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Kurzenberg No 2: Heimat im Herzen
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eBook293 Seiten3 Stunden

Kurzenberg No 2: Heimat im Herzen

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Über dieses E-Book

Die Zeitreise geht weiter. Meine Mutter Christine berichtet von Demütigungen und Drangsal durch die Tschechen, die sogleich nach dem Kriegsende 1945 ihr Heimatdorf 'übernommen' hatten. Zwar gab es für sie seit dem Kriegsausbruch schon keine unbeschwerte Jugendzeit mehr, nun aber wurde die Bedrohung immer massiver. Einen Teil der Dorfbevölkerung wies man sofort aus, die anderen Bewohner, wie Christines Familie, mussten noch ausharren, um die Landwirtschaften zu versorgen. Es war die Zeit der Willkür! Im Juli 1946 kam dann auch für die verbliebenen deutschen Dorfbewohner der Tag des endgültigen Abschieds von der Heimat. Im Sommer des Jahres wurde es für die Heimatvertriebenen schwierig, Quartier innerhalb Deutschlands zu finden. Der Grund lag in der Überbelegung der Flüchtlingsunterkünfte. Die meisten Kommunen der sowjetischen Besatzungszone wollten oder konnten die vertriebenen Sudetendeutschen nicht aufnehmen. Letzten Endes verteilte man die Leute auf verschiedene Gemeinden an der vorpommerschen Ostseeküste. So gelangte Christines Familie nach Lubmin.
Das Dorf Lubmin, Seebad am Greifswalder Bodden wiederum gehört nun zur Heimatregion ihres späteren Ehemannes. Mein Vater Otto geriet wenige Tage nach der deutschen Kapitulation in russische Gefangenschaft. Es gelang ihm nicht rechtzeitig und vor allem nicht unbemerkt, die Insel Rügen zu verlassen. Er erzählt uns, unter welchen unwürdigen Bedingungen er die ersten Jahre der Kriegsgefangenschaft erlebte. Überlebte, wäre in diesem Fall der präzisere Ausdruck, denn Mangelernährung, schlechte medizinische Versorgung und Gewaltanwendung machten den Häftlingen der Leben verdammt schwer. Andererseits erfuhr Otto in der schwierigen Zeit viel Kameradschaft, selbst von Seiten der Sowjets. Im Frühjahr 1949 entließen die Russen ihn aus dem Kriegsgefangenenlager im ostpreußischen Königsberg.
Nur wenige Tage nach seiner Heimkehr lernten sich meine Eltern kennen. In Gesprächsform berichten beide davon, unter welchen großen Herausforderungen sie den eigenen Hausstand und die Familie gründeten. Sehr schnell wurde klar, dass das DDR-Regime mit unlauteren Methoden arbeitete. Sie registrierten die Enteignungen der 'Aktion Rose' 1953, die Niederschlagung des Volksaufstandes vom 17. Juni des gleichen Jahres und das Wahlsystem, das eigentlich dem Bürger keine Wahlmöglichkeit ließ. All die Einschränkungen und Gängelungen ertrugen Christine und Otto. Erst in jenem Moment, in dem die persönliche Freiheit bedroht wurde, verließen die Eltern zusammen mit uns vier Kindern 1955 die DDR in Richtung Westen. Selbst so viele Jahrzehnte später ist das Thema Republikflucht mit großen Emotionen verbunden.
So berichten Mutter und Vater als Zeitzeugen von den Auswirkungen der Teilung auf Bürger und Staatswesen. Ihr Leben in den beiden deutschen Staaten schildern sie genauso wie ihre Flucht nach West-Berlin und ihren Alltag in den Flüchtlingslagern. Die Zeit des Ankommens in Westdeutschland war überschattet von ihrer Trauer um die abermals verlorene Heimat.
SpracheDeutsch
Herausgeberwinterwork
Erscheinungsdatum20. Apr. 2016
ISBN9783960141198
Kurzenberg No 2: Heimat im Herzen

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    Buchvorschau

    Kurzenberg No 2 - Reingard Stein

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    Kurzenberg No 2 

    Reingard Stein 

    edition winterwork

    Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung. 

    Impressum

    Reingard Stein, »Kurzenberg No 2« 

    www.edition-winterwork.de 

    © 2016 edition winterwork 

    Alle Rechte vorbehalten. 

