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Nüchtern betrachtet: Mit Erinnerungen von Gisela Ludwig
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eBook438 Seiten5 Stunden

Nüchtern betrachtet: Mit Erinnerungen von Gisela Ludwig

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Über dieses E-Book

Rolf Ludwigs Leben verlief nicht ohne Umwege und Schicksalsschläge, war aber auch reich an glänzenden Erfolgen, herausfordernden Aufgaben und Glückszufällen. Unsentimental, mit Augenzwinkern, plauderte er in seiner Autobiografie aus dem Nähkästchen und schüttete mit Schwung einen Sack voller Theateranekdoten, Kantinen- und Stammtischweisheiten aus. So kannte und liebte ihn sein Publikum. Seine Witwe Gisela erinnert sich an die gemeinsamen Jahre. Es war eine Beziehung, die man landläufig wohl als "spätes Glück" bezeichnet. Er starb 1999, seine vielen Film- und Theaterrollen sind Legende.
SpracheDeutsch
HerausgeberDas Neue Berlin
Erscheinungsdatum5. März 2015
ISBN9783360500847
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    Buchvorschau

    Nüchtern betrachtet - Rolf Ludwig

    Impressum

    ISBN eBook 978-3-360-50084-7

    ISBN Print 978-3-360-02193-9

    © (1995, 2004) 2015 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

    Umschlaggestaltung: Verlag, unter Verwendung eines Fotos aus dem Privatarchiv Ludwig

    Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin

    erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

    www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

    Bildquellen:

    Harry Hirschfeld, P. Engel, H. Pölkow, W. Saeger, Franz Kutschera, K. Leher, S. Hanke, B. Meffert, J. Nagel, R. Walz, Th. Aurin, J. Weyrich, Salzburger Festspiele/Weber, Privatarchiv Ludwig

    Erinnerungen eines Volksschauspielers, aufgeschrieben von Gabriele Stave,

    ergänzt durch Erinnerungen

    von Gisela Ludwig

    DAS NEUE BERLIN

    Nüchtern betrachtet …

    … und immer geliebt

    Erinnerung an Rolf von Gisela Ludwig an Stelle eines Vorworts

    Als ich geboren wurde, spielte meine Mutter an der Dresdner Volksbühne. Man schrieb das Jahr 1947. Wie die Stadt aussah, zwei Jahre nach dem Kriege, muß ich nicht mitteilen. Mutter war 22, der Vater ein verheirateter Opernsänger und ich ein Verkehrsunfall bei einer Tournee. Einige Zeit später lernte meine Mutter einen 34 Jahre älteren Schauspieler kennen. Beide heirateten 1954. K. W. Streit war ein Typ wie Heinrich George und ein guter Mime.

    Am Theater in Dresden hatte 1947 auch ein junger Schauspieler angeheuert, der für den alten Streit schwärmte. »Das ist noch alte Schule«, meinte er anerkennend. Er selbst war nach acht Wochen von der Schauspielschule geflogen …

    Der ein wenig naßforsche Eleve mit der schwarzen Tolle war so alt wie meine junge, überforderte Mutter. Sie hatte ein Problem: Wohin mit mir bei Proben und Aufführungen? »Mir sin ä Dheader, geen Gindergorden«, meckerte der Pförtner. Also fragte meine Mutter den Neuen mit der großen Klappe. »Kein Problem«, sagte der selbstbewußt. »Die Kleene kriegen wir schon in die Garderobe.«

    Er schaffte es wirklich, mich wiederholt in der alten, ledernen Einkaufstasche meiner Mutter ins Theater zu schmuggeln, was weder ich noch der Zerberus bemerkte.

    Als ich zwölf war, zogen meine Eltern nach Altenburg in Thüringen, um am dortigen Landestheater zu arbeiten. Vater verfolgte den Werdegang des jungen Schauspielerkollegen aus Dresden und fand seine damalige Prognose, daß aus dem was Großes werden würde, zunehmend bestätigt. Den Einwand ließ er nicht gelten, daß der Mann mit seiner unverkennbar sächsischen Lautfärbung nicht einmal bis Berlin kommen werde. Gert Fröbe aus Zwickau habe damit sogar Weltkarriere gemacht.

