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Wie sind Sie hier reingekommen?: Roman
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eBook373 Seiten4 Stunden

Wie sind Sie hier reingekommen?: Roman

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Über dieses E-Book

Berlin 2003. Wolfgang Schneider ist 20 und heißt trotzdem Wolfgang Schneider. Er lässt die Provinz hinter sich, doch in Berlin hat niemand auf ihn gewartet. Zumal die Stadt im Umbruch ist: Die hedonistisch-anarchischen Neunziger liegen noch in der Luft, doch eine neue Zeit klopft an der Tür: Berlin will als Hauptstadt Ernst machen.

Schon bald kann er die demonstrative Wichtigkeit der Menschen hier nicht mehr ernst nehmen. Leider rutscht er schnell in todernste Milieus ab, gerät ans Theater, in die Berliner Kunstszene und in eine kommunistische Hochschulgruppe namens »SacK und Klit«. Die schlimme Erkenntnis: Augenscheinlich sind in Berlin alle bekloppt.

Durch ein Missverständnis freundet sich Wolfgang mit dem fast 80-jährigen Vicco von Bülow an. Der große Humorist scheint der Einzige zu sein, der sich selbst überhaupt nicht wichtig nimmt – und er erkennt in dem unbedarften Studenten ein Talent, von dem dieser noch gar nichts ahnt.

Tilman Birr macht in seinem neuen Roman da weiter, wo Jakob Arjouni und Sven Regener aufgehört haben, und liefert ein hochkomisches Berlin-Panoptikum der Nullerjahre und zugleich eine Hommage an Deutschlands größten Komiker.

»Tilman Birr ist ein sehr witziger Typ. Und schreiben kann er auch!« – Marc-Uwe Kling
SpracheDeutsch
HerausgeberSatyr Verlag
Erscheinungsdatum4. Sept. 2023
ISBN9783910775015
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    Buchvorschau

    Wie sind Sie hier reingekommen? - Tilman Birr

    EINS

    An dem Tag, an dem die Amerikaner in Bagdad einmarschierten, war Wolfgang Schneider in Berlin angekommen. Viel hatte man ihm von dieser Stadt erzählt: Die Wohnungen würden fast nichts kosten, vor allem wenn sie eine Ofenheizung hätten, was vor der Wende absolut normal gewesen wäre. Jeder Zweite wäre DJ oder Musiker oder Performancekünstler. Stoffbeutel mit coolen Sprüchen bedrucken wäre hier ein Beruf. »I blame my parents« würde darauf stehen oder »I love my penis«. Bier wäre billiger als Kaffee, eigentlich wären ohnehin alle ständig betrunken. Wer unter dreißig ist, würde bis zwölf schlafen. Kurz: Jeder konnte sein, was er sein wollte.

    Wolfgang war erst ein einziges Mal in Berlin gewesen, wenige Wochen zuvor, als er sich an der Universität eingeschrieben und eine Wohnung angemietet hatte. Auf der Straße hatte er Leute gesehen, die links langhaarig und rechts kahl rasiert waren. Erwachsene Menschen trugen ungeniert ABBA-T-Shirts. Freiwillig so bescheuert auszusehen, verdient Respekt, hatte Wolfgang gedacht. Zwei Männer waren in Bergarbeiterkluft, mit kohleverschmierten Gesichtern und Grubenlampen vor der Stirn durch den Bezirk gelaufen. An einer Ampel hatte neben ihm ein Mann mit eingefärbtem Smiley im Haar gestanden, sich einen großen Joint angezündet, dann das Gesicht verzogen und genüsslich einen fahren gelassen. Wolfgang hatte ihn angesehen, er aber hatte nur »Was’n?« gesagt.

    Nun, ein paar Tage später, waren die Amerikaner in Kirkuk und Wolfgang klingelte bei Krause. Dies jedenfalls war der Name, der an der Klingel der Wohnung im Stockwerk unter ihm stand, und Wolfgang wusste nicht, was ihn erwartete. Vielleicht ein Pornoproduzent mit Riesenschnauzbart und getönter Brille. Oder etwas ganz anderes: eine Frau, die in ihrer Zweizimmerwohnung seltene Leguane züchtete und sie an Sternerestaurants in Moskau verkaufte. Wolfgang war auf alles vorbereitet.