    Satz: edition winterwork 

    Druck und E-Book: winterwork Borsdorf 

    ISBN Print 978-3-96014-095-5 

    ISBN E-BOOK 978-3-96014-119-8

    Reingard Stein

    Kurzenberg № 2

    Heimat im Herzen

    missing image file Autoren-Porträt

    Reingard Stein

    Ich bin Jahrgang 1950, geboren in Lubmin an der vor- pommerschen Ostseeküste. Die aufregende Republikflucht aus der DDR im Jahr 1955 prägte meinen Werdegang. So wurde die Passion für spannende Momente und Abenteuerlust wohl schon im Kindesalter angelegt.

    Leseratte bin ich, seit ich lesen kann. Die Familie nannte mich »Bücherwurm«, für nichts und niemanden hatte ich Zeit, außer fürs Bücherlesen natürlich und fürs Geschichtenerzählen.

    Nach der Ausbildung zur Bankkauffrau folgte das

    Studium mit dem Abschluss zur Diplom-Betriebswirtin.

    Mein Ehemann Gerd und ich pflegen unsere kleinen Marotten und die Passion fürs Reisen entgegen dem Mainstream. Die Erlebnisse habe ich immer schon aufgeschrieben und so verbinde ich nun zwei Leidenschaften miteinander, Unterwegssein und Schreiben.

    Wir leben südlich von Hamburg und haben das Vergnügen, unsere Begeisterung für Literatur an Enkelkinder weiterzugeben.

    Danke Mutti und Papa

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    Der Blick von Giessdorf hinüber zur markanten Silhouette des Geltsch. Im Vordergrund der Baum, der als Symbol für die verlorene Heimat steht. 

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    Wald, Heide, Wind, Strand, Meer, das alles steht für 

    »Lubmin« 

    und so ist es in den Sand geschrieben! 

    BLICK ZURÜCK!

    Wilhelm Kurzenberg, mein Großvater war der Müller der Wassermühle von Lodmannshagen. Er verfasste eine handschriftliche Chronik, die ich zusammen mit Otto, seinem ältesten Sohn ergänzte. Denn leider blieben die Aufzeichnungen Wilhelms unvollendet. Aus den Erinnerungen heraus konnte mein Vater Otto die Geschichte der Wassermühle vervollständigen. Urkunden und Notizen aus dem Nachlass des Großvaters verwendete ich zur Abrundung des Themas. So entstand der erste Teil der Familienchronik, der den Untertitel trägt: ›Wassermühle von Lodmannshagen‹.

    Der Müller beschrieb das Leben an der vorpommer- schen Ostseeküste. Der gesamte Berichtszeitraum umfasst die Spanne vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wilhelm stellte den Familienverband vor und erzählte, wie es zum Kauf der uralten verfallenen Wassermühle kam. Die Mühlentechnik wurde sehr detailliert dargestellt, daran wird die Kurzenbergsche Affinität für Technik deutlich. Er ließ uns teilhaben an den Hoffnungen, die die Familie mit dem Mühlenprojekt verband und an den vielen Rückschlägen, die eingesteckt werden mussten.

    Der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen hinterließen Spuren im Familienleben. Diese Einflüsse bedeu-teten letzten Endes das finanzielle ›Aus‹ des Mühlenobjek- tes. Otto schilderte uns die einschneidenden Folgen, die die Zwangsversteigerung für die Familienmitglieder hatten. Er berichtet von dem zähen und vergeblichen Ringen um die Wiedererlangung der Eigentumsrechte an der Wassermühle. Der anschließende Niedergang erstreckte sich bis hinein in die Bausubstanz der Mühlengebäude, die seit 1932 nicht mehr Eigentum der Familie waren.

    Ab 1933 wurde der Einfluss der Nationalsozialisten auf die Einwohner Deutschlands immer deutlicher spürbar. Vater Otto Kurzenberg und meine Mutter Christine Hajek veranschaulichten diesen Zeitabschnitt im Gespräch mit mir. Die Eltern waren damals noch Kinder, und in sehr unterschiedlichen Regionen zu Hause. Alle Ereignisse sind selbstverständlich aus ihrer sehr persönlich gefärbten Sicht geschildert. Ich ließ die Geschichte der väterlichen und der mütterlichen Familie deshalb aus dieser ganz privat empfundenen Warte heraus erzählen.