    Ich besuchte in Altenburg die Schule und absolvierte danach eine Lehre als Fachverkäuferin für Herrenoberbekleidung. Später, nach einem vierjährigen kulturpolitischen Fernstudium, ging ich nach Berlin und arbeitete u. a. einige Jahre im Palast der Republik als Leitender Redakteur. So nannte sich die Funktion des Vizechefs vom Jugendtreff offiziell. Oben, unterm Dach, spielte das TiP, das Theater im Palast. 1983 stand dort ein Stück von Dürrenmatt auf dem Plan. Die Hauptrolle spielte eben jener Mann, der mich vor 36 Jahren auf etwas ungewöhnliche Weise befördert hatte. Und weil diese Geschichte in unserer Familie seither gern kolportiert wurde (schon wegen der wachsenden Berühmtheit des Taschenträgers), war sie auch mir bekannt. Ich selber fand ihn deshalb natürlich toll. Aber nicht nur aus diesem Grunde. Er spielte im »Meteor« überwältigend.

    Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und stellte mich nach dem Stück vor seine Garderobe. Er war nach der anstrengenden Arbeit auf der Bühne erkennbar erschöpft. Ich erzählte ihm die Geschichte von 1947 und reichte ihm ein Foto aus Dresdner Tagen, das ihn, meine Mutter und andere Schauspielschüler zeigte. Wie abwesend starrte er darauf. »Mein Gott, wie lang ist das her«, sagte er tonlos. Dann gab er das Bild zurück. »Danke, und grüßen Sie Ihre Mutter.« Das war’s.

    Ich sah einen schmalen Rücken in einem schäbigen Pfeffer-­und-Salz-Mäntelchen auf abgelatschten Schuhen davonziehen.

    Mit allem hatte ich gerechnet. Mit dieser merkwürdigen Gleichgültigkeit aber nicht. Zugleich fragte ich mich auch: Wie hätte er auch anders reagieren sollen? Diese Episode lag eine Ewigkeit zurück und war auch nur eine solche.

    Mitte der 80er Jahre verließ ich den Palast. Die Bindung an das Haus aber blieb. So überraschte es mich nicht, als ich im Februar 1990 einen Anruf erhielt. Ob ich nicht kommen wolle, den Palast zu beerdigen, fragte mich ein Freund. Heute würden fast alle dreitausend Mitarbeiter ihre Kündigung erhalten. Danach wolle man sich zum Leichenschmaus zusammenhocken. Gut, sagte ich und schloß mein Zimmerchen bei der Konzert- und Gastspieldirektion in der Chausseestraße ab. Es gab seit Wochen ohnehin nichts mehr zu tun: Ich war für Rock/Jazz/Country zuständig, doch niemand buchte noch eine Band, keine Frauentags- oder NVA-Feier mußte bestückt werden, kein Jugendklub orderte ein Programm. Wir kamen morgens um 8 zur Arbeit und gingen 17 Uhr, zwischendurch läutete nicht einmal das Telefon. Für uns war die Wendezeit tote Zeit.

    Ich machte mich zur Stadtmitte auf. Vor Monaten noch hätte niemand den Bühneneingang gegenüber dem Marstall ohne Dienstausweis oder prominentes Gesicht passieren dürfen. Doch auch das genügte zuweilen nicht: Selbst Ludwig wurde 1983 einmal, wie er mir später erzählte, abgewiesen – obgleich er zuvor aus der Pförtnerloge namentlich sehr freundlich begrüßt worden war. Er hatte die Jacke gewechselt und deshalb keinen Ausweis dabei. Er ging notgedrungen nach Hause, obgleich im TiP das Publikum wartete. Auf halbem Wege erreichte ihn die Intendantin und holte ihn zurück. Es bereitete ihm eine diebische Freude, daß Vera Oelschlegel auf sein Drängen hin vor der Vorstellung erklären mußte, daß die 20minütige Verspätung nicht auf sein, sondern das Konto des Hauses ging.

    Inzwischen jedoch schienen sich die Dinge geändert zu haben – obgleich die eingeübten Rituale noch praktiziert wurden. Als die Versammlung endete und die soeben Entlassenen letztmalig das Haus verließen, wiesen sie wie immer dem Pförtner ihr Dokument vor. Ich saß auf meinem Sessel und sah gleichermaßen irritiert wie amüsiert dem merkwürdigen Defilee zu. Nur einer, ein älterer Bühnenarbeiter, gab sich plötzlich erstaunt. »Was mache ich hier«, fragte er laut und starrte auf seine Karte, als er merkte, daß er wie ein Roboter funktioniert hatte.

    Dann kamen Günter Strohbach und die anderen, die mich eingeladen hatten. »Laß uns rüber in zu ›Mutter Hoppe‹ gehn«, meinte er. Im Haus seien alle Kneipen und Restaurants belegt.

