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An einem schönen Sommermorgen ...: Erinnerungen
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eBook260 Seiten3 Stunden

An einem schönen Sommermorgen ...: Erinnerungen

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Über dieses E-Book

Bei der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule schummelte er ein Jährchen auf sein tatsächliches Alter drauf und trug mannhaft seinen Text vor. Das Urteil der Kommissionsvorsitzenden, der berühmten Schauspielerin Lucie Höflich, traf ihn wie ein Donnerschlag: "Gott, ist das Bübchen süß!" Doch der erlösende Anruf kam. So begann die Schauspielerkarriere von Otto Mellies, der zu einem bedeutenden Protagonisten am Deutschen Theater wurde und als Charakterdarsteller in zahlreichen Filmrollen überzeugte. In seinen lange erwarteten Memoiren erzählt er von seiner Kindheit, von Arbeits- und Lebensstationen - und spart auch nicht mit Schnurren und Anekdoten vom Theater.
SpracheDeutsch
HerausgeberDas Neue Berlin
Erscheinungsdatum31. März 2015
ISBN9783360500908
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    Buchvorschau

    An einem schönen Sommermorgen ... - Otto Mellies

    Impressum

    ISBN eBook 978-3-360-50090-8

    ISBN Print 978-3-360-01997-4

    © 2010 Verlag Das Neue Berlin, Berlin

    Umschlaggestaltung: Verlag unter Verwendung eines Fotos von Saxonia Media

    Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin

    erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

    www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

    Bildnachweis:

    Privatarchiv Otto Mellies

    Otto Mellies

    An einem schönen

    Sommermorgen …

    Erinnerungen

    Das Neue Berlin

    Wenn die Akteure auf jenen Brettern, von denen behauptet wird, dass sie die Welt bedeuten, ihren Zuschauern die Schicksale der Menschen auf der Bühne leidenschaftlich und liebevoll nahebringen, das Gute und das Böse in ihnen wie durch ein Brennglas sehen, wenn also gutes Theater gespielt wird – erst dann haben diese Bretter wirkliche Bedeutung.

    Mein Leben haben sie mehr als alles andere geprägt, was mir je begegnet ist ...

    So könnten die Erinnerungen eines inzwischen älter gewordenen Schauspielers beginnen. Auch meine.

    Aber ich will einen anderen Anfang wählen:

    Ich war sechzehn Jahre alt und lebte bei meiner Schwes-

    ter in der alten Stadt Schwerin mit dem großen Schloss am großen See. Irgendwie musste ich einen Entschluss fassen, wie ich mein Berufsleben, das jetzt vor mir lag, gestalten sollte. Über meine chaotischen Jugendjahre vor diesem Entschluss werde ich erst etwas später erzählen.

    In einer Zeitung hatte ich gelesen, man könne sich beim Staatstheater in einer Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule bewerben.

    Direktorin des Schauspiels und Leiterin der Schule war Lucie Höflich, eine zu ihrer Zeit sehr bekannte Reinhardt-Schauspielerin aus der legendären Zeit des Deutschen Thea-ters in Berlin, eines hochberühmten Hauses, das auch für mich später so überaus wichtig werden sollte.

    Ich hatte damals keine Ahnung, was Theater überhaupt ist. Einmal hatte ich in Stolp, wo ich einen Teil meiner Jugend verbrachte, ein Gastspiel des Landestheaters Schneidemühl gesehen: Goethes »Faust«. Und auf der Oberschule hatten wir Schillers »Jungfrau von Orléans« durchgenommen, aber leider war dies eine Schule nur für Jungen gewesen, und so musste ausgerechnet ich die Jungfrau sein.

    Darüber lächele ich heute ein wenig, damals war ich wirklich fasziniert.

    Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten Triften,

    Ihr traulich stillen Täler, lebet wohl!

    Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,

    Johanna sagt euch ewig Lebewohl ...

    Johanna geht, und nimmer kehrt sie wieder!

