In Sachen Störtebeker
Von Reingard Stein
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Über dieses E-Book
Hoch im Norden herrschten Fehden zu Land und zur See. Die dänische Herrscherin, »Schwarze Margarethe« genannt, stritt mit den Mecklenburger Herzögen um den Thron in Schweden. Nach Beilegung der politischen Konflikte zogen sich die für den Seekrieg angeheuerten Freibeuter an die friesischen Gestade zurück. Dies ist Ende des 14. Jahrhunderts das zeitliche und inhaltliche Fundament für die Legende des Klaus Störtebeker. Wahrlich unter den Segeln der Fantasie reist mein sagenumwobener Held Remmert Hackebiel durch die Epochen. Das Einfallstor öffneten ihm unbewusst Henning und der Fotograf Lars Bunjes. Solchergestalt entstand eine Crossover-Geschichte aus dem erweiterten Bereich »Fantasy«.
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Buchvorschau
In Sachen Störtebeker - Reingard Stein
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Impressum
Reingard Stein, » In Sachen Störtebeker«
www.edition-winterwork.de
© 2019 edition winterwork
Alle Rechte vorbehalten.
Satz: edition winterwork
Umschlag: Bea Stach, Berlin
Druck und E-Book: winterwork Borsdorf
www.autorin-reingard-stein.com
ISBN Print 978-3-96014-620-9
ISBN E-BOOK 978-3-96014-639-1
In Sachen Störtebeker
Reingard Stein
edition winterwork
S2.jpgIm Jahr 1950 wurde ich an der vorpommerschen Ostseeküste im Seebad Lubmin am Greifswalder Bodden geboren. Meine Wiege stand am Ostseestrand, aus diesem Grund sind mir die Geschichten rund um Klaus Störtebeker seit der Kindheit geläufig.
Das niedersächsische Oldenburg wurde mir späterhin zur Heimat. Einen Großteil meiner Schulzeit verbrachte ich dort, in unmittelbarer Nähe zu Ostfriesland. An der Nordseeküste hörte man schon wieder vom Störtebeker. So war es denn auch, dass während der Schulausflüge der Kirchturm zu Marienhafe, der ›Störtebeker-Turm‹ erklommen wurde. Garniert waren die Besuche stets mit den Geschichten, die sich dort zutrugen.
Nun da ich erwachsen bin, im Familienstand einer Großmutter, interessieren sich meine Enkel für ihn. Mögen sie die alten Geschichten wie diese in die Zukunft tragen.
Bild1.jpgBild2.jpgMUSEUMSWELT
DAS BEKENNTNIS
Schola Dei Ter Yle, Land der Friesen,
Nebelung im Jahre des Herrn 1417
Ehrwürdige Brüder in Christo, es geschahen gar merkwürdige Dinge zwischen Himmel und Erde. Nun, da ich ein alter Mann, ein Greis zumal, blicke ich hinterwärts. Zurück auf ein gar sündig Leben bestimmet vom Kampf um Macht und Gewinn. Die Gedanken, sie strömen rückwärts. Die Augen müde vom Spähen auf dem Meere, die Schritte schleppend, der Leib gebeugt von der Last unzähliger Jahre friste ich dahier meiner Tage. Dereinst, ich werde Sühne leisten müssen. Verehrte Zisterzienser-Brüder, Ihr gewährtet mir die Gnade der Zuflucht. Die heilige Mutter Kirche gebet mir Friede überdies Geborgenheit, nach einem Erdenleben angefüllt mit Schandtaten.
Die tätige Buße suche ich, solange der Herr mich lasset auf Erden wandeln. In Gestalt des Konversen widme ich mich dem Dienste Eures Klosters Schola Dei Ter Yle. Wir Laienbrüder üben die Liebe zum Nächsten. Befrieden die Küsten des Meeres sowie die Deiche, bauen Siele, bestellen die Äcker und weiden das Vieh. Meine Beschlagenheit zur See befähigte mich zur Führung der Arbeiten. Euch werte Brüder, die Ihr den ewigen Profess ablegtet, verbleibet ob der Stundengebete nicht genügend Zeit, all der Aufgaben Herr zu werden. Uns Laienbrüdern oblieget nicht im gleichen Maße Gebetspflichten und die volle Strenge der Zucht.
Das ›Friesische Meer‹ naget Winter für Winter, Jahr um Jahr an den Gestaden. Der ›Blanke Hans‹, die ungestümen Fluten, schlugen Breschen ins Land, raubten Menschenleben, Haus und Hof, Vieh und Habe. Die Friesen hingegen schufen Bollwerke, um die Macht des Meeres zu brechen. Vergebens! Unermessliche Schäden richteten die gewaltigen Sturmfluten an, wie die ›Grote Mandränke‹, zu Marcellus anno 1362. Neue Buchten formte die ›Westsee‹, Häfen entstanden, die See flutete bis an die sandigen Rücken der Geest.