    Einige Biere später, die Uhr ging bereits auf 21 Uhr zu, kamen zwei Männer durch die Tür. Der eine trug einen grünen Lodenmantel und einen Bart, der erst in Höhe des Bauchnabels endete. Der andere war ER. Der Bartträger, ein Oberförster aus Friedrichshagen, setzte sich irgendwann an einen Tisch. ER jedoch blieb am Tresen stehen und trank allein sein Bier. Beim Weg zur Toilette mußte ich an ihm vorbei. Auf dem Rückweg wurde ich mutig, ich war wohl nicht mehr ganz nüchtern.

    »Na, Herr Ludwig, so sieht man sich wieder.«

    »Bitte?«

    Die abweisende Reaktion ließ überdeutlich erkennen, daß es ihm mißfiel, angesprochen worden zu sein, zumal von einer jungen Frau. Es gibt bekanntlich Prominente, die sind geradezu süchtig danach, auf diese Weise von Unbekannten aus ihrer Einsamkeit gerufen zu werden. Ludwig offensichtlich nicht.

    Dann erzählte ich in meinem sächsischen Singsang erneut meine Geschichte von 1947. »Ich bin das Kind.«

    Ludwigs Züge legten sich in freundlichere Falten. »Ein Bier für die Dame.«

    Am Tisch gestikulierten meine Freunde. Ich blieb trotzdem.

    Zapfenstreich, Ludwig und ich standen noch immer am Tresen. Die anderen waren schon gegangen.

    »Trinken wir noch etwas bei mir?«

    »Ja, warum nicht.«

    »Ich wohne gleich am Spreeufer. Aber nicht mehr lange. Sechste Etage und kein Fahrstuhl, das ist nichts auf meine alten Tage …«

    »Na komm, so alt bist du doch nicht.«

    »Ich bitte dich, am 28. Juli werde ich 65 und gehe in Rente.«

    »Ich steh auf ältere Jahrgänge. Vielleicht hab ich einen Vaterkomplex«, scherzte ich.

    Gickernd und gackernd torkelten wir zu seiner Haustür und stiegen die unendlich vielen Stufen hinauf. Die Maisonettewohnung unterm Dach war chaotisch. Bücher stapelten sich auf dem Boden, Teppiche lagen zusammengerollt in der Ecke. Nirgendwo sah ich eine Grünpflanze. Eine typische Junggesellenbude, dachte ich. Inzwischen wußte ich, daß seine Frau vor fünf Jahren gestorben war. Und ihm hatte ich gesagt, daß mein Mann 1979 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, weil er getrunken hatte.

    Wir nippten noch irgend etwas, dann sagte Ludwig überraschend, daß er jetzt nach oben schlafen gehe. Ich könne mich hier auf dem Sofa hinlegen. Er wirkte ein wenig verunsichert, verstört, als hätte ihn gleichsam der Mut verlassen, der ihn vor kurzem noch dazu gebracht hatte, mich »abzuschleppen«.

    Oder auch nicht. Es war bisher ganz nett, mehr mußte ja auch nicht sein.

    Ich rollte mich auf der Couch zusammen und schlief bald ein. Ein Geräusch weckte mich. Durch den trüben Schleier eines mordsmäßigen Katers erblickte ich einen Mann im Schlafanzug auf der Treppe. Die Füße steckten in roten Wollsocken. Wo war ich? Ach ja. Ich versuchte die Zeiger auf meiner Armbanduhr zu erkennen. Schon halb neun. Seit 8 Uhr sollte ich eigentlich an meinem Schreibtisch in der Chausseestraße sitzen.

    »Wollen Sie einen Kaffee?«

    Ich rieb mir die Augen. Hatten wir uns gestern nicht geduzt? Der Kaffee schmeckte scheußlich. Wir stocherten wortlos mit dem Löffel in unseren Tassen, als schämten wir uns wie kleine Kinder, die bei etwas Verbotenem ertappt worden waren. Wobei aber? Es war doch nichts passiert zwischen uns. Oder doch? Irgendwie schien es tief in mir gefunkt zu haben. Den Mann in Pyjama und roten Wollsocken fand ich mehr als sympathisch. Er war komisch und klug, hatte gepflegte Umgangsformen und viel Charme.

    »Darf ich Ihnen ein Taxi rufen?«

    Schüchtern wie ein Backfisch nickte ich. »Hm.«

    Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, fragte er fast verschämt, ob er meine Telefonnummer haben könne. In Erwartung der Auskunft griff er zu einem dicken Filzstift und notierte sie auf der Schreibtischunterlage. Die Größe der Zahlen verriet mir, daß er mich ganz bestimmt anrufen würde. Offenbar hatte es bei ihm ebenfalls gezündet. Ganz schwach vielleicht, aber doch bemerkbar.