    Die Organisation Hitlerjugend[1] beeindruckte Otto mit Geländespielen, Freizeitlagern und Uniformen. Seine Begeisterung für Technik wurde von den Nazis ungeniert ausgenutzt. Mitwirkende an einer heroischen Zeit zu sein, dieses höchste Ziel stellte man den Heranwachsenden in Aussicht. Der dahinterstehende Zweck wurde weder von ihm noch von den meisten anderen Jugendlichen erkannt. Den besorgten Eltern, die die perfide Absicht begriffen, unterstellte man Verkalkung und Unbelehrbarkeit. Diskreditierte sie gewissermaßen in den Augen ihrer Kinder. So nutze die NSDAP2[2] selbst noch die natürliche Entwicklungsphase der Pubertät aus, um die Jugendlichen ihren Eltern zu entfremden. Dem jungen Soldaten Otto dämmerte es im Kriegsverlauf allmählich, was mit dem Regime der Nazis los war.

    Der Fokus lag im ersten Teil der Chronik überwiegend auf der väterlichen Familie Kurzenberg. Meine müt- terlichen Vorfahren, die Hajeks und Hackers, hatten ihre Heimatregion nahe der Garnisonsstadt Leitmeritz in Nordböhmen, im Sudetenland. Die Lebensbänder der beiden Familienzweige verwoben sich erst 1949 miteinander. Insbesondere in den Zeiten der großen politischen Umbrüche kam bereits meine Mutter Christine für ihre Familie Hajek zu Wort. 1938 war so ein Jahr. Die Tschechoslowakische Republik erließ eine Mobilmachung, fühlte sich in ihrer Souveränität durch Deutschland bedroht. Die deutschsprachige Bevölkerung ignorierte mehrheitlich die Einberufungen zum Militär, obwohl das Bedrohungsszenario nicht aus der Luft gegriffen war. Letztendlich gelang den Nazis der Anschluss des Sudetenlandes ans Deutsche Reich und die Zerschlagung der tschechoslowakischen Republik. Meine Mutter Christine schilderte uns die Lage in ihrer Heimat zu jener Zeit. ›Heim ins Reich‹ wollten die deutschsprachigen Böhmen und Mährer und besiegelten damit 1938 ihr Schicksal. Nur ein paar Jahre später, beim Kriegsende, bekam die deutschstämmige Bevölkerung schon einen Eindruck davon, was ihnen an Leid und Bedrängnis bevorstehen wird. Weiterhin berichtete Christine darüber, wie sie im Sudetenland den Zweiten Weltkrieg erlebte, die Bomben fielen auf Aussig und die Rote Armee marschierte ein. Soweit die Schilderungen der Ereignisse von meinen Eltern bis hierher.

    Am 7. Januar 1947 verstarb der väterliche Großvater, der Chronist Wilhelm. Die Ära der Wassermühle im Familienbesitz war nun endgültig Geschichte geworden. Die von ihm verfassten Aufzeichnungen bedeuteten für mich sowohl Vorlage als auch Auftrag und Ansporn dafür, das Begonnene fortzusetzen. In der Familie umweht selbst heute noch das Thema ›Wassermühle‹ eine gewisse Melancholie.

    Doch jetzt richtet sich der Blick hauptsächlich auf die Geschicke der mütterlichen Ahnen, sowie meiner El- tern. Ganz bedeutungsvoll ist bei der Darstellung von Familiengeschichte die Komponente des Zeitgeistes. Der kann innerhalb weniger Jahrzehnte sehr stark variieren und ist für Nachgeborene manchmal schwer nachvollziehbar. Um ein bisschen Zeitgefühl einzufangen, verweise ich in Kurzform per Fußnoten auf geschichtliche Einflüsse oder Persönlichkeiten der jeweiligen Perioden. Wir, meine Eltern, Geschwister und ich waren zunächst in Vorpommern, am Greifswalder Bodden in Lubmin ansässig. Das änderte sich in der Folgezeit dramatisch, wie noch zu berichten sein wird.