Die gewählten Häuptlinge der friesischen Sieben Seelande, lagen gar oft in Fehde miteinander. Bekämpften einander bis aufs Blut, um der Macht willen, der Freiheit zuliebe, im Lande zwischen Weser und Zuidersee. Sie scheuten weder Tod noch Teufel! Diese Händel ließen die Kräfte der Friesen erlahmen, im Bestreben, den Stürmen, dem Meere tüchtig die Stirn zu bieten. Der Deichvogt gebot gar oft nicht auskömmlich genug über die Deichschau. Die Warften verwahrlosten, die Deiche fielen ungeschützt den Fluten zum Opfer.
Stolz sind die Friesen auf ihre Freiheit, kein Herr hat ihnen zu befehlen. Allein dem Kaiser schulden sie Gehorsam. ›Lever dood as Slaav‹! Nein, das Joch der Fremdherrschaft wollten sie nicht tragen, dann lieber sterben. Und dennoch, die Fehden sonder Zahl brachten sie um die Früchte ihrer Freiheit. Sie werden eines fernen Tages ihr hehres Privileg auf ewiglich zu Grabe tragen. Desgleichen rafften der ›Schwarze Tod‹ und Hungersnöte gar viel des Volks hinweg. Das Land ward leer. Kein Spaten ward geschwungen für lange Zeit, die Friesische See spülte ungehindert die fetten Marschböden hinfort. So handelten die Friesen fortwährend wider ihrer Privilegien und Pflichten. Das verbriefte Dokument eines Königs längst vergangener Tage, das der ›Friesischen Freiheit‹, verwahret der Abt im Kloster dahier. Der Tag ist nicht mehr fern, da die Urkunde ihr Recht verlieret.
Es erfüllet mich tiefer Schmerz, im Augustmond im Jahre des Herrn 1417 trug man den Hovedling Keno II. tom Brok zu Grabe. Ein gar schlimmes Fieber warf ihn auf sein Lager. Er schied friedlich von uns, trotzdem sein Leben Kampf war. Der Häuptling des Brookmerlands mehrte die Ländereien, strebte in Sonderheit nach gar hehren Zielen. Sein früher Tod machte sie zunichte. Die Großmutter, die alte Frau Foelke übet für Kenos unmündigen Sohn, Junker Ocko, die Vormundschaft aus.
Gevatter Tod hielt reiche Ernte dieser Tage. Gar manch trefflichen Mann sah ich in der Blüte seiner Jahre, vor seiner Zeit dahinfahren. Wie den Hovedling Widzeld, anno 1399 zu Detern durch meuchlerische Hand dahingemordet. Nun segnete dahier sein Bruder Keno tom Brok das Zeitliche. Gott sei seiner Seele gnädig.
Die Nebel steigen aus Marsch und Moor, legen ihre dichten grauen Schleier gleich Blei über Land und See. Die Zeit der schlimmen Sturmfluten ist gekommen, der Wintersnot. Die verehrten Laienbrüder sind gleich mir gerüstet, den Kampf mit dem Meere aufzunehmen. Wie es der unsrige Auftrag verlanget.
Dies, oh werte Brüder in Christo, vertraue ich dem Pergament an, auf dass das Angedenken auf lange Zeiten erhalten bleibe. Will Zeugnis ablegen vor aller Welt. So ich denn trage die Bürde der Verantwortung und die der Sühne für meine Taten. Wovon noch zu künden sein wird.
DAS ›ALTE MUSEUM‹
Mit einem furiosen Wetterchaos endete das Kalenderjahr 2009! Im Dezember kämpften extreme Großwetterlagen gegeneinander. Die warmen Luftmassen wurden zunehmend von Kaltfronten verdrängt, Stürme sowie kräftige Regen- und Schneefälle wechselten einander ab. Knüppeldicke Eispanzer bedeckten die Verkehrswege. Der heftige Wind türmte den losen Schnee zu Schanzen auf. Der Straßen- und Schienenverkehr wurde nachhaltig behindert. Kilometerlange Staus bauten sich auf. Die Hansestadt Hamburg und mit ihr ganz Norddeutschland versanken im winterlichen Schneetreiben.
