Boko Haram: Die Flucht nach Lampedusa
Von Myriam Musaka
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Buchvorschau
Boko Haram - Myriam Musaka
1. Mein Dorf
Die Sonne brennt ohne Erbarmen. Ich klammere mich an dieses Stück Holz, was mich nun gefühlt seit Tagen am Leben erhält. Ich kann nicht schwimmen. Das auf und ab der Wellen lässt mich und meinen Freund immer wieder zwischen Tal und Gipfel schweben. Ich möchte meine Familie wiedersehen, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Meine Finger krallen sich wieder fester an die nasse und weiche Planke, die mich auf dem Wasser treiben lässt.
Die Hitze steigt mehr und mehr in meinen Kopf. Das salzige Wasser ätzt in meinen Augen. Ich schließe sie und fange an zu dösen. Bilder der Vergangenheit steigen in mir auf:
Ich wohnte in einem kleinen Dorf in Borno, Nigeria. Wir waren eine glückliche Familie. Mein Vater hatte die meisten Tiere im Dorf und so mussten wir täglich unsere Rinder und Ziegen über die Savanne Nordnigerias treiben, damit sie fraßen und uns versorgen konnten. Das war die Aufgabe meiner zwei kleinen Brüder: Tayo war für die Ziegen zuständig und Samuel für die Rinder.
Das Hüten der Ziegen war nicht so einfach, denn sie waren störrisch und wollten nicht immer dahin, wo Tayo sie hinführen wollte. Wenn es an einem Tag mal besonders schlimm war, beschwerte er sich abends bei Mutter und meinte am nächsten Tag sollte sich Samuel um die Ziegen kümmern. Das lehnte der natürlich stets ab, weil er der Größere war und damit auch für die größeren Tiere zuständig zu sein hatte. Unsere Mutter tröstete dann Tayo immer, dass er doch ein großer Junge sei und mit so ein paar widerspenstigen Ziegen wohl fertig werden würde. Das beruhigte ihn und machte ihn stolz. Am nächsten Tag zog er wieder los.
Er brachte die Ziegen in einen kleinen Wald in der Nähe unseres Dorfes. Dort ließ er sie laufen, damit sie sich unter den Bäumen das beste Gras suchen konnten. Tayo traf dort auch die anderen Hütejungen aus unserem Dorf. Sie saßen dann alle unter einem Baum und spielten Tik-Tak-Toe. Aber sie hatten natürlich kein Papier, sondern malten sich ihre Kästchen mit den Fingern in den Sand. Steine und Stöckchen waren die Figuren. Wer zuerst drei in einer Reihe hat, war der Sieger.
Nach einigen Stunden ging es wieder ins Dorf zurück. Alle Jungen verstreuten sich und schauten nach ihren Ziegen. Tajo und die anderen Jungen hatten eine große Verantwortung, denn Ziegen sind teuer und für die Familien sehr wichtig, damit sie in der kargen Landschaft überleben konnten. Denn was man selbst produzierte, brauchte man nicht auf dem Markt zu kaufen.
Meine Schwester und ich hatten die Aufgabe, meiner Mutter beim Zubereiten der Speisen zu helfen, das Stanzen der Hirse gehörte von klein an dazu. Wir hatten in der Nähe des Dorfes ein paar kleine Felder, auf der wir die Hirse anbauten, für uns selbst aber auch um sie auf dem Markt zu verkaufen.
Auch beim Waschen haben wir unserer Mutter geholfen. Dafür mussten wir von der Wasserstelle das nötige Wasser holen. Es gab Eimer, die wir uns auf den Kopf stellten. Die Wasserstelle lag etwas außerhalb des Dorfes, aber wir gingen diesen Weg jeden Tag. Der Weg zur Wasserstelle war nicht so schlimm, aber der Rückweg, wenn wir den schweren Eimer Wasser auf dem Kopf hatten, war in der sengenden Hitze sehr anstrengend.
An der Wasserstelle trafen sich Mädchen und Frauen aus dem Dorf und erzählten sich was es neues gab. So wurde das Warten bis wir an der Reihe waren, nie langweilig. Das Wasser kam bei uns nicht aus einem Brunnen, sondern aus einem Wasserhahn. Den hatte das Dorf schon vor einem Jahr installieren lassen, denn das war viel praktischer: Das Wasser war frisch und sauber.