    Mutter und Vater sind wiederum in bewährter Weise meine Interviewpartner. Dokumente, Aufzeichnungen und Fotos runden ihre Beschreibungen ab. Zahlreiche, ach was, unzählige Gespräche und Telefonate waren notwendig, um die Historie zu Papier zu bringen. Ich bedanke mich auf diesem Wege sehr herzlich für die Geduld der Eltern. Es war nicht immer einfach mit und für uns, manches Mal war ich so richtig penetrant. Ich weiß, aber, ihre Erzählungen sind die einzigen Quellen, die ich für den familiären Dokumentarbericht überhaupt noch anzapfen konnte. Deshalb bitte ich darum, mir meine Beharrlichkeit zu verzeihen. Es ist mir natürlich bewusst gewesen, dass die Gespräche ein sehr sensibles Thema berührten, den Verlust des Heimatlandes, verbunden mit Erniedrigung, Gewalt und Ohnmacht. Das darf man nicht vergessen.

    ›Heimat im Herzen‹ beschreibt hauptsächlich die Zeit seit dem Kriegsende 1945. Vertreibung, Kriegsgefangenschaft und Flucht sind die Hauptthemen. Viele Menschen der elterlichen Generation erlebten ähnliches. Da dieser Bereich der Familiengeschichte auch Teile meiner Biografie enthält, komme ich natürlich mit persönlichen Erläuterungen und Eindrücken zu Wort. Heute wohnen Christine und Otto, unsere Zeitzeugen, schon seit Jahrzehnten im niedersächsischen Oldenburg, ihrem neuen Zuhause.

    Unsere schwierige Reise in die Vergangenheit setzen wir nun also fort.

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    KURZENBERGS HEIMAT

    Das Seebad Lubmin an der Küste des Greifswalder Bod- dens, in Vorpommern, das ist mein Geburtsort und der meiner Geschwister. Nach dem Verlust der Wassermühle in Lodmannshagen, etwa 10 Kilometer von hier entfernt, verschlug es Vater Ottos Familie nach hierher. Wann und wie meine Eltern sich hier kennenlernten, wird noch thematisiert werden. Heimat war das Dorf nur für eine relativ kurze Zeitspanne, jedoch ist es immer der Sehnsuchtsort Muttis und Papas geblieben. Es bedeutete für sie den Neuanfang, sowohl für Christine nach der Irrfahrt durch das kriegszerstörte Deutschland als auch für Otto, nach den Jahren der Gefangenschaft.

    Fischerei, Landwirtschaft und Fremdenverkehr, über einen langen Zeitraum hinweg verdienten die Bewohner damit überwiegend ihren Lebensunterhalt. Die herrliche Küstenlandschaft bot allen Berufsgruppen die Möglichkeit des Broterwerbs. Die berufsmäßige Fischerei gehört inzwischen längst der Vergangenheit an, denn Lubmin besaß früher keinen eigenen Hafen für die Fischerboote. Die zog man einfach an Land, eine sehr mühsame Verrichtung! Ich habe damals in den 1970er Jahren selber für meine Oma direkt vom Boot grüne Heringe fürs Mittagessen eingekauft. Die fehlende Anlegestelle wird für das Ende der Fischerei des Ortes gesorgt haben. Andere Küstendörfer wie Freest hatten die Nase längst vorn.

    Mein Vater Otto liebte es, mit seinem Faltboot hinaus auf den Bodden zu fahren, um dort zu angeln. Hauptsächlich auf Hecht und Barsch. In unserer frühen Kindheit durften mein Bruder Roland und ich ihn bei den Paddeltouren manchmal begleiten. Wir waren ja noch sehr klein und haben wohl ab und zu auch Unsinn gemacht. Das duldete er nicht, wir mussten in dem Fall unter der Spritzdecke verschwinden. Jedenfalls haben die Kindheitserlebnisse meine Schwäche für Paddelboote gefördert. Immer, wenn ich in so ein schwankendes Faltboot einsteige, überkommt mich ein altvertrautes Gefühl.