In Gedanken vertieft bahnte sich Isolde den Weg durch Schnee und Eis, bis zu ihrem Arbeitsplatz im ›Alten Museum‹ in der Hamburger Neustadt. Ein Jahr, angefüllt mit kleinlichen Auseinandersetzungen, neigte sich dem Ende zu. Die Jahresrückschau stand an. Sie übernahm vor Jahresfrist die Aufgabe der Museumsdirektion, entgegen heftiger Widerstände aus dem Hause. War ihre Entscheidung weise zu nennen? Wäre sie diesen Schritt gegangen, wenn sie die Folgen geahnt hätte? Solche Überlegungen trieben sie in der Vergangenheit öfter um. Es knirschte an vielen Ecken. Was gab sie alles auf, das angestrebte Ziel zu erlangen. In ihrer Heimat Irland zum Beispiel? Was erhielt sie zurück? Nein, nein, sie erstrebte die Herausforderung, sie durfte nicht wie ein kleinlicher Buchhalter argumentieren. Zähne zusammenbeißen, das war ihre Devise.
Die Straßenverhältnisse zwangen viele Autofahrer dazu, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die mit Menschen vollgestopften Busse und Bahnen waren in diesen Zeiten die reinsten Brutstätten für Keime. Eine ausgeprägte Grippewelle rollte auf die Hansestadt zu. Die damit verbundenen Ausfälle brachten viele Unternehmen in personelle Bedrängnis.
Bleigraue Wolken ballten sich über dem Himmel der Hamburger Neustadt zusammen. Ein untrügliches Anzeichen für weitere Schneefälle sowie sinngemäß für das Stimmungstief im ›Alten Museum‹. Denn dort blieb man von der Krankheitsentwicklung genauso wenig verschont wie die restliche Stadt.
Kaum an ihrem Arbeitsplatz angekommen, nahm Isolde die ersten Krankmeldungen entgegen. Die Lage war extrem angespannt, das bereitete der Museumsdirektorin erhebliche Sorgen. Die vielen Ausfälle stellten die Öffnungszeiten des Museums infrage. An den Weihnachtsfeiertagen gelang es ihr noch, diese sicherzustellen. Jetzt vor dem Jahreswechsel wurde die Situation immer brisanter.
Im Direktionsbüro klingelte wiederholt das Telefon: »Oh my goodness«, sagte sie, »momentan nimmt das ja ein beängstigendes Ausmaß an.« Isolde legte den Apparat zurück auf die Station, ein weiterer Kollege fiel aus. Ihren gegenüber sitzenden Mitarbeiter informierte sie: »Die Ausfallquote beträgt zurzeit um die dreißig Prozent, wir müssen Maßnahmen ergreifen. Es wird noch schlimmer werden.«
Sie sah hinüber zu ihrem Stellvertreter, der mit unbeteiligtem Gesicht in einen Text vertieft schien.
»Konstantin?« Der reagierte nicht. Isolde hob die Stimme energisch an: »Herr Kayser! Wir brauchen Lösungen. Was schlägst du vor?« Der Angesprochene schwieg beharrlich, er ließ sie voll auflaufen. »Antwortest du mir freundlicherweise?«
»Wie bitte, was? Ich bin noch mit meiner Abhandlung befasst. Siehst du doch«, er blätterte aufgesetzt geschäftig in den Unterlagen. »Und – ich will jetzt nicht gestört werden.«
Isolde verdrehte genervt die Augen, sie kannte dieses Verhalten. Er ignorierte sie, legte ihr Steine in den Weg, wo er nur konnte. Wie kann ein Mensch derart gehässig sein? Ein erwachsener Mann. Ein Wissenschaftler. So kindisch.
»Schließ doch einfach das Museum, dann ist Ruhe«, murmelte er.
Oh Isolde hasste ihn für derartige Reaktionen, strafte ihn ihrerseits mit Schweigen ab.
Das war nicht die Art Kommunikation, wie sie sie momentan brauchte. Ersprießliche Zusammenarbeit sah anders aus. Ihr Mitarbeiter, ein äußerst schwieriger Mann. In erster Linie, wenn es darum ging, den Weisungen einer Frau zu folgen.
Fatalerweise ließ sich Isolde zum Beginn ihrer Beschäftigung auf das übliche Duzen ein. Einer ihrer Vorgänger hatte diese Praxis eingeführt. Sie bedauerte mittlerweile den Schritt, nachdem sie die drastische Auswirkung auf ihr neues Amt begriff. Seit sie die leitende Position bekleidete, litt die Beziehung zu ihrem schrulligen Stellvertreter Konstantin. Leider machte das ›per du sein‹ die aktuelle Lage nicht einfacher. Die nötige Distanz fehlte. Dabei formulierte sie ihre Direktiven mit Feingefühl.