    Die Frau, die ihm öffnete, trug eine bunte, groß gemusterte Bluse, war ungefähr Mitte fünfzig und sah aus, als würde sie öfter mal auf Tupperpartys gehen. Sie erinnerte Wolfgang an die Nachbarin seiner Eltern. Na toll: War er vierhundert Kilometer von zu Hause weggezogen, um nun wieder Tür an Tür mit Frau Baltruschat zu wohnen?

    »Hallo, ich heiße Wolfgang Schneider«, sagte Wolfgang.

    »Ja, und?«, sagte die Frau und schaute erstaunt.

    »Ich wohne jetzt obendrüber«, sagte Wolfgang. »Ich wollte mich nur mal vorstellen. Ich bin gestern eingezogen.«

    Das stimmte nicht ganz, er war schon seit fünf Tagen hier, aber man will ja nicht gleich den Eindruck eines faulen Studenten machen, der so etwas Wichtiges wie die Vorstellung bei den Nachbarn tagelang verschleppt.

    »Ja, guten Tach«, sagte die Frau zögerlich. »Krause. Eheleute Krause.«

    »WAS IST DENN DA SCHON WIEDER LOS?«, rief eine Männerstimme aus dem Inneren der Wohnung.

    »HIER IS EINER, DER SAGT, ER WOHNT OBENDRÜBER«, rief Frau Krause zurück.

    »UND WAS WILL DER?«, rief die Stimme.

    »HAT ER NOCH NICHT GESAGT«, rief Frau Krause.

    »ICH WOLLTE NUR GUTEN TAG SAGEN!«, rief Wolfgang an Frau Krause vorbei in die Wohnung hinein. »ICH BIN JETZT IHR NEUER NACHBAR! WOLFGANG SCHNEIDER!«

    »Schreien Sie doch nicht so laut«, sagte Frau Krause.

    »Entschuldigung«, sagte Wolfgang. »Ich wollte mich nur vorstellen.«

    »TACH AUCH. KRAUSE«, rief der Mann aus der Wohnung.

    »Ja, das hab ich ja jetzt verstanden«, sagte Frau Krause. »Aber bei uns gibt’s gleich Abendessen.«

    »Vielen Dank, ich habe schon gegessen«, sagte Wolfgang.

    »Aber wir werden ja wohl dürfen«, sagte die Frau. »Wir sind immerhin arbeitende Leute. Die Kantine ist nicht so doll bei uns. Heute gab’s Nudeln mit irgend so ’ner Soße.«

    »Nudeln hatte ich gestern.«

    »Ich denke, Sie sind gestern eingezogen?«, sagte die Frau.

    »Ja, aber man kann doch einziehen und trotzdem Nudeln essen.«

    »Am selben Tag?«, fragte die Frau.

    »Was will der?«, brummte der Mann von drinnen deutlich vernehmbar. Endlich hatte er aufgehört zu schreien.

    »Der ist gestern eingezogen, aber es gab bei ihm trotzdem Nudeln«, rief Frau Krause.

    »Find ich völlig in Ordnung«, gab der Mann zurück.

    »Sehen Sie, Ihr Mann sagt’s auch«, sagte Wolfgang.

    »Na hören Sie mal!«, sagte die Frau.

    »Solange der nicht seine dreckigen Stiefel im Treppenaufgang stehen lässt wie diese Asozialen aus dem Parterre«, brummte der Mann.

    »Mein Mann sagt, Sie sollen Ihre Stiefel nicht im Treppenaufgang stehen lassen«, sagte die Frau.

    »Warum denn nicht?«, sagte Wolfgang.

    »Weil’s scheiße aussieht«, rief der Mann. »Räumen Sie Ihre Stiefel weg und Sie können essen, was Sie wollen.«

    »Ich hab ja gar keine Stiefel da stehen«, sagte Wolfgang.

    »Na, dann gehen Sie doch essen, mein Gott«, rief der Mann. »Dann können wir uns die ganze Diskussion ja sparen. Wir essen auch gleich.«

    »Ich hab ja schon gegessen. Heute war ich beim Dönerladen. Döner esse ich ganz gern.«

    »Wir essen mehr gutbürgerlich«, sagte die Frau.

    »Du sollst das nicht immer sagen«, rief der Mann aus der Wohnung. »Ich bin kein Bürgerlicher, ich bin Arbeiter und das wird auch so bleiben!«

    »Na ja, wir essen eher so Hausmannskost«, erklärte die Frau. »Wir wohnen immerhin schon seit vor der Wende hier.«

    »Vor der Wende gab’s ja noch viel mehr Ofenheizung als heute«, sagte Wolfgang.