    Als Boddengewässer bezeichnet man die flachen Randgewässer der Ostsee, die von den zerklüfteten Land- massen der Inseln und des Festlandes eingerahmt sind. Der Wasseraustausch der Buchten mit der offenen See wird durch diese Lage behindert. Auf diese Weise entstanden salzarme Küstengewässer, die der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt optimalen Lebensraum bieten. Die geschützte Lage suggeriert vielleicht eine Sicherheit, die es nicht gibt. Denn Sturmfluten können der Boddenlandschaft durchaus zusetzen. In der Vergangenheit wurden in Lubmin größere Strandteile weggerissen und das hohe Steilufer von den Fluten unterspült. So beschädigte 1995 eine Sturmflut die nagelneue Seebrücke des Ortes. Vor wenigen Jahren erlebte ich an der Boddenküste einen heftigen Sturm. Am Strand war der Aufenthalt unmöglich, denn der Sand wurde mit hoher Geschwindigkeit durch die Luft befördert und prallte schmerzhaft aufs Gesicht. Der heulende Wind, die rauschenden Bäume und die aufgewühlte See erzeugten wieder die Vertrautheit der Kinderjahre, die ich hier verbrachte.

    Was macht Lubmin aus, was ist an dem Seebad so charakteristisch? Ist es der unendlich lange feinsandige Strand? Sind es die Dünen, worin der Sanddorn wächst, das Kliff-Ufer, die Heide, die Promenade oder der Kiefernwald. Bis zum Küstensaum und in den Ort hinein erstreckt sich der Wald. Ein herrlich dörfliches Ortsbild, das hoffentlich nicht weiter durch Baumfällaktionen angetastet wird. Es ist die Komposition aus Wald, Heide, Strand und Meer, all dies bewirkt den unvergleichlichen Charme Lubmins. Der würzige Duft des Kiefernwaldes, die sandigen Wege und den Blick über den Bodden, wie haben die Eltern das alles vermisst.

    Der Waldcharakter ist hinreißend und die reetgedeckten Fischerhäuser umgeben von Bauerngärten machen die ursprüngliche Bestimmung des Dorfes deutlich. Urlauber, die Ruhe und Beschaulichkeit suchen, die finden sie hier. Seit über hundert Jahren wird Lubmin von Badegästen aufgesucht und der Tourismus ist aktuell ein wichtiger Wirtschaftszweig. Kleine Kinder können im Bereich des flach abfallenden Meeresgrundes relativ gefahrlos in der See baden und spielen. Es ist ein Seebad für die ganze Familie, die sportlich aktiv sein möchte. In den letzten Jahren gewann Kitesurfen zunehmend an Bedeutung.

    Wanderpfade durch die Heide und zum sagenumwobenen Teufelsstein, einem eiszeitlichen Findling, ergänzen das Freizeitangebot. Ausflüge zu den Hansestädten Greifswald und Stralsund, zu den Inseln Rügen und Usedom runden das Programm ab.

    Und da wären noch die Altlasten aus der DDR-Zeit. Die wunderschöne Lubminer Heide dezimierte man damals, um dort ein Kernkraftwerk nach sowjetischer Bauart zu errichten. Ein sehr problematisches, weil störanfälliges, gefährliches Unternehmen. Das Kühlwasser wurde obendrein in den Greifswalder Bodden geleitet. Das Atomkraftwerk wird derzeit zurückgebaut. Umweltschützer protestieren darüber hinaus gegen die industrielle Nutzung des Areals als Atommüllzwischenlager und gegen die Anlandestelle der Ostsee-Pipeline. Die Gasleitung aus Russland erreicht hier das deutsche Festland und hier befindet sich die Verteilerstelle auf andere Leitungssysteme. Die Verlegung der Rohrleitung von Russland bis Lubmin war ein gigantisches und stark umstrittenes Projekt. Eine Zeitlang gab es darüber hinaus noch Konzepte für ein Kohlekraftwerk, dagegen liefen Bürgerinitiativen Sturm. Die Pläne wurden offenbar verworfen. Es lohnt sich, zu kämpfen, macht es doch deutlich, man muss und darf sich nicht alles gefallen lassen. Alles, was sonst an Industrie schon da ist, ist ja schlimm und belastend genug. Von Usedom bis Greifswald, alle Branchen, die vom Tourismus leben, haben starke Bedenken gegen ein Kohlekraftwerk und andere industrielle Nutzungen in einer Ferienregion.