Die Chefin stöhnte innerlich; was hatte sie sich da aufgeladen. Zeitweise zweifelte sie an sich, traf sie den richtigen Ton bei ihm? Er besaß auf dem Wissenschaftssektor unbestritten anerkannte Qualitäten.
Die Geschäftsführung hatte die Historikerin aus Irland für die reizvolle Aufgabe im Alten Museum gewinnen können. Nach einem Jahr der Einarbeitungszeit setzte man sie ihm stumpf vor die Nase. Konstantin ließ sie immer wieder sehr deutlich spüren, dass er mit ihrer Berufung auf den Direktionsposten nicht einverstanden war. Deshalb versagte er ihr seine Unterstützung. Und sie hatte gegenwärtig nicht die Nerven, mit ihm fruchtlose Debatten zu führen.
»Nicht mal aus den eigenen Reihen kommst du«, warf er ihr vor. »Ein klitzekleines Museum in Dublin hast du mal einige Zeit lang geleitet, das soll alles an Qualifikation sein?«, ätzte der Kollege, deutete ihr mit Daumen und Zeigefinger an, für wie klein er diese hielt. »Du schleimst dich hier bei uns ein, hast vorher ein bisschen im Hause hospitiert.« Der Aufbrausende redete sich in Rage.
Isolde war von der zermürbenden Dauerdiskussion genervt. »Ich kann doch auch nichts dafür, dass man dich nicht für die Direktionsstelle genommen hat. Nun komm mal wieder runter.«
Diese Bemerkung brachte Konstantin noch mehr auf die Palme. Er fauchte: »Damit du es weißt, ich bin kein Steigbügelhalter für deine Karriereträume.«
Räumlichen Abstand zueinander gab es für die beiden obendrein nicht. In dem spartanisch eingerichteten Dachgeschoss des Altbaus hatte man zu wenig Räume für die Verwaltung zur Verfügung. Es roch ein bisschen muffig nach altem Holz, Wachs und Staub, eine Atmosphäre, die Isolde nicht als unangenehm empfand, im Gegenteil. Aus Platzgründen arbeitete sie mit Konstantin Kayser im selben Büro. Diese Konstellation gefiel beiden nicht.
Die Museumschefin musste für das vom Krankenstand verursachte Personalproblem schnellstens eine wohldurchdachte Lösung finden. Sie suchte um Unterstützung bei der vorgesetzten Behörde nach.
»Sie riskieren Endlosdebatten mit dem Personalrat, vermeiden Sie deshalb Kürzungen beim Silvesterurlaub«, gab die Personalreferentin zu bedenken. »Schließen Sie stattdessen besser für zwei, drei Wochen ein paar Säle. Mitarbeiter zur Aushilfe aus anderen Einrichtungen kann ich Ihnen leider nicht anbieten. Die Umstände sind in allen Museen ähnlich.«
»Ja«, Isolde räusperte sich, »überall das gleiche Problem, die Grippe.«
Kollegen aus dem Urlaub zurückzubeordern verlagerte die Problematik bloß auf spätere Zeiträume. Welchen Weg auch immer sie einschlug, es wird Kritik hageln.
***
Ein ausgeglichenes Leben, einen ausgezeichneten Job in Dublin gab sie auf, bevor sie das Amt hier in Hamburg übernahm. In solchen schwierigen Augenblicken wie diesen wurde sie ab und zu wehleidig. Konstantin hatte mit seiner Einschätzung nicht unrecht, es machte einen gewaltigen Unterschied, ob man viele oder wenige Mitarbeiter führt. Sie wollte den Gedanken beiseite wischen. Der allerdings blieb hartnäckig in ihrem Kopf. Sie entschied sich damals ausdrücklich für den Posten in Hamburg, legte die Leitung des kleinen, familiären Dubliner Museums in andere Hände. Schweren Herzens. Trotz allem, der Sinn stand ihr nach Anerkennung und Herausforderung. Ja, sie ergriff die Chance, war über die Maßen geschmeichelt, dass man sie für diese Aufgabe haben wollte und ihrer Bewerbung den Vorzug gab. Jetzt hatte sie ihre beruflichen Träume zwar realisiert, schlug sich aber wacker mit der Kehrseite des Erfolges herum. Der bei der Ausschreibung unterlegene Kollege machte ihr das Leben verdammt schwer. Was für sie bedeutete, sie hatte einen neidischen und missgünstigen Wadenbeißer an ihrer Seite. Dennoch, sie bereute ihren Schritt nicht. Es gab noch viel zu lernen und sie würde sich den Herausforderungen stellen.