    Ich fuhr nach Hause in meine Wohnung in Weißensee, legte mich erst in die Wanne und dann ins Bett. Zuvor rief ich auf Arbeit an und erklärte, heute meinen Haushaltstag zu nehmen.

    Der Montag verging, der Dienstag. Ich wartete auf einen Anruf. Mein gefühltes Alter betrug 17. Ich war verliebt wie ein Teenager. Warum nur klingelte das Telefon nicht? Und dabei war ich mir ganz sicher gewesen, daß er anrufen würde. Ganz bestimmt. Also gut: Rufe ich an.

    Am anderen Ende der Leitung hörte ich es läuten. Niemand nahm ab. Im Deutschen Theater hieß es, Ludwig habe spielfrei. Ich wählte wieder und wieder seine Nummer. Nichts. O mein Gott, was war passiert? Durch meinen Kopf geisterten die wildesten Phantasien. Ich sah ihn allein und vergessen irgendwo in seiner unaufgeräumten Bude liegen, kalt, weiß, starr. Da war doch niemand, der nach ihm schaute! Ich fuhr ins Nikolaiviertel, starrte die Hausfassade hinauf. Die Fenster blieben dunkel, auch nachdem ich Sturm geklingelt hatte.

    Was tun? Ich konnte doch nicht einfach die Feuerwehr holen und die Tür aufbrechen lassen? Dann schoß mir eine Idee durchs Hirn. Die Ärztin! Mein Brötchengeber und das Deutsche Theater hatten die gleiche Betriebsärztin. Ich machte mich in die Reinhardtstraße auf, ließ mich untersuchen und fragte, eher wie beiläufig, ob sie dieser Tage auch Rolf Ludwig behandelt habe.

    Weshalb ich das wissen wolle, kam die Gegenfrage.

    Ich sei die Freundin, erklärte ich.

    »Das überrascht mich. Dann müßten Sie doch eigentlich wissen, daß Rolf Ludwig mit Herzproblemen in der Charité liegt.«

    Ich nuschelte was von Dienstreise und anderen Verpflichtungen.

    In der Charité nannte man mir an der Rezeption ein Zimmer. Ich klopfte brav an und öffnete die Tür, als niemand »Herein« rief. Die beiden Betten: leer. Auf dem Gang traf ich eine Schwester. Dem Herrn Ludwig gehe es schon besser, lächelte sie, der unterhalte wahrscheinlich schon wieder die ganze Cafeteria. Der brauche immer Leute um sich herum, Alleinsein könne der nicht.

    Erleichterung breitete sich in mir aus. Er lebt! In mir hatte sich tatsächlich schon die Vorstellung vom Ende einer unausgelebten Liebe angesiedelt. Das merkte ich an dem eigenartigen Druck, der nun aber von mir wich.

    Unten in der Cafeteria nippte der Totgeglaubte an einem Saft. Ein dankbares Lächeln setzte sich in seinem bartstoppeligen Gesicht fest, als er mich hereinschweben sah. »Wo kommst du denn her?«

    »Von draußen!«

    Manchmal können auch ziemlich Erwachsene saublöde Dialoge führen.

    In seinen Augen glomm Freude. Wir mußten nicht reden. Das Wesentliche war ausgesendet und empfangen worden.

    Er habe, nach unserer Begegnung, beim Spaziergang durch die Rathauspassage plötzlich Stiche in der Herzgegend verspürt und sich auf einen Blumenkübel setzen müssen. Sein Sohn Andreas, der ihn begleitete, hatte die Schnelle Medizinische Hilfe gerufen. Dann habe man ihn mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht. Das sei alles. Der Professor hätte nur gesagt, das sei ein Schuß vorn Bug gewesen. Beim nächsten Mal würde es richtig knallen.

    Ach naja, Ludwig winkte ab, als sei nicht er der Empfänger dieser Nachricht, sondern irgendeiner, der die Rolle Ludwig übernommen habe. »Solange das Bier und die Zigarette schmecken …«

    Draußen trieb der kalte Februarwind Schneegriesel über die Straße. Ich schob mein Geschenk über den Tisch. Das Buch hatte ich wegen des Titels gekauft. »Spätsommerliebe.«

    Es wurde März.