    »Wir kochen auf dem Herd«, sagte die Frau.

    »Lustig, ich auch«, sagte Wolfgang.

    »Aber seit wir letztes Jahr auf Usedom waren, will mein Mann auch indisch.«

    »Isst man da viel indisch auf Usedom?«

    »Nee, nich so«, sagte die Frau. »Da isst man eigentlich mehr gutbürgerlich.«

    »WAS HAB ICH DENN GERADE GESAGT?«, rief Herr Krause.

    »Also, wir waren da in einem indischen Restaurant. Seitdem will mein Mann indisch. Da denkt man, man kennt jemanden …«

    »Nur wenn’s nicht so scharf ist«, rief der Mann. »Scharf mag ich nicht.«

    »Scharf mag er nicht«, sagte Frau Krause.

    »Das mag nicht jeder«, sagte Wolfgang. »Mag er denn Koriander?«

    »Keine Ahnung«, sagte Frau Krause. »MAGST DU KORIANDER?«

    »Wieso soll ich keine Koreaner mögen?«, rief Herr Krause. »Ich hab überhaupt nichts gegen Koreaner. Ich kenne gar keine Koreaner, nur Vietnamesen und das sind sehr anständige Leute.«

    »Er kennt keinen Koriander«, sagte Frau Krause.

    »Das isst man viel in Indien. Ein Freund von mir war neulich in Indien, in Kalkutta. Man macht sich ja keine Vorstellung.«

    »Also, das wär mir nix.«

    »Waren Sie schon mal in Indien?«

    »Nein. Waren Sie schon mal auf Usedom?«

    »Nein.«

    »Sehen Sie.«

    Frau Krause sah Wolfgang an. Wolfgang Frau Krause.

    »Wat’n nu? Seid ihr tot?«, rief der Mann von drinnen.

    »Also, Sie wollten ja nur Guten Tach sagen und gar nicht weiter stören«, sagte Frau Krause.

    »Ja genau«, sagte Wolfgang. »Dann weiß ich jetzt Bescheid. Herzlich willkommen!«

    »Herzlich willkommen?«, sagte Frau Krause.

    »Jetzt lassense uns mal zu Abend essen«, rief Herr Krause. »Wir wohnen immerhin schon seit vor der Wende hier.«

    »Ach so, dann ist das … natürlich … Danke«, sagte Wolfgang.

    »Keine Ursache.«

    »Auf Wiedersehen«, sagte Wolfgang.

    »Auf Wiedersehen«, sagte Frau Krause.

    »TACH AUCH!«, rief der Mann von drinnen.

    Dann schloss sich die Tür.

    ZWEI

    Zurück in seiner Wohnung warf Wolfgang sich auf die abgewetzte Kunstledercouch, die sein Vormieter zurückgelassen hatten. Eine Seitenlehne wackelte und an einer Stelle drückte ihm eine schiefe Holzstrebe ins Kreuz, aber wenn man die richtige Position gefunden hatte, ging es eigentlich. Der Vermieter hatte ihm die erste Monatsmiete erlassen unter der Bedingung, dass Wolfgang die Couch selbst entsorgte, die Dübellöcher zuspachtelte und die Wohnung strich. Super, hatte Wolfgang gedacht, eine Couch brauchte er eh noch und die Dübellöcher konnte er einfach ignorieren.

    Durch die Wand hörte Wolfgang seinen Nachbarn laut fluchen. Ihn hatte er schon einmal getroffen und seitdem fragte er sich, was der eigentlich so machte. Manchmal hörte Wolfgang stundenlang Gewehrschüsse aus der Nachbarwohnung, ab und zu gefolgt von einem »Jaaa!« oder dem Ausruf »Fucker!«. Die Gewehrschüsse könnten natürlich von einem Computerspiel herrühren, aber ganz sicher war sich Wolfgang da nicht. Vielleicht hatte sich der Nachbar ja eine CD mit Gewehrschüssen gekauft, so wie es auch CDs mit Flughafengeräuschen oder Museumsatmo zu kaufen gibt, die man einlegen kann, wenn es einem zu Hause zu leise ist. Vielleicht stand der Nachbar auf Krieg. Vielleicht las er Landser-Hefte und hörte Störkraft. Das wäre zwar sehr unwahrscheinlich, denn er trug lange Haare und einen Ziegenbart, aber man soll Menschen ja nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Jeder Mensch verdient seine Chance und Wolfgang wollte dem Nachbarn trotz Haar- und Barttracht immer noch die Möglichkeit offenlassen, vielleicht doch ein Nazi zu sein.