Eine Stadt wie Hamburg bot ein ansprechendes Lebensumfeld, sie kannte die Hansestadt seit sie in Deutschland studierte. Der Liebe wegen fand sie seinerzeit ihren Weg hierher. Der Treuebruch des Partners Jahre später traf sie damals dermaßen schwer, dass sie tief getroffen zunächst auf ihre Heimatinsel zurückkehrte. Geblieben war ihr jedoch die Liebe zu Land und Leuten, zur deutschen Sprache sowie ihre Begeisterung für den Norden. Aus dieser Zeit bereicherte nun ein großer Freundeskreis ihr Single-Dasein.
Die Nähe von Nord- und Ostsee behagte ihr. Die Großstadt, die in den Stadtteilen einen beschaulichen, fast familiären Charakter haben konnte. In Eppendorf bewohnte sie eine großzügige Altbauwohnung. Sie genoss die Spaziergänge rund um die Alster, die zahlreichen Wasserläufe, Bäche, Kanäle, die das Stadtbild beleben. Ebbe und Flut, die Gezeiten der Elbe, der Strom, der Hamburg prägt wie kein anderer. Der die Stadt zur Hafenstadt macht, zum drittgrößten Hafen in Europa. Dann erst die unendlich vielen Grünflächen der Anlagen, berühmte Parks und Straßenzüge, die Straßenfeste und Events. Nicht zu vergessen ist der jährlich im Mai stattfindende Hafengeburtstag. Ein fröhliches und maritimes Fest von Weltgeltung, dass an die Bestätigungsurkunde des Kaisers Friedrich Barbarossa vom 7. Mai 1189 erinnert.
Heimatliche Gefühle an ihre ›Grüne Insel verliehen ihr die zahlreichen irischen Pubs in der Hansestadt. Immer wenn sie einen freien Kopf brauchte, ging sie dorthin auf ein Guinness. Dort traf sie ihre internationalen Freunde, hörte die Musik ihrer Heimat. Dies sind die Vorzüge einer weltoffenen Stadt. Genau deshalb hatte es sie wieder hierher verschlagen.
Mit den Mitarbeitern des Museums konnte Isolde problemlos zusammenarbeiten. Die respektierten sie hauptsächlich wegen des Fachwissens, ihres Einfühlungsvermögens und ihrer Geduld. Was jedoch die straffe Mitarbeiterführung anging, hatte die Chefin in der Tat einige Defizite. Die Mittvierzigerin bekleidete nunmehr seit einem Jahr ihr Amt in der Führungsetage. Freundlichkeit alleine ist es nicht, was Mitarbeiterführung ausmacht. Sie tat sich schwer damit, klare Richtlinien aufzustellen sowie die Einhaltung zu überprüfen. Die Mitarbeiter nahmen sich dadurch begünstigt zu viele Freiheiten heraus.
Genau das war es, das war Wasser auf die Mühlen eines Mannes wie Konstantin. Immer wieder gab es um dieses Thema Diskussionen.
»Ohne Kontrolle läuft es nicht. Dein gefühlsduseliges Verständnis für alles Mögliche ist peinlich und hat in einer Führungsebene nichts zu suchen«, belehrte Konstantin Isolde. »Dir tanzen die Kollegen auf der Nase rum, die kommen mit jedem Mist bei dir angelaufen.«
»Ich nehme die Belange meiner Mitarbeiter ernst, es ist mir wichtig, dass sie sich am Arbeitsplatz wohlfühlen.« Die Historikerin lehnte sich im Sessel zurück und seufzte: »Wegen der räumlichen Enge ist das natürlich eine Belastung und leider nicht zu ändern.« Ach wie gerne würde auch sie sich an ihrem Arbeitsplatz wohler fühlen.
Ihr kleinlicher Kollege hatte wegen der harten Haltung in der Belegschaft keinen leichten Stand. Mit seiner Pedanterie schuf er sich viele Gegner innerhalb des Hauses. Spöttisch belegten ihn die Mitarbeiter mit Spitznamen wie ›der Große‹. Was sich auf den berühmten, kaiserlichen Namensvetter und gemeinerweise auf seine mangelnde Körpergröße bezog. Die Arbeitskollegen machten bösartige Sprüche über die Napoleon-Allüren des gernegroßen Stellvertreters. An Körperlänge mangelte es ihm in der Tat. Konstantin nahm es hin, dass man über ihn lästerte. Wie andererseits seine verbalen Attacken gefürchtet waren.
Sein Gejammer darüber, dass er übergangen wurde, mochte sich auf Dauer niemand mehr anhören. Die Mitarbeiter waren erleichtert darüber, dass der Stellvertreter nur der zweiten Reihe der Führungsebene angehörte.