Wenn wir Glück hatten, trafen wir an der Wasserstelle Osman. Osman war der Sohn des Bürgermeisters. Er hatte eine „Sharet" – das ist eine Karre mit zwei Rädern, vor die man einen Esel spannen kann. Wenn Osman da war, konnten wir unsere Eimer mit auf den Karren stellen. Aber wenn der Karren voller schwerer Wasserkanister war, liefen wir neben dem „Sharet" her, damit der Esel nicht noch mehr ziehen muss. Wenn es ihm nämlich nicht gefiel, blieb er einfach stehen und ging keinen Schritt mehr vorwärts und wir hatten dann Mühe ihn wieder in Trab zu bringen.
An einem Tag in der Woche – meist war es der Sonnabend – gab es ein besonderes Ereignis. Wenn wir unsere Arbeit erledigt hatten, konnten wir zum Dorfplatz gehen. Dort trafen sich dann alle Kinder des Dorfes und hörten Tante Belem und Onkel Uba zu. Die beiden sind Griots – Geschichtenerzähler. Sie erzählten uralte afrikanische Geschichten, brachten uns traditionelle Tänze bei und sangen mit uns alte Lieder. Das war immer der schönste Tag in der Woche, denn wir lachten fiel und unsere Gedanken folgten den Geschichten. Meist ging es um alte Zeiten, wo es in Afrika große Reiche mit Königen gab.
***
Einmal in der Woche war in Tokombere Markttag. Das war zu Fuß ungefähr zwei Stunden von unserem Dorf entfernt, aber mit dem „Sharet" ging es schneller. Meine Mutter nahm mich sehr oft mit auf den Markt, damit ich ihr beim Einkaufen und Tragen helfen konnte.
Markttag ist für alle in unserer Gegend ein wichtiger Tag. Aus dem gesamten Umkreis kommen die Menschen um etwas zu kaufen oder zu verkaufen. Mein Onkel ist Töpfer. Er ist der Bruder meiner Mutter und meist durften wir auf seiner „Scharet" mitfahren. An diesem Tag zogen meine Mutter und ich uns immer die schönsten Kleider an. Wir wollen heute einen Eimer mit Hirse verkaufen und mit dem Geld dann etwas Gemüse und Fisch einkaufen. Nicht weit von Tokombere fließt ein kleiner Fluss und so gibt es auf dem Markt immer auch Fischhändler, die ihre am Morgen gefangenen Fische auf dem Markt verkaufen. Meine Mutter prüft den Fisch immer sehr genau, ob er auch frisch ist und nicht schon älter. Dann wird gefeilscht. Der Händler sagt einen Preis und meine Mutter schlägt die Hände vor das Gesicht und klagt über die vielen Münder, die sie zu stopfen habe. Aber der Fischhändler kennt meine Mutter natürlich und weiß, dass sie etwas übertrieben hat. Aber sie einigen sich trotzdem auf einen Preis, den meine Mutter bereit ist zu zahlen. Das Handeln gehört bei uns in Afrika einfach immer dazu.
***
Mein Vater war Maurer und arbeitete in der Woche manchmal in Chibok oder noch weiter weg. Wir waren katholisch und mein Vater hatte auch in unserem Dorf die kleine Kirche gebaut. Am Sonntag kam ein Priester in unser Dorf und wir feierten mit vielen aus dem Dorf die heilige Messe.
Danach trafen sich alle auf dem Dorfplatz. In der Mitte stand eine Hütte, deren Pfeiler aus Tierköpfen geschnitzt waren. Das Strohdach schützte alle vor der sengenden Sonne. Der Dorfälteste und die Oberhäupter der Familien trafen sich dort, um alle wichtigen Angelegenheiten des Dorfes zu besprechen. Auch der Priester blieb am Montag noch einige Zeit da, um mit Rat zu helfen.
Die Jungen durften während dieser Zeit Fußball spielen. Mein Bruder Tayo war 10 Jahre und spielte sehr geschickt mit dem Ball. Sein Traum war es Fußballspieler zu werden und dann für unsere Nationalmannschaft zu spielen. Die Jungen hatten sich am Rande des Dorfes einen kleinen Platz abgesteckt. Die Tore waren aus Bananenstauden gebaut. Wenn Tajo am Sonntagabend nach Hause in unsere Hütte kam, war er immer sehr müde. Aber er war glücklich und erzählte von seinen Heldentaten auf dem Fußballplatz.
Wir Mädchen saßen herum und redeten oder flochten unsere Haare. Oder wie spielten verstecken. Am Sonntagnachmittag waren die Erwachsenen alle mit sich selbst beschäftigt, so dass es rund um die Hütten sehr leer war. Wir gingen aber nie in andere Hütten hinein. Das tat man nicht.
Wir hatten ein schönes Leben. Mein Vater verdiente durch seine Arbeit immer etwas Geld, so dass es uns eigentlich sehr gut ging. Wir hatten stets zu essen.
An einem Sonntagabend kam er vom Rat der Männer im