Ohren und Augen geöffnet. Gut möglich, dass Fausts Weggang aus dem Himmel kein einzelnes Ereignis war. Wenn mehr dahintersteckt, als momentan offensichtlich, müssen wir vorsichtig sein. Ich wollte einfach, dass du gewarnt und vorsichtig bist.«

    »Das bin ich. Mein Körper mag alt sein, mein Geist aber ist jung und wach.«

    »Ich weiß.« sagte Gabriel und lächelte. »Wo ist Römer?«, fragte er schließlich.

    Römer. Ernst Römer, der seinen Vornamen nie benutzte, weil er ihn nicht mochte. Er war ein enger Freund und Vertrauter Lassingers, ein ehrgeiziger, gottesfürchtiger, aber auch gnadenloser Mann, der für die Kirche dorthin ging, wo sie selbst nicht hingehen konnte.

    »Er erledigt etwas, soweit ich weiß. Er weiht mich nicht ein, und das ist meistens auch gut so, denn wie er das erreicht, was er erreicht, will ich gar nicht wissen. Aber er wird zur Stelle sein, wenn ich ihn brauche, hab’ keine Sorge.«

    »Gut. Dann lebe wohl, und bis bald, guter Freund.«

    »Bis bald, und sei auch du vorsichtig.« Lassinger bekreuzigte sich und schloss die Augen.

    Ein leiser Windhauch umströmte sein Gesicht, danach war es wieder ganz still. Als Lassinger die Augen wieder öffnete, war der Erzengel fort und der Raum wieder dunkler.

    5. DER FREMDE

    Der Fremde saß in einem schwarzen Geländewagen und fuhr durch die trockene, staubige Wüste. Die Straße führte irgendwo durchs Niemandsland von Kalifornien nach Texas und war unter all dem rotbraunen Sand kaum zu erkennen. Die Sonne brannte heiß und unbarmherzig auf die Gegend herab. Der Fremde schwitzte leicht in seinem schwarzen Hemd und der schwarzen Hose. Kleine Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn zwischen den sorgfältig gekämmten Haaren und der dunklen Sonnenbrille gebildet. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und seine braune Lederjacke über den Beifahrersitz gelegt. Darauf lag eine ausgefaltete Landkarte, auf die der Fremde bei seiner Fahrt hin und wieder einen Blick warf. Das, was unter all dem Sand und Staub zwischen den Kakteen und einzelnen Dornenbüschen den Namen Straße kaum mehr verdiente, führte schließlich über einen kleinen Hügel in ein flachere Ebene hinab, wo der Fremde in einigen Meilen Entfernung etwas erkannte, was vielleicht als Stadt bezeichnet werden könnte. Bei näherer Betrachtung war diese Klassifizierung für die unsystematische Ansammlung von flachen, weißen und braunen Holz-, Lehm- und Steinbauten aber mehr als geschmeichelt, entschied der Fremde. Er ließ den Wagen langsam in den Orten hineinrollen und passierte ein Ortsschild mit der Aufschrift „El Paso Jericho". Kurz dahinter bremste er und parkte das Fahrzeug. Dann stieg er aus, schloss die Wagentür und ließ seinen Blick über die wenig einladenden, baufälligen Häuser schweifen, durch die eine Art Hauptstraße zum anderen Ende des Ortes zu führen schien. Diese war zwar grob asphaltiert, aber ebenso mit sandigem Staub aus der umliegenden Wüste bedeckt. Der Fremde krempelte seine Ärmel herunter und zog seine braune Lederjacke über, um die in einem grauen Holster hinten an seinem Gürtel ruhende Waffe zu verbergen. Dann ging er mit langsamen Schritten in den Ort hinein. Hin und wieder wehte ein einzelner, abgerissener Dornenbusch über den heißen, staubigen Asphalt. Der Fremde kaute ein wenig auf einem Mundwinkel, während er die Straße, die Häuser und die wenigen Menschen betrachtete. Reges Treiben herrschte nicht grade in diesem Ort, dachte der Fremde. Er ging vorbei an einem Friseursalon, einem Hotel, einigen weiteren flachen Holzhäusern und etwas, das aus einer Baracke und einer Anhäufung Kanister bestand und scheinbar eine Tankstelle sein wollte. Ein kleiner Bus, der aussah, als würde er nur noch von wenigen Schrauben und dem rostroten Lack zusammengehalten, fuhr die Straße entlang aus dem Ort hinaus und wirbelte etwas Staub auf. Der Fremde betrachtete die vereinzelt anzutreffenden Menschen. Einige schienen ihrer Arbeit nachzugehen, andere saßen offenbar nur faulenzend in der Gegend herum, andere blieben stehen und versuchten scheinbar, den Fremden mit misstrauischen und drohenden Blicken zu strafen. Nur zwei junge Frauen, die Wäsche auf einer langen Leine aufhingen, lächelten ihm zaghaft zu.