Die ständigen Debatten, die schlechte Laune ihres Kollegen zermürbten Isolde, entzogen ihr die Lebensfreude. In seiner Anwesenheit fühlte sie sich zur Zeit matt und erschöpft. Sie war froh, über jeden Tag, den dieser Mann nicht am Arbeitsplatz verbrachte. Sich unterkriegen lassen? Gar aufgeben, nein, das kam für sie nicht in Frage.
***
Das Telefon klingelte, bitte keine weiteren Krankmeldungen mehr, das hoffte inständig die Direktorin.
»Frau Dr. O’Nelly, ich habe eine erfreuliche Nachricht für Sie«, die Stimme der Personalreferentin klang zuversichtlich, »ich darf Ihnen zusätzliches Zeitarbeitspersonal bewilligen. Für die geplante Bestandsdokumentation im Museum. Und zusätzlich ein paar Studenten für die Erfassungsarbeiten.« Sie erläuterte ihr die Bedingungen, zu denen der Fremdpersonaleinsatz akzeptiert werden konnte.
Erfassung und Bewertung der Museumsbestände standen ins Haus, umfangreiche Dokumentationsarbeiten zogen die nach sich, das war kein Geheimnis. Die Referentin riet Isolde zu folgender Vorgehensweise: »Beginnen Sie vorzeitig mit der Inventur. Räume, die dem Publikum krankheitsbedingt ohnehin verschlossen sind, die eignen sich ausgezeichnet dafür.«
»Herzlichen Dank, das ist eine brillante Lösung.« Isoldes Erleichterung wurde sichtbar. Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein und schloss für einen Moment die Augen. Sie lehnte sich entspannt in ihrem Arbeitssessel zurück und genoss für ein Weilchen den Frieden.
Mit der vorgeschlagenen Konstellation schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe, denn eine Mammutaufgabe lag vor ihr. Für den Dokumentationsauftrag hätte sie in jedem Fall Museumsräume für die Erfassungsarbeiten schließen müssen. Sie überlegte: warum nicht. Einfach die geplante Aktion um ein paar Wochen vorverlegen. Die geniale Lösung für eine vertrackte Lage.
Ihren ansonsten abweisenden Kollegen, brauchte sie für diese Idee nicht weiter zu begeistern. Der forderte seit Jahren solcherlei Maßnahmen. Die hielt er für unumgänglich. Man wollte dadurch die internationalen Standards erreichen, die eigene Position in der Museumslandschaft behaupten. Gleichwohl reagierte er auf die Ansprache der Chefin anfangs bockig.
»Konstantin! Bitte, ich brauche deine volle Aufmerksamkeit.« Der Angesprochene guckte nur kurz mürrisch auf. »Es geht um das Dokumentationsprojekt. Das ist doch dein Baby, wenn ich’s recht bedenke, das Thema sollte dich demzufolge interessieren.« Diese Art der Ansprache brachte den erwünschten Erfolg. Er ließ sich nicht sehr lange bitten.
»Ach ja?« Wenigstens kam eine halbwegs vernünftige Reaktion zustande. Konstantins Gesicht bekam einen wesentlich freundlicheren Ausdruck. Denn eine Aufgabe ganz nach seinem Geschmack erwartete ihn. Damit vermochte er zu beweisen, was in ihm steckt. Welch bemerkenswerter Organisator er sein konnte, wie ausgezeichnet seine Expertisen seien.
»Wie du weißt«, meinte er, »messe ich diesem Thema allergrößte Bedeutung bei.«
»Das ist allseits bekannt. Bitte überwache du die Ausführungen und erstelle vorrangig eine Arbeitsanleitung für die Kollegen.«
Isolde lachte still in sich hinein. Sieh an, sieh an, unser Konstantin beißt an, trachtet danach, sich zu profilieren. Sie amüsierte sich heimlich darüber. Denn sie wusste weit mehr, als sie ihm gegenüber zugeben wollte. Zufällig entdeckte sie ein paar Wochen zuvor in einer Schublade ein annähernd fertiges Konzept für die Erfassung. Ihr Stellvertreter hatte sich in Gedanken damit vertraut gemacht. Dieses Wissen nutzte sie.
In ihrem Übermut sagte sie zu ihm: »Du wirst zaubern müssen. Die Zeit ist knapp bemessen.«
»Wie großmütig von dir, Leitungsfunktionen zu delegieren.« Den Spott konnte er sich nicht verkneifen.
»Der erste Arbeitstag im neuen Jahr wird Sonnabend der 2. Januar 2010 sein«, referierte er.