    Dieser Etagennachbar war der Erste, dem Wolfgang begegnete, als er hier einzog, in seine erste eigene Wohnung. Nun gut – so eigen, wie eine Wohnung eben sein konnte, wenn man sie von den Eltern bezahlt bekam. Im Ford Transit von Ekkehard Prengel, einem Arbeitskollegen von Wolfgangs Vater, war Wolfgang mit seinen beiden Freunden Felix und Sven nach Berlin gefahren, im Laderaum ein Teil seines Jugendzimmers und letzte Reste seiner Teenagerzeit. Die beiden Freunde hatte Wolfgang damit gelockt, dass sie ja noch ein paar Tage in Berlin bleiben konnten. Weil sich aber keiner von ihnen dreien in Berlin auskannte, waren sie in die nächstbeste Disko gegangen, die sich als schlimmer Schlägerschuppen für Drittligafußballfans herausstellte. Sven wurde von einem breiten Typen mit unverständlichem Dialekt für einen Punk gehalten und hätte fast eine Tracht Prügel kassiert. Danach hatte er Angst vor Berlin und die nächsten drei Tage hatten die Freunde vor der Playstation verbracht und das Haus nicht mehr verlassen.

    Den Nachbarn hatte Wolfgang kennengelernt, als er und Felix gerade die Matratze hochtrugen. Leise seufzend war der Nachbar aus seiner Wohnung gekommen, hatte sich lässig in den Türrahmen gelehnt und gesagt: »Na, neu hier?«

    »Ja, hallo! Ich bin Wolfi«, hatte Wolfgang geantwortet.

    »Ä-hä?«, hatte der Nachbar geantwortet. »Student?«

    Wolfgang hatte bejaht. Auf die Frage nach seinem Namen hatte der Nachbar »Mauper« geantwortet und dass er ja schon seit drei Jahren hier wohnte. Wolfgang wurde den Eindruck nicht los, dass sich der Nachbar ihm irgendwie überlegen fühlte.

    Alle weiteren Nachbarn hatte Wolfgang bisher nur gehört. Aus der Wohnung über ihm kam jeden Abend gegen halb zwölf ein Geräusch, als ob jemand einen alten Kühlschrank von einer Ecke des Zimmers in eine andere zog. Von unten hörte er oft Techno und, wenn er das Fenster zum Hof offen ließ, auch laute Unterhaltungen auf Spanisch. Das störte ihn überhaupt nicht, im Gegenteil. Wenn in seiner Heimatstadt Löhne jemand spanisch gesprochen hatte, dann war das ein kulturelles Ereignis, organisiert vom Kulturamt und gesponsert von der Sparkasse. Eigentlich hatte in Löhne nie jemand spanisch gesprochen, ohne dass es Caipirinha im Plastikpfandbecher und Bratwurst dazu gegeben hatte. Hier in Berlin dagegen gab es alles. Ein paar Tage zuvor war Wolfgang sogar Zeuge einer nächtlichen Auseinandersetzung geworden. Aus dem Stockwerk über ihm hatte er nachts gegen halb eins lautes Gerumpel gehört, diesmal eher, als ob sich zwei Sumoringer auf dem Boden wälzten. Kurz darauf schlugen Türen und jemand polterte das Treppenhaus hinunter und grunzte dabei: »Du Wichser! Du Scheißwichser! Ich mach dich … – WART DU NUR AB, DU! – Du Wichser, du!«

    Zwanzig Sekunden später brüllte jemand auf der Straße: »DU ARSCHLOCH! WIR SEHEN UNS WIEDER BEI DER TESTAMENTSERÖFFNUNG VON MA UND PA!«