    Eines späten Abends kam ich nach Hause. Es klingelte. Ludwig polterte in der Leitung. »Seit Stunden versuche ich dich anzurufen.« Der Schmelz war in einen Vorwurf gekleidet. Doch dann: »Ich sitze vor der Nikolaikirche auf einer Bank und habe Sehnsucht. Nimm einen Hund und komm her. Bitte.«

    »Weißt du, wie spät es ist?«

    »Na und? Es ist Frühling. Ich warte.«

    Die Götter hatten ein Einsehen mit mir und mit ihm: Ich bekam ein Taxi. Ludwig saß tatsächlich im Lichtkegel auf einer Bank, als ich vorfuhr. Er stand auf. Sagte nichts. Und küßte mich.

    Die Nacht verbrachten wir wieder zusammen. Diesmal richtig. Nur die Wollsocken erinnerten mich ans erste Mal. Er erklärte es mir: kalte Füße. Seit der Kriegsgefangenschaft habe er sie.

    »Verlobungsvertrag«, aufgesetzt von Rolf Ludwig am 7. Juni 1990, auf der Rückseite einer Rechnung des Palasthotels, quittiert von einem Kellner. Links oben Ludwigs Signum: drei Vögel

    Das in Auflösung befindliche Land hielt für ihn eine Überraschung bereit. Er hatte sich um eine Wohnung bemüht, von der man zu Fuß das Deutsche Theater erreichen konnte. Und in der Otto-Grotewohl-Straße, dort, wo einst die Reichskanzlei stand, war nun ein weiterer Block fertiggeworden. Etliche Wohnungen davon schlug man dem Kontingent des DT-Ensembles zu. Rolf nahm mich mit zur Besichtigung. Bis zur 6. Etage fuhr ein Lift, dann mußte man noch eine Treppe hinaufsteigen. Blickte man aus den Fenstern nach Westen, sah man den Tiergarten und davor die Reste der Mauer. Schaute man nach Osten, erkannte man die Türme des Deutschen und des Französischen Doms. Na schön. Doch die Wohnung hatte nicht mal einen Balkon, und der freie Blick auf den Gendarmenmarkt würde auch bald Geschichte sein: Ich sah schon die Baukräne. Nein, so toll wie er fand ich die Behausung nicht. Doch schließlich wollte er hier einziehen – nicht ich. Was sollte ich mich also mokieren?

    Er bestellte den Möbelwagen zum 3. Mai.

    Ich hatte ihm Hilfe beim Umzug zugesichert.

    Am Vorabend rief er mich zu vorgerückter Stunde in Weißensee an. Seine Zunge war hörbar schwer. »Ich sitze im Berolina mit ein paar Fußballspielern der alten DDR-Nationalmannschaft. Nimm dir einen Hund und komm her. Die wollen dich kennenlernen.«

    »Rolf, morgen ist Umzug, geh nach Hause.«

    »Scheißegal«, lallte er.

    Mich schauderte. So betrunken hatte ich ihn noch nicht erlebt. »Rolf, mach Schluß! Du bist bereits besoffen. Morgen mußt du einen klaren Kopf haben.«

    Ludwig brubbelte unverständliches Zeug in die Muschel.

    In mir stieg Unmut auf. Sollte an den Gerüchten etwas dran sein, daß Ludwig nicht nur gern und regelmäßig sein Bier trank, sondern zuweilen sich derart zuschüttete, daß er alles vergaß? Das sprach nicht für einen starken Charakter, der sich unter Kontrolle hatte.

    Der Unmut in mir begann dem Selbstzweifel Platz zu machen. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Auf einen Trinker? Ein Alkoholiker, das hatte ich gelesen, brauchte jeden Tag sein Quantum. Das traf auf ihn eigentlich nicht zu. Ich hatte schon etliche Tage mit ihm erlebt, ohne daß er einen einzigen Tropfen zu sich genommen hatte. Sonst trank er Bier. Immer Bier. Selten Sekt, Wein nie. Und mitunter einen Likör, quasi als Dessert. Amaretto oder Baileys. Schnäpse mochte er nicht. Wenn er Texte lernte, Auftritte hatte, zwischen Hörspiel- und Synchronstudio pendelte, nach dem Theater noch bei der DEFA drehte, kurz: unter Hochdruck arbeitete, trank er kein Glas Alkohol. Nein, Rolf war kein Alkoholiker. Ich wischte den Zweifel weg.

    Und trotzdem war ich wütend. »Du kannst mich mal«, schrie ich in die Muschel und knallte den Hörer auf die Gabel. Der sieht mich morgen nicht. Soll er doch zusehen, wie er allein klarkommt.