Weiter überlegte Dr. Konstantin Kayser laut: »Ich denke, die Mitarbeiter der Wochenendschicht können wir nicht sofort mit dieser Aufgabe betrauen, wir sollten für den 4. Januar zunächst eine Besprechung einberufen.«
»Bitte vergiss nicht«, ergänzte Isolde, »dass du den geschätzten Bedarf an Zeitarbeitsstunden für den Personaldienstleister ermittelst. By the way, um den Fotografenjob für die Bilddokumentation werde ich mich persönlich kümmern.«
»Ja, ja, kein Problem«, kam es kurz und bündig zurück. Na, die wird dafür wieder diesen ›Schleimer‹, diesen Lars Bunjes nehmen, da war er sich sicher. Dem hatte sie ja stets die Aufträge zugeschustert. Konstantin konnte den Kerl nicht ausstehen. Der tat immer ekelhaft vertraut mit ihr. Wieselte geschäftig um sie herum. Nerviger Typ! ›Groupie‹ von Isolde hatte er ihn tituliert.
Die Direktorin ahnte von seiner Abneigung gegen den Fotografen bisher nichts. Sie stellte für sich fest, wenn er will, kann ›der Große‹ richtig umgänglich sein. Zu ihm gewandt meinte sie leichthin: »Die Aufgabenteilung ist hiermit geklärt. Bis bald.«
Im Interesse der kollegialen Zusammenarbeit sowie des Spannungsabbaus hätte es ihnen gutgetan, sie hätte mal etwas Freundliches zu ihm gesagt. Ein Danke beispielsweise, selbst wenn’s schwerfiel. Tatsächlich jedoch grummelten sie beide meistens vor sich hin.
***
Das Bedürfnis nach ein wenig Abstand vom alltäglichen Berufsleben ließ in Isolde den Wunsch erwachen, ihre irische Heimat zu besuchen. Die Reibereien laugten sie aus, denn ruppig, rustikal ging’s derzeit zu am Arbeitsplatz. Nein, für zwei Tage nach Dublin zu fliegen, lohnte sich genau genommen nicht.
Aber Isolde sehnte sich danach, ein paar ihr wohlgesonnene Menschen zu treffen. Denn selbst die engagierteste Wissenschaftlerin brauchte eine kleine Pause. Die angespannte Personaldecke sowie die Wetterkapriolen verhinderten ihren Weihnachtsurlaub zu Hause in Malahide. Wenigstens die kurze Zeitspanne über den Jahreswechsel wollte sie dort zur Ruhe kommen. Sie wünschte sich, die anregende Atmosphäre der nahen Hauptstadt Dublin zu genießen und Freunde zu treffen. Einfach nur vertraute Menschen, um sich zu haben, die sie mochten und umgekehrt.
Die ›Grüne Insel‹ war für sie wie der Anker in rauer See, der den Halt auf dem Grunde des Meeres sucht. Die Sehnsucht nach Ferne hatte sie fortgetrieben, ihr Bedürfnis nach Heimat ließ sie immer wieder dorthin zurückkehren. Insbesondere, wenn sie in der Fremde Schiffbruch erlitt.
Köstlich die Teatime, die munteren Gespräche mit den Eltern und Geschwistern. Das betagte reetgedeckte Cottage, welches hinter den Dünen wie geduckt erschien, das verströmte eine wohltuende Gemütlichkeit. Hier war der Wohlfühlort ihrer Kindheit. Dieser Ort prägte sie wie kein anderer.
Im Kamin knisterte das Feuer, behaglich rekelte sie sich im Sessel, las in ihren Abenteuerbüchern von fernen Welten. Draußen fegte ein Sturm vom Meer her übers Land. Derart stürmisch liebte sie die Küstenlandschaft an der Irischen See.
Das festliche Dinner am Silvesterabend, die Livemusik im Pub, die unbekümmerten Plaudereien mit den alten Freunden, wie genoss sie es. Von diesen hinreißenden Eindrücken wird sie einige Zeit zehren müssen. Bis sie wieder genügend Freizeit finden würde, zuhause in Malahide in den Dünen und auf dem Kliffufer zu wandern. Ausreichend Muße, um den weißen Segeln der Yachten in der Ferne hinterherzuschauen, um über ihre Träume nachzudenken. Denn der weite Blick übers Meer erzeugte in ihr nach wie vor ein Gefühl von Fernweh und von unbändigem Freiheitsdrang. Diese Sehnsucht berührte zutiefst ihre Seele.
Augenblicklich war sie nun eine Gefangene im Elfenbeinturm der Wissenschaft.