    Abgefahren! Wolfgang wohnte jetzt in einer Großstadt, da waren die Leute nicht immer nett zueinander. Aber damit kam er klar, er war ja jetzt einer von ihnen. Es hatte lange genug gedauert, aber andererseits war es auch ganz schön schnell gegangen. Seine ganze Adoleszenz lang wartete man darauf, endlich achtzehn zu werden und das Kaff zu verlassen, in dem sich die eigenen Eltern zwanzig Jahre zuvor niedergelassen hatten, wofür man sie schon oft verflucht hatte. Dann machte es plopp und das alles war eingetreten. Wolfgang fand es immer noch erstaunlich, dass er im vorigen Jahr zum ersten Mal hatte wählen dürfen. Bei der vorletzten Bundestagswahl war er gerade mal so in dem Alter gewesen, dass er in der Öffentlichkeit Bier trinken durfte. Bei der vorvorletzten hatte er noch nicht mal Schamhaare gehabt. Ob diesen Politikern bewusst war, dass eine Legislaturperiode die Zeit ist, die unschuldige, niedliche Kinder brauchen, um zu rauchenden, trinkenden und herumhurenden Assis zu werden, die Autos zu Schrott fahren und ungewollte Schwangerschaften produzieren? Natürlich ist dieser Weg nicht bei allen vorgezeichnet. In Löhne allerdings schon. Es sei denn, man haut früh genug ab und geht dorthin, wo es keine vorgezeichneten Lebenswege gibt. In der Großstadt werden die Karten neu gemischt. Hier wird niemand sagen: »Du bist doch der Kleine vom Metallbau-Schneider.« Hier war Wolfgang Wolfgang, niemand anders.

    Es gab da allerdings eine kleine Einschränkung: Wenn man zwanzig ist und Wolfgang heißt, bringt das natürlich Probleme mit sich. Noch schlimmer ist es, wenn man mit Nachnamen Schneider heißt. Leider traf auf Wolfgang Schneider beides zu. Als Wolfgang Schneider bekommt man vielleicht leicht einen Ausbildungsplatz an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Gelsenkirchen. Zur Anbahnung von Geschlechtsverkehr im städtischen Studentenmilieu ist der Name aber eher von Nachteil. Kann man sich den Satz »Wolfgang, ich will mit dir schlafen« aus dem Mund einer tätowierten Berliner Stoffbeutel-Designerin vorstellen? Wolfgang war fest davon überzeugt, dass der Name eines Menschen ihn prägt. In den Neunzigern soll es an der deutschen Botschaft in Athen einen Militärattaché namens Sturmhard Eisenkeil gegeben haben. Mit diesem Namen macht man keinen Yoga-Ashram auf. Seit ihm im Alter von dreizehn Jahren bewusst geworden war, dass Wolfgang kein üblicher Name für einen Menschen mit Jahrgang 1983 ist, versuchte er, gegen diese Prägung anzukämpfen. Vielleicht hätte er gar nicht damit angefangen, Punkrock zu hören und Haschisch zu rauchen, wenn seine Eltern ihn Lennart oder Henrik genannt hätten. Andererseits war er auch froh, keinen Kindernamen bekommen zu haben: Florian, Benjamin, Fabian – so konnte man heißen, bis man zehn war, danach war es nur noch peinlich.

    Aber nun konnte er alles auf null setzen und sich einen ganz neuen Namen geben. In der einzigen Punkkneipe im Landkreis Herford, in der er bis vor Kurzem verkehrte, war das in der Steineschmeißerfraktion völlig üblich gewesen. Da hatten sich die Leute Zecke, Zichte, Cowboy oder Klonk genannt, einer sogar Müllsack. Das hielt Wolfgang für etwas übertrieben. Bisher hatten ihn die meisten Leute Wolfi genannt, aber das kindliche i am Ende war nun wirklich nicht mehr altersgemäß. Da könnte er sich gleich einen Bärchenpulli anziehen. Mauper hatte Wolfgang ja behandelt, als sei er leicht zurückgeblieben. »Wolf« klang allerdings auch ein bisschen nach Märchenbuch. Man nennt sich ja auch nicht Hirsch oder Hase. Ein männlicher Endvokal war zweifelsfrei das o: Rocco, Mario, Django. Und so beschloss er: Er war von nun an Wolfo.