    In mir stiegen unangenehme Bilder auf. Meine Mutter hatte zeitweise getrunken, als mein Vater schwerkrank wurde und ihn erst der Tod 1972 davon erlöste. Andreas, mein zweiter Mann, ertränkte den Kummer in Alkohol, als ich nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt unser Kind verlor. In den 80er Jahren hatte ich eine heftige Affäre mit einem verheirateten Schauspieler vom Berliner Ensemble, die ich nach drei Jahren beendete, weil auch er trank. Das wollte ich nicht wiederholen.

    Am nächsten Morgen meldete sich die innere Stimme. ›Das kannst du doch nicht machen, Rolf wartet doch. Komm, gib dir einen Ruck, geh hin.‹

    Nach dem Frühstück war ich mürbe, der widerständische Verstand kapitulierte.

    Doch als ich die Treppe vom 6. zum 7. Stock hinaufstieg, wollte ich am liebsten wieder umdrehen. Ludwig, noch immer nicht nüchtern, trötete die Packer zu. Da habe man nun eine Freundin, auf die man glaubte sich verlassen zu können, doch die halte es nicht mal für nötig zu erscheinen …

    Mein Verstand riet mir umzukehren, doch die Beine gingen weiter. Ich trat durch die Tür. Ludwig hockte mit roten Augen auf einem Sessel, in der Hand die Bierflasche. Als er mich erkannte, hellte sich sein nachtgraues Gesicht auf. »Gisel, wie schön, daß du da bist.« Den Anruf in der Nacht und die Philippika vor wenigen Sekunden schien es nicht gegeben zu haben, seine Erinnerung war augenblicklich gelöscht.

    Ich reagierte nicht und begann mich nützlich zu machen. Im Laufe des Tages wurde er nüchtern. Er schlich um mich herum, das schlechte Gewissen war gleichsam Fleisch geworden. Ab und an berührte er mich wie zufällig, wir stießen zusammen, wo man eigentlich nicht zusammenstoßen konnte.

    Abends, als alle Kisten und Möbel in der Wohnung standen und die Packer gegangen waren, kriegte er die Zähne auseinander.

    »Entschuldige bitte, es tut mir leid.«

    Ich schlucke den Satz, der aus einer wirklich gequälten Seele kam. Nicht »es« provozierte mein Mitleid, sondern er.

    »Schon vergessen«, winkte ich ab.

    Ich vergaß es wirklich, obgleich doch sein nächtlicher Anruf so etwas wie ein Schlüsselerlebnis hätte sein sollen.

    In den nächsten Tagen und Wochen räumten wir seine Wohnung ein und zogen um die Häuser. Die standen meist im Westteil der Stadt, die uns seit einem halben Jahr mauerlos offenstand. Für Ludwig waren die Touren Reisen in die Vergangenheit. Die Künstlerkneipen, die wir besuchten, kannte er aus den 50er Jahren. Bei »Diener« unweit des Savignyplatzes in Charlottenburg, unmittelbar neben dem S-Bahndamm, versackten wir gelegentlich mit etlichen Theaterleuten, die ich – im Unterschied zu Rolf – zumeist nur aus dem Fernsehen kannte. Im Osten landeten wir oft in der Domklause oder in der Kaminbar des Palasthotels. Grienend zeigte er auf die Marmorsäulen. Mindestens eine davon habe er finanziert, erklärte er stolz. »Mindestens eine. Und Marmor ist teuer.«

    Das Westgeld sollte erst am 1. Juli kommen, doch wir waren nie klamm. Er hatte erstaunlich viele Freunde, die ihn nicht vergessen hatten und ihm stets etwas zusteckten. Volker Ludwig vom Grips-Theater zum Beispiel oder Horst H. Filohn, der spätere Intendant des Renaissance-Theaters. Filohn bewegte einst als Bühnenarbeiter am DT im »Drachen« die Drachenköpfe und war seither Rolf außerordentlich zugetan. Er ging über die CˇSSR in den Westen und meldete sich umgehend nach dem Fall der Mauer bei Rolf. (1991 machte er mit Rolf im Renaissance-Theater eine Borchert-Lesung, und er arrangierte auch das erste Treffen mit Harald Juhnke in der dortigen Theaterklause. Dieser spielte dort gerade mit Judy Winter in »Eines langen Tages Reise in die Nacht«.)

    Manchmal vermeinte ich jedoch zu entdecken, daß der Lack auf manch alt-neuer Freundschaft wirklich nur Lack war. Er verdeckte nur schwach die Angst vor der nunmehr aus dem Osten auftauchenden Konkurrenz. Auch wenn niemand der mehr oder minder berühmten Schauspielerkollegen es aussprach: Ich roch förmlich den Angstschweiß, der aus ihren Poren stieg.