    Endlich besitzt Lubmin auch einen Hafen, am Auslaufkanal des Kraftwerkes entstand eine Marina. Eine sinnvolle Verwendung des ehemaligen Kühlwasserkanals und eine echte Bereicherung des touristischen Angebotes. Ich bin inzwischen ein paar Mal dorthin gewandert, immer am Strand entlang. In der Nähe des Sportboothafens befindet sich das Industrieareal, das verbaute Heideland ist leider für die Allgemeinheit verloren gegangen.

    Hinter dem Auslaufkanal beginnt der Struck, eine in den Bodden hineinragende Halbinsel, begrenzt durch den Peenestrom. Die Insel Usedom befindet sich am jenseitigen Ufer. Sämtliche zivile Anwohner mussten den Inselnorden in den neunzehnhundertdreißiger Jahren verlassen, damit die Nazis dort eine Heeresversuchsanstalt einrichten konnten. Später kam die Erprobungsstelle der Luftwaffe dazu. Diese Peenemünder Anlagen sind nun wiederum die Altlasten aus jener Periode. Otto berichtete mir, dass während der Nazizeit auch der Struck ein bewachter Teil der Erprobungsstelle der Luftwaffe war. Denn hier gingen oft die Trümmerteile der Objekte aus den Flugversuchen runter. Es seien dort damals Tafeln aufgestellt gewesen, die das Areal als Naturschutzgebiet auswiesen und dass Ausländern die Anwesenheit dort verboten sei. Über diese Schilder hatten sich die Jugendlichen gewundert, ›so ’n Blödsinn‹, haben sie sich gedacht. Gleichwohl eine knifflige Situation, denn der Aufenthalt auf dem Struck war weder erlaubt, noch untersagt. Andererseits patrouillierten dort Zollbeamte mit Hunden. Der Ort Freesendorf beim Struck wurde von den Nazis nicht geräumt. Die Bewohner durften bleiben, die Fischer des Dorfes erhielten allerdings eine Einweisung, wie sie sich den Wachhunden gegenüber zu verhalten hatten. Vielleicht gehörte das alles zur Tarnung, dass man die Einwohner vor Ort beließ, um dem Areal ein möglichst normales Erscheinungsbild zu verpassen. Das Fischerdorf existiert heute trotzdem nicht mehr, stattdessen steht dort das Kernkraftwerk Nord.

    Die Neugierde der Lubminer Jugendlichen war durch die Flugversuche geweckt worden. Auf Usedom geschah etwas, was man vor der Öffentlichkeit verbergen wollte. Einmal hörte man auf dem Festland eine gewaltige Detonation. Gerüchte machten die Runde, es sei bei Peenemünde ein Explosionskrater von der Größe eines dreistöckigen Hauses entstanden. Immer wieder fand man zerschellte Flugkörper auch auf dem Festland. Die abgestürzten Trümmerteile verbargen die Militärs schnell im Sand, wenn die sofortige Bergung nicht möglich war. Offenbar hat das Regime, haben die Wissenschaftler in Kauf genommen, dass es bei den Erprobungen auch zu Unfällen mit der Zivilbevölkerung kommen kann.

    Herumfliegendes, manchmal abstürzendes Fluggerät, das war ein Szenario, welches auf die jungen Kerle einen unwiderstehlichen Reiz ausübte. »Gehen wir mal zum Struck«, so forderte Ottos Freund Fritze ihn auf. Der Entdeckungsausflug führte über den zugefrorenen Bodden zur Halbinsel. Otto fuhr mit dem Fahrrad über Schnee und Eis und sein Kumpel hatte Schlittschuhe an den Füßen und ließ sich mitziehen. Auf dem Struck fanden sie Zielscheiben vor. Auf Stahlbetonpfeilern waren Schwedenstahlplatten[3] montiert, die Dellen durch Beschuss aufwiesen. Ganz

    geheuer war den Burschen dieser Besuch aber nicht.