    Warum musste seine Mission ihn in dieses Kaff am Ende der Welt führen, fragte sich der Fremde. Nun ja, entschied er, er hatte schon schlimmeres gesehen. Als er auf der anderen Straßenseite einen Saloon erblickte, stoppte der Fremde. Er las ein altes, verkratztes Schild mit der Aufschrift „Salvador" über der hölzernen Schwenktüre, die der Eingang sein sollte, und ging auf den Laden zu. Ein Geruchsgemisch aus Tabakqualm, Schweiß und abgestandenem, warmen Bier kam ihm bereits einige Meter vor dem Eingang entgegen.

    Der »Salvador« war ein heruntergekommener Saloon, ein Anlaufpunkt für Tagelöhner, Faulenzer und Ehemänner, die nach der Arbeit einem Whiskey den Vorzug vor ihrer Gattin gaben. An der Bar saßen einige bemitleidenswerte Gestalten und versuchten bereits zur Mittagszeit, ihre Probleme im Alkohol zu ertränken. Gegenüber der langen, alten Theke füllten einige Tische und Sitzgruppen den Rest des Raumes, der durch die dreckigen Fenster nur mit sehr gedämpftem Tageslicht beleuchtet wurde. Dort saßen einige Männer zusammen, spielten Karten, aßen eine aufgewärmte Suppe oder einen billigen Eintopf oder unterhielten sich einfach über Belanglosigkeiten ihres Lebens. Sie alle schauten auf, als die beiden kleinen Holztüren aufschwenkten und der Fremde mit langsamen Schritten den Saloon betrat. Ihre Blicke folgten dem gut gekleideten Mann, der sich an eine Ecke der Theke stellte und beim verdutzten Wirt ein Bier bestellte. Als dieser ihm das lauwarme Gebräu servierte, fragte der Fremde: »Sagt hier irgendwem der Name Ortega etwas?«

    Kaum jemand im Raum reagierte oder horchte auf. Nur der Wirt und ein dunkelhäutiger, schlecht rasierter Mann am anderen Ende der Bar schienen bei der Erwähnung dieses Namens hellhörig zu werden. Ihnen sagte der Name Ortega durchaus etwas, schloss der Fremde.

    »Nie gehört…« entgegnete der Wirt. Er begann, ein dreckiges Glas abzutrocknen, und versuchte, unauffällig zu dem ungewaschenen Kerl am anderen Ende der Bar herüberzugehen. Amateure, entschied der Fremde. Die ganze Sache fühlte sich schon genug wie ein schlechter Witz an.

    »Es holt uns ein, ich habe es dir gesagt!« flüsterte der Wirt aufgeregt.

    »Bleib ruhig!« zischte sein unrasiertes Gegenüber, das Pedro Volar hieß.

    »Der Typ fragt nach Ortega!« gab der Wirt zurück, »ich sage dir, es holt uns ein! Das war eine Nummer zu groß!«

    »Hey, wir haben es im Griff, OK?« sagte Volar energisch und drückte den Arm des Wirts auf Theke. »Was kann der Typ schon wollen? Er weiß nichts.«

    »Du hättest diese Waffen niemals an die Ortegas verkaufen dürfen!« Der Wirt ließ sich in seiner Unruhe nicht beirren. »Wer weiß, welche Sache dahinter steckt! Du kannst den Sheriff kaufen, klar, aber siehst du? Das garantiert dir nichts!«

    »Jetzt halt dein Maul!« sagte Volar. Er war deutlich lauter geworden.