    Natürlich wusste ich: Mit dieser Rolle konnte ich eine Aufnahmeprüfung nicht bestehen. Also, was tun? Ich lernte einen der Monologe des Ferdinand aus »Kabale und Liebe«. Ferdinand spricht ihn, bevor er Luise und sich mit der berühmten Limonade vergiftet:

    Das einzige Kind! – Fühlst du das, Mörder? Das einzige! Mörder! hörst du, das einzige? – Und der Mann hat auf der großen Welt Gottes nichts als sein Instrument und das einzige – du willst’s ihm rauben? …

    An einem schönen Sommermorgen des Jahres 1947, das dritte Jahr des Friedens hatte gerade begonnen, ging ich nun also voll banger Erwartungen zur Prüfung. Ich trug ein kariertes Hemd, dazu Seppelhosen mit Latz. Auf dem schildartigen Querriegel der dazugehörigen Hosenträger leuchtete, eingefasst von einer ovalen Plakette, ein weißer, röhrender Hirsch.

    In der Kantine des Theaters empfing mich Fräulein Wiebering, die Sekretärin der Intendantin. Bevor sie meine Personalien aufnahm, musterte sie mich stumm von oben bis unten. Fräulein Wiebering war ein schon etwas älteres Mädchen, sie schielte ein wenig.

    Nach meinem Alter befragt, antwortete ich mit fester Stimme, ich würde achtzehn, was ja irgendwie stimmte, wenn man davon absah, wann es denn so weit wäre. Achtzehn war das Mindestalter. Fräulein Wiebering sah mich wieder lange an und sagte dann: »Nun ja.«

    Vor mir war ein Herr an der Reihe, mindestens zehn Jahre älter als ich. Er sprach den »Faust« vor. »Habe nun, ach …« Den Text kannte ich vom Gastspiel des Theaters Schneidemühl her. Ich fand den Mann ungeheuer beeindruckend.

    Dann kam ich dran. Da stand ich nun mit meinen Seppelhosen, Hosenträgern und dem Hirsch mittendrin. Unten im Zuschauerraum saß die Prüfungskommission mit Frau Professor Lucie Höflich in der Mitte – und ich oben auf der Bühne. »Ich spreche den Ferdinand aus ›Kabale und Liebe‹.«

    »Bitte!«

    Ich begann. »Das einzige Kind! Fühlst du das, Mörder? Das einzige! Mörder! …« Na, und so weiter. Mir liefen Tränen übers Gesicht, so musste ich mich in die Rolle hineinversetzt haben. Ich war von mir selbst ergriffen.

    Als ich fertig war, entstand eine kleine Pause. Dann hörte ich die Stimme von Lucie Höflich aus dem dunklen Zuschauerraum: »Gott, ist das Bübchen süß!«

    Es traf mich wie ein Blitzschlag. Fassungslos stand ich auf der Bühne. Wie ich in die Wohnung meiner Schwester kam, weiß ich nicht mehr.

    Jedoch: Am Abend dieses Tages erhielt meine Schwester einen Anruf. Sie winkte mich ans Telefon. In der Leitung die Stimme von Lucie Höflich: »Willst du bei uns anfangen? Wir nehmen dich.«

    Mit diesen zwei Sätzen hat die große Schauspielerin diese einzige, alles entscheidende Weiche für mein ganzes langes Leben gestellt.

    Wie und warum Lucie Höflich ausgerechnet im mecklenburgischen Schwerin gelandet war, weiß ich nicht. Es hieß, sie sei aus dem zertrümmerten Berlin gekommen.

    Dort war ich vorher schon einige Male gewesen. Ich erinnere mich noch an die zahlreichen Volksredner, die ich in den Hallen des Bahnhofs Friedrichstraße oder des Stettiner Bahnhofs erstaunt beobachtete. Diese Gestalten, abgerissen oder von verblichener Eleganz, versuchten mit fanatischen Augen und wilden Gesten, Gott und die Welt von ihren obskuren Ansichten zu überzeugen. Sie standen auf mitgebrachten kleinen Hockern, jeder umgeben von einer mehr oder weniger großen Schar interessierter, belustigter Zuhörer, die dem Redner amüsiert oder böse widersprachen. Die Atmosphäre war hitzig, die Situation leicht verrückt: Der Krieg hatte auch viele Gedankenwelten zerstört und manchem den Verstand durcheinandergebracht ...