    DREI

    Auf das Studentenleben hatte Wolfgang sich gefreut. Es hatte nur einen Nachteil: Man musste studieren. Dazu wiederum musste man wissen, was man studieren wollte, und das war das viel größere Problem: Wolfgang hatte überhaupt keine Ahnung, was ihn interessierte. Nur dass irgendetwas passieren musste, das war klar. So läuft das halt: Man macht die Schule fertig, man macht eine Ausbildung, man fängt einen Beruf an. Bisher war ihm alles einfach so passiert. Die Schulzeit hatte er mit Hanfkonsum und dem Bedienen von Spielekonsolen herumgebracht, unterbrochen von gelegentlichen Besäufnissen in den Partykellern von Freunden. Nicht viel los, keine Katastrophen, keine großen Glücksmomente – so hatten die Menschen in Westfalen seit Jahrhunderten gelebt. Sollte gerade Wolfgang Schneider da eine Ausnahme machen? Trotz seines Hangs zur Couch hatte er das Abitur ohne große Anstrengungen geschafft und so hatte niemand gemerkt, dass Wolfgang eigentlich ein Rumhänger war. Desinteressiert, aber freundlich, lethargisch, aber mit ganz anständigen Zensuren.

    Auch ein Berufswunsch war nirgends zu finden, sosehr Wolfgang auch suchte. Auf gar keinen Fall wollte er ein Handwerk lernen, wie seine Eltern es getan hatten und wie einige seiner Freunde es nun auch vorhatten. Das Erlernen eines Handwerks sah Wolfgang als ersten Schritt zum vorzeitigen Altern: Dann habe ich mit dreiundzwanzig ausgelernt, dachte er, dann heirate ich, baue ein Haus, bekomme Kinder und zack! – bin ich mein Vater. Unversehens auf die gerade Bahn geraten, abgerutscht ins Eigenheimbesitzermilieu – wer einmal dort hineingerät, kommt nicht so leicht wieder heraus, denn dafür gibt es keine staatlich finanzierten Aussteigerprogramme.

    Deshalb war Wolfgang ziemlich schnell klar: Er wollte studieren. Seit er den Film Anatomie gesehen hatte, erschien ihm ein Studium als äußerst erstrebenswerter Zeitvertreib. Zwar ging es in dem Film eigentlich um eine Geheimgesellschaft an der Heidelberger Universität, die je nach Angebot Studenten, Professoren und gelegentlich auch Nicht-Akademiker umbrachte, um sie zu sezieren. Aber die Morde waren ja fiktiv, dachte Wolfgang. Der dargestellte studentische Alltag – ein heiteres Geschehen geprägt von Bierkonsum am Badesee und freundschaftlichem Geschlechtsverkehr unter attraktiven jungen Menschen, eine davon Franka Potente –, der war doch sicher real und erschien Wolfgang sehr verlockend. Von einer mordenden Geheimgesellschaft konnte er sich ja einfach fernhalten.

    So hatte er sich für das durchschnittlichste und harmloseste Fach entschieden – das Reihenhaus unter den Studienfächern, überraschungsfrei wie die Lüneburger Heide und übersichtlich wie ein Schrauben- und Nägelset direkt nach dem Kauf: Sozialwissenschaften. So viel anders als der Gemeinschaftskundeunterricht am Gymnasium kann das ja nicht sein, dachte Wolfgang. Den hatte er nämlich immer mit recht ordentlichen Ergebnissen hinter sich gebracht. Man brauchte dafür wenig Vorkenntnisse und auch sonst keine besonderen Fähigkeiten, man lernte ein paar Theorien auswendig, gab sie in der Diskussion stark vereinfacht wieder und was sich immer gut machte, waren Sätze wie »So einfach isses ja nicht« oder »Das kann man nicht verallgemeinern«. Damit wäre das Tagessoll erfüllt und man könnte zum Geschlechtsverkehr an den Badesee.

    Das war also der Plan gewesen. Und nun saß er mit vielen anderen müden Studentinnen und Studenten in einem überheizten Seminarraum und musste sich in eine Anwesenheitsliste eintragen. Allgemeiner Konsens: Im Bett war’s schöner. Wenn man die Stimmung im Raum in zwei Wörter hätte packen wollen, dann in diese: »Ja, äh …«

    Wolfgang sah sich um: Für den Typen im Anzug war die Uni wahrscheinlich der erste Schritt zum Führungsjob. Den Habitus hatte er sich jedenfalls schon zugelegt: Er guckte »kompetent«. Ein anderer Student trug eine Art Kartoffelsack aus dicker Baumwolle, auf dem in bunten Buchstaben das Wort »Venezuela« eingestickt war. Der wird mir gleich am meisten auf die Nerven gehen, dachte Wolfgang. Der Rest schien zu denken: Ach je, schon wieder Uni. Na gut, muss man durch, wenn man später mal einen Job haben will. Leider ging es Wolfgang da nicht anders. Franka Potente war nicht anwesend.