MYSTERIÖSE SPEICHERSTADT
Der Schnee dämpfte den Lärm, der von den in der Nähe verlaufenden Hauptverkehrsstraßen ausging. Die Luft roch nach Neuschnee. In Hamburgs historischer Speicherstadt präsentierten sich die Backsteinensembles an diesem Winterabend in einem besonders prächtigen Kleid. Die Schneedecke hatte sich wie ein weißer Teppich über Gebäudekomplexe und zugefrorene Fleete gelegt. Hamburg im eisigen Griff des Winters, das kommt unserer Tage nicht sehr oft vor.
Die gelben Lichtkegel der Strahler tauchten die Speicher und Brücken in goldenes Licht, das vom Schnee reflektiert wurde. Eine märchenhafte Stadt. Die massiven Gebäudefluchten der mehrstöckigen Lagerhäuser zu beiden Seiten der Kanäle lassen diese wie tiefe, finstere, dunkle Schluchten erscheinen. Unergründlich. Geheimnisvoll. Für Filmkulissen wie geschaffen, oder – für magische Zusammenkünfte!
Am zweiten Tag des neuen Jahres eilte Henning von der U-Bahnstation am Baumwall zu seiner Stammkneipe am Fleet. Er war ein wenig spät dran, darum nahm er vom sagenhaften Zauber der winterlichen Stadt nichts wahr. In Gedanken beschäftigte ihn das bevorstehende Treffen mit Lars. Er achtete ausschließlich darauf, bei der Glätte nicht hinzufallen. Bei ›Tante Anni‹ am Brooktorkai erwartete ihn ungeduldig sein Freund und Nachbar. Mit ihm war er heute Abend zu einer ungewöhnlichen Mission verabredet.
Lars nippte an seinem Wasserglas. Gegen die überbordende Nervosität könnte er jetzt gut eine Zigarette gebrauchen.
Endlich erschien Henning in der Tür. »Kannst du nicht einmal pünktlich sein?«, muckte Lars den Kumpel an.
»Nu halt du mal die Luft an, mein Lieber, die fünf Minuten«, antwortete der ihm gereizt. »Außerdem weißt du genau, wie kritisch ich zu deiner geplanten Aktion stehe. Sei also froh, dass ich überhaupt hierher gekommen bin.«
»Entschuldige, das bin ich. Dass du dich bereit erklärt hast, ich bin dir ja unendlich dankbar.« Lars lenkte sofort ein.
»Nein, breitgeschlagen hast du mich, das wäre der richtige Begriff dafür.«
Nach dem anfänglichen Schlagabtausch setzte er sich zum Freund an den Tisch.
»Für dein Problem gibt es unverfänglichere, sehr viel präzisere Ermittlungsmethoden. Du weißt es.« Henning versuchte, Lars letztlich auf seinen Kurs zu bringen, deshalb ergänzte er: »Ist zwar nicht halb so aufregend wie das, was wir heute vorhaben, aber immerhin auf den Punkt.« Es kostete ihn einiges an Überwindung, Lars zu seinem Projekt zu begleiten. In einem unbedachten Moment ließ er sich von ihm beschwatzen. Nun stand er im Wort.
»Ich verspreche mir unendlich viel davon. Ich habe gehört, es solle funktionieren.«
»Gehört, gehört! Ist alles Tüdelkram! Lass es dir gesagt sein, deine Anwandlungen sind Schnapsideen. Leider lässt du dich nicht überzeugen. Das ist ein Armutszeugnis für einen Anwalt wie mich, das kann ich dir sagen. Ich begleite dich heute allein in meiner Eigenschaft als Freund.«
Henning redete sich in Rage, erkannte dann schnell das Dilemma des Freundes: »Nun gut, jetzt iss erst mal ein heißes Süppchen, das beruhigt die Nerven, davon werden die Hände wieder warm. Du siehst echt scheiße aus.«
Lars sah in der Tat elend aus. Jetzt schon.
»Bei der Anmeldung zur Sitzung sagte man mir, Nervenstärke und Gelassenheit seien die halbe Miete, zu Entspannungsübungen riet mir die Dame.«
»Ausgeglichen? Entspannt? Genau diesen Eindruck erweckst du gerade in mir«, meinte Henning sarkastisch. »Also, woher stammt die Adresse für diese, äh, äh für diese, sagen wir mal Veranstaltung?«, fragte er streng. »Am Telefon hast du ungeheuer geheimnisvoll getan.«
»Ach, das war kein großartiges Ding, ich hab’ mich mal in den einschlägigen Kreisen umgehört, im Internet und überhaupt. Glaub man ja nicht, ich bin der Einzige, der sich für Magie interessiert.«
Lars beugte seinen Oberkörper leicht vor und sagte zum gegenübersitzenden Freund: »Noch eine bedeutungsvolle Information habe ich bekommen«, er flüsterte verschwörerisch, »es geht um die Rauhnächte.«