    Manchmal lese ich in den Interviews bekannter oder auch weniger bekannter Kollegen ein Bekenntnis von solcher Art: »Ich bin zweimal durch die Aufnahmeprüfung gefallen, und trotzdem habe ich es geschafft. Obwohl meine Eltern wollten, dass ich doch lieber einen ›anständigen‹ Beruf erlernen sollte.«

    Spielt bei dem Wort »anständig« in diesem Zusammenhang nicht auch ein wenig der nicht ganz uneitle Gedanke mit: Weil auch eine große Begabung gelegentlich nicht gleich erkannt wird, fällt sie halt mal durch eine Prüfung?

    Bei mir war alles sehr einfach: Es begann mit Freude und Neugier auf den Beruf. Das war dieselbe Freude, die ich später vielfach durch meine Arbeit empfing, die ich hoffentlich manchmal an meine Zuschauer weitergeben konnte und die mir bis heute geblieben ist.

    So kam ich zum Theater.

    Als frischgebackener Schauspielschüler hielt ich mich natürlich den ganzen Tag im Theater auf. Vormittags herrschte auf der Bühne und in den Arbeitsräumen geschäftiges Treiben, nachmittags wurde es ruhig. Oft saß ich in diesen stillen Momenten lesend im Rangfoyer. Einmal hörte ich ein leises Singen.

    Dezent wankenden Schrittes kam Lucie Höflich aus ihrem Amtszimmer und ging an mir vorüber, ohne mich zu bemerken. Als sie nach einer Weile zurückkam, grüßte ich sie höflich. Sie grüßte zurück, und ich bemerkte eine leichte Fahne, eher einen Wimpel, der sie umflatterte. Am Theater hieß es, sie tränke recht gern mal ein kleines Schnäpschen.

    Hatte das vielleicht mit dem Auf und Ab in ihrem langen Theaterleben zu tun? Sie war, so wie ich durch sie, ebenfalls mit sechzehn Jahren zur Bühne gekommen, hatte am Wiener Raimundtheater gespielt und blieb dann ab 1903 beinahe ununterbrochen für fast drei Jahrzehnte am Deutschen Theater in Berlin.

    Sie erlebte die große Karriere einer Stummfilmdiva.

    Zwar wurde ihr 1922, als die Rolle der »Nora« in der Verfilmung von Henrik Ibsens Stück zu besetzen war, Olga Tschechowa vorgezogen, was sie sehr gekränkt haben muss, die »Mutter Wolffen« in Gerhart Hauptmanns »Biberpelz« gehörte etwas später jedoch zu ihren zahlreichen bedeutenden Erfolgen.

    Zeitweilig hatte sie mit Emil Jannings zusammengelebt. 1933, kurz nach dem Machtantritt der Nazis, wurde sie als Direktorin an die Staatliche Schauspielschule Berlin berufen, führte aber nach 1934 ein eigenes Studio für Schauspielkunst. Zu Beginn des Krieges spielte sie in mehreren Nazipropaganda-Streifen Mütterrollen, in denen sie auf die Tränendrüsen der verführten Zuschauer drückte.

    Nun war sie in Schwerin gelandet, in der russischen Zone.

    Irgendwann sprach sich herum, wer ihr den Cognac beschaffte. Es war einer meiner Kommilitonen im nächsthöheren Studienjahr, der nun wirklich über keine große Begabung verfügte, und wir wunderten uns alle, wie er überhaupt auf unsere Schule gekommen war. Offenbar verfügte er als Schwarzmarktspezialist über größere Fähigkeiten. Und der Schwarzmarkt stand zu dieser Zeit in vollster Blüte.

    An einem Vormittag machte ich im Zimmer vier des Thea-ters meine täglichen sprechtechnischen Übungen. Da stand plötzlich Lucie Höflich in der Tür und sagte unvermittelt zu mir: »Nicht zu ehrgeizig sein!«

    Ich nahm mir diese Ermahnung zu Herzen und übte jeden Tag eine Viertelstunde weniger.

    Lucie Höflich hatte mit ihrem Hinweis mehr gemeint und in einem höheren Sinne recht: Ich war damals, am Anfang, in jeder Hinsicht zu ehrgeizig. Ein wenig Gelassenheit stand mir später ganz gut zu Gesicht.