    Zum Glück hatte Wolfgang noch einen Platz an einem Tisch bekommen. Die Frau, die schon dort saß, hatte auf seine Frage, ob da noch frei wäre, geantwortet: »Ja, aber ich hab ’nen Freund.«

    Daraufhin hatte Wolfgang beschlossen, nicht mehr mit ihr zu reden. Nun machte er sich extra schmal, um nicht in den Verdacht zu kommen, am Beziehungsstatus seiner Sitznachbarin etwas ändern zu wollen.

    Der Dozent erschien, ein smarter Mittvierziger mit grau melierten Haaren und etwas zu engem Hemd:

    »So, meine Damen und Herren, Sie haben die Texte für heute gelesen. Lassen Sie uns gleich stante pede und ad hoc in medias res gehen. Wir hören heute das Referat von Frau Bonin über die Broken-Windows-Theorie. Bitte sehr, Frau Bonin.«

    In den mittleren Reihen erhob sich eine dünne Frau mit betonfester Make-up-Fassade, ging nach vorne und begann zu reden: »Ja, gut. Also, die Broken-Windows-Theorie wurde von Wilson und Kelling 1982 formuliert. Genau. Grob gesagt: Sichtbare Zeichen von kleinerer Kriminalität – also, zum Beispiel Vandalismus, genau – und auch antisoziales Verhalten ziehen größere Kriminalität nach sich. Genau.«

    Sie sprach sehr monoton und betonte jeden Satz gleich. Anscheinend fand sie ihr eigenes Referat sehr langweilig.

    Durch die bodentiefen Fenster konnte man direkt auf die Straße sehen, der Seminarraum lag ebenerdig. Draußen stand ein drahtiger Mann in Arbeitskleidung und unterhielt sich mit einer rauchenden Frau im weißen Kittel. Der Mann hielt einen Eimer in der Hand und gestikulierte viel. Was hatten ein Mann mit Eimer und eine Frau mit Kittel wohl miteinander zu besprechen?

    »Na, Großer? Eimer dabei?«

    »Ja klar, sichasicha, seffaständlich, Eima ha’ ick imma bei. Musste ja heutzutare, jeht ja nich anders. Weeßt ja nich, was passiert. Eima hab ick imma bei.«

    »Aber gestern hattest du keinen Eimer, oder?«

    »Nee, jestern hatt ich nich, jestern war Ausnahme, jestern war ick nach Arbeit noch inne Philharmonie, da jeht dit nich mit Eima. Kommste nich rein mit Eima, da passen die auf. Hab ick denn zu Hause jelassen. Aber heute ha’ ick wieder Eima bei. Sicha is sicha.«

    Wenn gerade keine Filme oder Computerspiele zur Hand sind, kann die Realität ein ganz passabler Ersatz sein, dachte Wolfgang. Sie musste natürlich gut gemacht sein. Diese Realität hier hatte alles, was es für eine gute Realität brauchte: Mann, Frau, Eimer. Authentisch. Wolfang hatte sich schon öfter dabei erwischt, wie er beim Betrachten von Bäumen im Wind dachte: Verdammt gut animierte Grafik.

    »Ja, äh …«, sagte die Referentin. »Genau. Insgesamt soll der Eindruck entstehen: Die Bewohner hier kümmern sich um ihre Umgebung. Also zum Beispiel, dass man Graffiti schnell entfernt, dass herumliegender Müll schnell abtransportiert wird und dass öffentliches Urinieren geahndet wird. Genau.«

    »Bah! Do hätt i ah in Ampfing bleim kenna«, hörte Wolfgang einen Bayern raunen.

    »Find ich gut mit deinem Eimer«, sagte die Frau im weißen Kittel draußen. »Ist immer gut, wenn einer einen Eimer dabeihat. Ich seh so viele Leute jeden Tag, ich würde mir echt wünschen, dass da mehr mit Eimer dabei sind.«

    Als ganz kleines Kind hatte Wolfgang auch mal einen Eimer gehabt, einen grünen Spielzeugeimer aus Plastik. Er war mit der Familie im Urlaub am Neusiedler See gewesen, spielte im Sand, da erschien ein österreichischer Junge und sagte: »Leihst mir dein Kübi?«

    Wolfgang hatte ihn nur ratlos angesehen. Er aber wiederholte: »Derf i dein Kübi ham? Den Kübi. Da! Dein Kübi!«

    Wolfgang verstand nichts. Der Junge aber wurde immer lauter, bis er irgendwann schrie: »KÜÜÜ-BIII! DEIN KÜÜÜ-BIII!«, und Wolfgang weinend weglief. Noch Jahre später ängstigte Wolfgang sich in Österreich, weil er fürchtete, es könnte ihn jemand in der Landessprache ansprechen.