    Amateure, nichts weiter. Das machte die Sache einfacher. Der Fremde war froh, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht noch länger in diesem Nest verweilen musste.

    »Du kennst also jemanden namens Ortega?« fragte der Fremde den ungepflegten Mann, der mit dem Wirt tuschelte.

    Volar drehte sich auf seinem Barhocker zu dem Fremden um und musterte ihn. Dann stand er auf und ging langsam auf ihn zu.

    »Wer sagt das?« Volar sprach mit arroganter, herablassender Stimme und fummelte an seinem Gürtel herum. »Und wer will das wissen? Wer bist du und wer schickt dich? Ich mag so was nicht.«

    Der Fremde blieb unbeeindruckt sitzen und nahm einen Schluck Bier.

    »Was ist jetzt?« machte Volar weiter, »willst du mir etwas unterstellen? Wen interessiert, wer dein Ortega ist? Und wen interessierst du?«

    Was für ein Affe, dachte der Fremde. Er stellte sein Bierglas ab und sagte:

    »Du redest zu viel.«

    »Was bitte?« fragte Pedro Volar verärgert und nervös.

    »War meine Frage so schwer? Wenn du nur halb soviel stinken würdest wie du quatschst, wäre uns allen geholfen.«

    »Du eitler Fatzke!« brüllte Volar, »dich puste ich von diesem Boden!«

    »Auf diesem Boden werde ich noch stehen, wenn du längst in einer Kiste liegst.« entgegnete der Fremde. Das war zu viel für Pedro Volar. Er holte aus und schickte seine Faust zu dem Fremden.

    Es gibt Momente im Leben, da kann man warten. Es gibt Momente im Leben, da kann man reden oder debattieren. Es gibt Momente im Leben, da steht man einfach auf und geht. Und dann gibt es Momente im Leben, in denen ein Mann sein gegenüber ohne Fragen niederstrecken muss.

    Der Fremde fing den Schlag mit der linken Hand ab und drehte seinem Gegner den Arm auf den Rücken. Erst dann stand er auf, schlug mit seiner rechten Faust in Volars Magen und schickte ihn mit einem gezielten Haken auf den schmutzigen Holzboden. Dann lehnte er sich wieder an die Bar und nahm einen weiteren Schluck Bier.

    Pedro Volar wischte sich etwas Blut von den Lippen und rappelte sich wieder auf.

    »Das kannst du mit mir nicht machen!« Er stellte sich hinter den Fremden.

    »Dann erzähl mir von Ortega.« sagte der Fremde ruhig und ohne sich umzudrehen.

    »Von wegen! Dich mach ich fertig!« Volar griff unter sein schweißnasses Hemd und fummelte an seinem Gürtel herum. Zum Vorschein kam eine rostige Waffe.

    Der Fremde schnellte herum und hatte ebenfalls eine Waffe in der Hand, schneller, als es jemand der Bobachter gesehen hatte. Er drückte ohne Zögern und mit anteilnahmslosem Gesicht ab. Drei mal betätigte er den Abzug.

    Die Patronen durchschlugen Pedro Volars Brustkorb und ließen roten Nebel gen Boden rieseln. Sein Körper wurde von der Wucht der ihn durchschlagenden Geschosse nach hinten geworfen und fiel in die schmutzigen Fensterscheiben der Bar, die seinem Gewicht mit einem lauten Klirren nachgaben und in große Scherben zersprangen.

    Die meisten der anderen Anwesenden schauten ungläubig zu dem Geschehen hinüber und bewegten sich nicht. Ein dünner Mann mit Glatze und einer schäbigen grünen Weste rannte kreischend heraus auf die Straße. Der Fremde schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Stattdessen drehte er sich zum Wirt um. Der hatte das Glas, welches er seit mehreren Minuten abgetrocknet hatte, fallengelassen.