    Mitten im Krieg, im August 1943 bombardierten britische Kampfflugzeuge Peenemünde. Die Angriffe rich- teten zwar große Schäden an, aber nicht dergestalt, dass der ganze Betrieb eingestellt werden musste. Die Nazis verlagerten daraufhin den Raketenbau unter Tage nach Thüringen und in dezentrale andere Standorte. Enorme menschliche Verluste waren durch den Luftschlag zu beklagen. Ausgerechnet die Schwächsten, die unfreiwilligen Bewohner der Region, die Zwangsarbeiter hatte es besonders hart getroffen. Die waren schutzlos dem Angriff ausgesetzt. Wer nicht dem Bombardement zum Opfer gefallen war, der wurde anschließend von britischen Tieffliegern erschossen, die die brennenden, ins Wasser fliehenden Personen niedermähten. Etliche leitende Wissenschaftler des Raketenprojektes kamen gleichfalls ums Leben. Otto berichtet, dass auch zivile Mitarbeiter, die aus Lubmin stammten, dabei starben. Die englische Luftwaffe war einem Irrtum aufgesessen, mangels ungenauer Ortskenntnis war es ihnen nicht gelungen, Peenemünde zu eliminieren.

    Die Heeresversuchsanstalt und die Erprobungsstelle der Luftwaffe hatten auf der Insel Usedom sehr viele verwertbare und kostbare Materialien verbaut. Nach dem Krieg mussten Bewohner der sowjetischen Besatzungszone, die zwangsrekrutiert wurden, die Metalle aus dem Erdreich der Insel Usedom bergen. Die Russen hatten alles Brauchbare vom Standort Peenemünde als Reparation nach Russland geschickt.

    Doch zurück in unsere Zeit. Den alten Bahnhof im Ortskern von Lubmin, den habe ich noch genau in meinen Kindheitserinnerungen. Das inzwischen schön restaurierte Gebäudeensemble beherbergt die Kurverwaltung und Gästeeinrichtungen. Heute stehen auf einem kleinen Gleisabschnitt neben dem Bahnhof zwei Waggons, die früher auf der Kleinbahnstrecke nach Lubmin gefahren sind. Mitglieder eines Vereins haben sich um die abenteuerliche Aufspürung, Rückführung und Restaurierung der Eisenbahnwagen aus Russland verdient gemacht. Es hat sich also einiges in die richtige Richtung entwickelt.

    Ganz in der Nähe des Bahnhofes, in Sichtweite, in der Neptunstraße wohnten die Kurzenbergs. Unzählige Erinnerungen hängen an der Region, die Eltern lernten sich in Lubmin kennen und gründeten Hausstand und Familie. Meine Kinderjahre verbrachte ich hier mit den Geschwistern. Doch dazu später mehr.

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    Lubmin heute, das alte Bahnhofsgebäude 

    LEBENSBÄNDER

    Die Familie meiner Mutter Christine Hajek, verheiratete Kurzenberg muss nun noch ausführlich vorgestellt werden. In Nordböhmen, im Sudetenland waren die meisten von ihnen ansässig. Die Reihe der männlichen Hajek-Ahnen stammt aus dem tschechischen Zahořan, einem Ort, südlich von Prag gelegen.

    Vaclav Hajek und Theresia Kohout sind die Stammeltern der Linie. Zu ihren Lebensdaten fehlen uns sämtliche Hinweise. Wir wissen nur, dass Vaclav zweimal verheiratet war und es sehr viele Kinder zu versorgen gab. Dies ist der rein tschechische Zweig in unserer Ahnenreihe. Die Namen Hajek und Kohout sind häufig vorkommende Familiennamen in der Region.

    Anton Josef Hajek, geboren 1864, mein Urgroßvater, verließ den großen elterlichen Haushalt. Hoferbe in Zahořan war er wohl nicht, denn sonst hätte er seine Hei-mat vermutlich niemals verlassen. Er kam eines Tages aus dem tschechischsprachigen ins deutschsprachige Gebiet.

    1893 heiratete er dort Maria Anna Rauch, geboren im Jahr 1861. Gemeinsam mit seiner deutschen Ehefrau legte er in Giessdorf den Hopfengarten an, ein kapitalintensives Unternehmen. Die Familie lebte von der Landwirtschaft, hauptsächlich vom Hopfenanbau.

    missing image file Die Urgroßmutter der Hajek-Familie

    Maria Anna Rauch, die Ehefrau von Anton Josef Hajek, leider besitzen wir kein Foto ihres Ehemannes

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    Die Urgroßeltern der Hacker-Familie

    Josef Hacker und Wilhelmine Totsche

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