    »Dit is einfach ’ne Eimergegend«, sagte der Arbeiter draußen. »War immer so, wird ooch immer so bleim.«

    »Genau«, sagte die Frau. »Da freu ich mich auch immer. Seh ich einen mit Eimer, denk ich: Hier biste zu Hause.«

    »Ick war neulich in Spandau. Gloobste, da hat eena ’n Eimer bei? Nüscht. Null. Keena. Uff die Idee komm die jar nich. Da war ick froh, wie ick wieda weg war.«

    »Ach nee, dit is mir nüscht.«

    Ein anderes Eimererlebnis hatte Wolfgang in seiner Jugend gehabt. In Svens Partykeller hatte es Julian mit dem Campari übertrieben und sich in einen Putzeimer erbrochen. Oben in der Wohnung saßen Svens Eltern und guckten Wer wird Millionär?, weshalb der Inhalt des Eimers auf die februarkalte Straße gekippt wurde, wo er gefror und einen schönen roten Eisplacken bildete.

    »Es geht da … genau … zum großen Teil um psychologische Aspekte … Oder auch: Angst vor Kriminalität … muss man sich in seinem Viertel sicher fühlen … Und in New York … Rudy Giuliani Bürgermeister … Kriminalität stark gefallen. Genau.«

    Auf einmal war es still.

    Das Referat musste zu Ende sein. Fünfundzwanzig Minuten hatte die Referentin gesprochen.

    »So. Gibt es da jetzt Fragen zu?«, fragte der Dozent.

    Eine halbe Minute herrschte Schweigen. Hundert Studenten guckten ins Leere oder starrten vor sich auf den Tisch. Auf dem Gang draußen hörte man jemanden auf Türkisch telefonieren.

    »Vielleicht erst mal methodisch?«, sagte der Dozent.

    Wieder schwieg das Volk.

    »Oder Verständnisfragen?«

    Wolfgang versuchte, sich an das gerade stattgefundene Referat zu erinnern. Er hatte nichts verstanden, aber er hatte auch nicht zugehört. Die Frage, die er am liebsten gestellt hätte – »Kannst du das alles noch mal wiederholen, aber bitte kürzer und nicht so leiernd?« –, erschien ihm vermessen.

    Ganz hinten hob ein Student seine Hand auf Kopfhöhe und lächelte verlegen.

    »Ist das eine Meldung da? Bitte sehr.«

    »Ja, äh …«, sagte der junge Mann mit Brille. »Also, ich wohne in Friedrichshain und ich fühle mich dort sehr sicher.«

    »Aha?«, sagte der Dozent.

    »Ja. Doch. Schon. Ich kann das also gar nicht so nachvollziehen mit der Angst vor Kriminalität.«

    »Na gut. Ist ja auch mal interessant. Haben Sie sonst inhaltliche oder methodische Anmerkungen oder Fragen zu dem Referat von Frau Bonin?«

    »Ach so. Nee, das jetzt nicht. Ich wollte das nur mal sagen.«

    »Schön«, sagte der Dozent.

    »Also ich wohn im Wedding«, sagte jemand anders. »Und da sieht man wirklich ganz selten mal ein zerbrochenes Fenster. Also, eigentlich fast gar nicht. Das ist auch echt nicht so, wie das in den Medien immer dargestellt wird.«

    Jemand seufzte.

    »Na gut, dann mal anders«, versuchte es der Dozent: »Diese Broken-Windows-Theorie war in den Sozialwissenschaften sehr umstritten. Können Sie sich vorstellen, warum?«

    »Nö«, sagte eine Frau im Kapuzenpulli. »Scheint doch zu funktionieren. In New York hat das doch anscheinend geklappt.«

    »Genau«, sagte die Referentin.

    »Genau!«, sagte der Dozent. »Da wird’s nämlich interessant. New York wird immer als Beweis herangezogen, dass die Theorie recht hat. Es gibt da aber massive Einwände. Welche Einwände könnten das sein? Irgendwelche Ideen?«

    »Also ich weiß nicht«, sagte der Mann im Anzug. »Das mit der vielen Polizeipräsenz find

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