    »Und nun«, sagte der Fremde mit ruhiger, aber fester Stimme, »machen wir einen kleinen Spaziergang und sprechen über Ortega.«

    Der Wirt nickte mit ängstlichem Gesicht.

    6. EVOLUTION

    Wie ein endloser Trichter voller bunter Farben, vereinzelten Blitzen und warmen Winden wirkte der Zeitstrudel, den Mephisto erschaffen hatte, auf Faust. Es war fast still, alle Geräusche waren nur sehr gedämpft zu hören. Wenn er sich anstrengte, konnte Faust durch den schimmernden Vorhang des Strudels Umrisse und wage Bilder erkennen, während Mephisto die Geschwindigkeit ihres Fluges bestimmte. Faust schaute über seine Schulter und erkannte weit hinter sich das donnernde Aufbäumen des Urknalls. Zu seiner rechten erblickte Faust nun weit entfernt karge Landschaften mit fremdartigen Pflanzen und Tieren. Einen Moment später spazierten riesige echsenartige Wesen über üppige Vegetation – die Dinosaurier. Dann folgte ein gewaltiger kreisrunder Schatten, und die Landschaft verbrannte in einer schier endlosen Feuerwand.

    »Bedauernswerte Kreaturen, nicht wahr?« sagte Mephisto, »so riesig und scheinbar unbesiegbar, und dann erschlägt sie ein einfacher Felsbrocken aus den Tiefen des Weltalls. Deprimierend, sollte man meinen, abgesehen von der Tatsache, dass viele von ihnen nur Gehirne in der Größe von Walnüssen hatten.«

    »Für die einen war’s Zufall, für die anderen ein Teil im großen Plan der Geschichte.« erklärte Faust. »Der Untergang dieser Spezies ermöglichte die Entwicklung neuer Lebewesen, und letztlich des Menschen.«

    »Ja ja, der Plan der Geschichte, der Plan der Schöpfung, der Plan eures Gottes… du hältst viel von ihm, nicht wahr? Aber es hat endlos gedauert, bis euereins diese Welt betreten hat.« gab Mephisto zurück »Das erste, was man nach euren Vorstellungen Leben nennen konnte, habe ich dir bereits gezeigt, und auch die ersten, nun, Menschen haben wir bereits als Kostprobe besucht. Aus dem Paradies verstoßen und zu Primitivlingen geworden, die sich selbst ermorden. Keine allzu positive Bilanz bislang, oder? Am Ende sind die Menschen vielleicht auch nur eine Episode der Geschichte, mein Freund, wie die Dinosaurier. Wer weiß?«

    »Aller Anfang ist schwer!« erwiderte Faust, während er Gegenden voll Staub und Sand auf der einen und ganze mit Eis bedeckte Kontinente auf der anderen Seite des Zeitstrudels erblickte. »Und Böses suchst und findest du scheinbar überall voller Freunde! Klar auch, es ist dein Element, werter Begleiter, und Menschen müssen sich anstrengen, um frei davon zu sein.«

    »Niemand ist frei davon!« lachte Mephisto, »deshalb haben wir es ja auch so leicht!«

    »Weißt du, was ich glaube? Das Böse ist ein Test für uns Menschen. Es treibt uns an. Wir machen Fehler, aber wir lernen aus ihnen!«

    »Du bist ein Idealist, Faust, und fast schon tust du mir leid. Die Menschheit ist lange nicht so gut, wie du denkst. Sie ist es nicht wert, dass man sie verteidigt, oder gar für sie kämpft.«

    »Wir werden ja sehen!«

    »Ja, richtig… wir werden sehen…!«

    Nach einer Weile erkannte Faust in den vorbeiziehenden Landschaften an einem kleinen Teich primitive Bauten aus Stein und Lehm. »Schau, Mephisto«, sagte er freudig, »das Zeitalter der Jäger und

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