    Rolf winkte ab, als ich ihm einmal dieses Gefühl beschrieb. »Ach, Gisel, in diesem großen und reichen Deutschland ist genug Platz für alle Schauspieler. Und wenn sich die Spreu vom Weizen scheidet, ist es auch nicht schlimm: Wir haben im Osten sehr gute Leute mit sehr guter Ausbildung, die werden sich behaupten. Wirste sehn.«

    Wenn wir in der Dunkelheit zurückkehrten, frozzelten zuweilen unsere Grenzer. »Na, Herr Ludwig, haben wir das Feuerzeug dabei?« Und dann stimmten sie das Lied aus dem DEFA-Märchenfilm an, den offensichtlich jeder in der DDR kannte und damit auch dessen Hauptdarsteller. »Eins, zwei, immer nur eins, zwei …«

    Ach, die Welt war schön, alles schien möglich.

    Und dann kam noch dieses phantastische Angebot aus Salzburg. Thomas Langhoff wollte in den Sommermonaten Grillparzers »Die Jüdin von Toledo« für die Festspiele inszenieren, Ludwig sollte den Isaak spielen. Für die Proben waren sechs Wochen geplant.

    Ich brachte ihn zum Flughafen Tegel. Wir mußten lange vor Abfahrt des Fliegers dort sein, weil er unbedingt das quirlige Treiben beobachten wollte. Als ehemaliger Pilot interessierte er sich für Flugzeuge und den Betrieb auf einem Airport. Tegel kannte er nicht. Ich auch nicht. Wir standen am Fenster, und er starrte wie gebannt auf die startenden und landenden Maschinen.

    »Besuchst du mich in Salzburg?«

    Ich weiß nicht mehr, ob ich mir die Rede im Kopf bereitgelegt hatte. Sie brach jedenfalls aus mir heraus. »Hör zu, Rolf, wir beide sind nicht mehr die Jüngsten und beide verwitwet. Du bist seit fünf, ich seit zehn Jahren allein. Ich will kein Verhältnis, sondern klare Verhältnisse. Heirate mich, dann komme ich nach Salzburg. Falls du das nicht möchtest, sollten wir uns trennen. Hier«, ich begann in meiner Handtasche nach dem Aktbild zu suchen, das ein Fotograf in Altenburg von mir mit 17 gemacht hatte, »auf der Rückseite steht meine Telefonnummer. Ruf mich an, wenn du dich entschieden hast.«

    Mein Ultimatum schien ihn sichtlich zu überraschen. Er sagte nichts und ließ das Foto in seiner Brieftasche verschwinden.

    Ich war mir ziemlich sicher, daß er anrufen würde. Und mir war auch klar, daß ich ihm die Pistole auf die Brust setzen mußte, denn in persönlichen Dingen, das hatte ich bereits bemerkt, handelte er nur unter Zwang. Er war wie der sprichwörtliche Jagdhund, der zur Jagd getragen werden mußte.

    Die Tatsache, daß ich damals jenes verstaubte, fast drei Jahrzehnte alte Jugendbild von mir hervorgekramt und mit meiner aktuellen Telefonnummer versehen hatte, läßt mich jedoch vermuten, daß ich mich sehr gründlich auf diesen Abschied in Tegel vorbereitet hatte. Vielleicht nicht vorsätzlich, mehr vom Unterbewußtsein und aus weiblicher Intuition gesteuert. Doch ich tat es. Ich wollte diesen Mann, den ich liebte, ganz. Ich wollte morgens mit dickem oder mit klarem Kopf neben ihm aufwachen. Ich wollte seine Wollsocken waschen und seine Seele wärmen, mich um ihn sorgen wie eine Glucke um ihr Küken. Denn daß er einen Menschen vermißte, der ihm Geborgenheit gab, spürte ich. Seit seine Frau tot war, schien er unbehaust. Er brauchte jemanden. Dieser Jemand wollte ich sein. Und wenn er das nicht sagen konnte, mußte ich es ihm eben auf diese direkte Art mitteilen.

    Aus Salzburg kam eine Karte. »Mein liebes Gisel.« Er habe mich von einem Chinesen anrufen wollen und nicht erreicht. Leider habe er dort mein Bild liegenlassen, woran sich der Chinese nicht mehr erinnern konnte oder wollte, als er noch einmal zurückgegangen war. »Vielleicht hängst du bereits in seiner Küche.«

    Kurz und gut: Ich solle kommen. Wir seien alt genug und sollten heiraten. Er schlage den 28. Juli vor – da sei Premiere, und er habe Geburtstag. Zum 65. wolle er sich schon ein ordentliches Geschenk machen, und außerdem wäre unter diesen Umständen die Gefahr gering, daß er später unseren Hochzeitstag vergäße …

    Ich war überglücklich. Und hatte plötzlich ein Problem. Ludwig bekam zwar als in Stockholm geborenes Exilantenkind von der schwedischen Botschaft seine Geburtsurkunde. Doch die gleichfalls benötigte Bescheinigung unserer Polizei, daß er als DDR-Bürger im Ausland eine DDR-Bürgerin ehelichen dürfe, bekam er nicht. Als ich nämlich auf dem VP-Kreisamt in Mitte mein Ansinnen vortrug, bestand die resolute Dame hinterm Schalter darauf, daß der Bürger Ludwig selbst vorstellig werden müsse.

    Das gehe nicht, sagte ich, der sei in Salzburg.

    »Da kann ich Ihnen das Papier nicht geben, Bürgerin.«

    Atemlos hetzte ich mit meiner Tochter Susanna zum Polizeipräsidium. Dort brüllte ich mich bis zu einem Oberst durch. Nach einer Weile griff er zum Telefon und rief in der bürokratischen Zwingburg an, in der ich gescheitert war. »Geben Sie der Frau den Schein!«

    Am 20. Juli flog ich mit klopfendem Herzen und allen Papieren in die Mozart-Stadt. Rolf erwartete mich mit weit ausgebreiteten Armen und einem Röschen, dessen Stiel geknickt war. Um seine Knie schlottert der schwarze Trenchcoat, den er schon im Februar bei unserem Kennenlernen trug. (Er sollte in Wiesbaden bei einer späteren Kneipentour verloren gehen – wie andere Mäntel, Jacken, Schals, Handschuhe, Brieftaschen, Brillen und Regenschirme bei ähnlichen Gelegenheiten auch.)

    Wir umarmten uns. Wer von uns stärker vom Wiedersehen berührt war, konnte ich nicht feststellen. Ich fühlte mich nicht zum ersten Male bei ihm um Jahre jünger. Er habe sein Zimmer aufgegeben und auf einem Bauernhof eine kleine Ferienwohnung gemietet, sagte er. Die Zillers seien sympathische Leute.

    Das waren sie in der Tat. Wir sollten in den kommenden drei Jahren jeweils die beiden Sommermonate unter ihrem Dach zubringen. Diese Zeit war, im Nachgang betrachtet, unsere glücklichste. Rolf probte und spielte, von dort starteten wir zu gemeinsamen Ausflügen in die Umgebung. Der Himmel hing voller Geigen – und einem Cello. Im Quartier unter uns wohnte eine junge Japanerin, die so ehrgeizig wie untalentiert war. Sie pflegte vornehmlich in der Nachmittagszeit ihre Saiten und uns zu quälen. Rolf, der jedem Lärm und jeder Disharmonie abhold war – Silvester pflegte er sich mit Ohropax zu schützen – sprang wütend aus dem Bett und stürmte hinunter. Er baute sich vor dem Fenster der Cellistin auf und hielt eine Rede auf Denglisch, die filmreif war: »You are eine Musikerin from Japan, and I bin an actor from Berlin. Please stop your Probe, I must sleep für eine Weile, because I have in the evening Vorstellung. Do you know, what this means?«

    Offenkundig wußte sie nicht, was das bedeutete, denn kaum daß er mit geschwollener Brust und mit Stolz, es der Japanerin richtig gegeben zu haben, zu mir ins Bett sank, rutschte unten schon wieder der Bogen über die Saiten.

    Rolf rächte sich, indem er eines Tages einen kleinen transportablen Fernseher kaufte und die Spiele der Fußball-WM lautstark verfolgte. Irgendwann zog die Cellistin aus.

    Wenn wir denn schon hier wären, so meinte Rolf eines Tages, könnten wir auch mal nach Berchtesgaden und zum Obersalzberg fahren. Bereits im Fahrstuhl, der uns zur Bergspitze brachte, spürte ich, wie er sich zu verkrampfen begann. Seine Körpersprache verriet mehr als jede Rede. Ich schaute ihn an und konnte wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen. Offenkundig bereitete ihm das Wissen, den gleichen Lift zu benutzen wie Hitler, seelische Schmerzen. Oben drängten sich lärmende Touristen

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