    Während ihrer Zeit in Schwerin spielte Lucie Höflich die Elsbeth Treu in Sternheims »Kassette«. Voller Ehrfurcht bewunderte ich sie in dieser Rolle, trotzdem fiel mir ihre gewisse Textunsicherheit auf. Sie war damals noch nicht fünfundsechzig.

    Etwas später spielte sie dieselbe Rolle am Deutschen Thea-ter in Berlin unter der Regie von Falk Harnack. Ihre Presse war nicht gut. Da bat sie uns, ihre Schweriner Schauspielschüler, gemeinsam einen Brandbrief an die Redaktion einer großen Berliner Tageszeitung zu schicken. Obwohl wir uns fragten, wozu das gut sein sollte, taten wir es natürlich.

    1956, kurz vor ihrem Tod, hatte Lucie Höflich noch einmal eine Filmrolle in »Anastasia, die letzte Zarentochter«. Das war nun gerade kein sehr bedeutender Film. – Noch heute bin ich traurig über das schnelle Ende dieser großen realistischen Charakterdarstellerin, deren »Wir nehmen dich!« ich so vieles, um nicht zu sagen alles verdanke.

    Eigentlich wollte ich meine Erinnerungen gar nicht aufschreiben. Ich halte mich als Person nicht für so wichtig. Wer mich kennt, wird das bestätigen, aber manches von meinem »Drumherum« ist vielleicht doch ganz interessant. Es ist ja immerhin auch ein Stück Zeit- und Theatergeschichte. Sei’s drum, man konnte mich überreden. Aber womit fange ich an? Natürlich mit meiner Kindheit.

    Oft habe ich in Memoirenbänden über die glücklichen und unbeschwerten Kinderjahre des jeweiligen Schreibers gelesen. Und jeder weiß ja auch, wie einem die eigene Kindheit im Alter immer harmonischer, immer verklärter erscheint. Wahrscheinlich hat das die Natur zur Vorbereitung auf unseren unvermeidlichen Tod so eingerichtet, und es ist auch bei mir nicht anders.

    An meinem Kindheitshimmel gibt es allerdings auch dunkle, bedrohliche Wolken. So ganz unbeschwert war meine Kindheit nicht, und ich habe das auch nicht vergessen. Ich weiß nicht, ob meine Geschwister – wir waren fünf Jungen und drei Mädchen – auf sich bezogen anderer Meinung waren oder sind.

    Ich wurde im Januar 1931 in der Kleinstadt Schlawe in Ostpommern, ungefähr fünfzehn Kilometer von der Ostsee entfernt, geboren. Mein Vater war Friseur-Obermeister, hatte ein Geschäft nur für Herren, das wahrlich keine großen Einkünfte erbrachte. Ich war der Jüngste in der Familie und wurde natürlich ein bisschen vorgezogen.

    Als ich einmal fünfzig Pfennige verloren hatte, wurde ich zu meinem Vater geschickt, der in der Berufsschule gerade die Lehrlinge unterrichtete, um ihm den Verlust zu beichten. Sehr zaghaft klopfte ich an die Tür, mein Vater öffnete selbst. Ich flüsterte ihm mein Missgeschick ins Ohr. Er beruhigte mich, streichelte meinen Kopf und schickte mich nach Hause.

    Fünfzig Pfennige waren im Jahre 1936 für uns sehr wichtig. Wenn es mein eigenes Geld gewesen wäre, hätte ich dafür beim Kolonialwarenhändler gegenüber fünfzig wunderbare Sahnebonbons bekommen.

    Unser Hauswirt in Schlawe, der alte Herr Lüdtke, züchtete Tauben. Wenn er mich in den großen Taubenschlag mitnahm, war ich von den hübschen Tieren wie verzaubert. Die Stille, die dort herrschte, schien von deren friedlichem Gurren noch verstärkt zu werden. Als Herr Lüdtke unvermittelt einigen der Vögel den Hals umdrehte, um sie für die nächste Mahlzeit zurechtzumachen, war ich entsetzt.

    Wenn Herr Lüdtke Kaninchen schlachtete, gab er mir die Felle, die verkaufte ich, für das Geld bekam ich eine Tüte Kokosflocken. Der Hauswirt lud mich manchmal zum Tee ein, dazu gab es wunderbare Kekse. Den Tee tranken wir aus tiefen Untertassen. – Der alte Mann und der fünfjährige Junge: ein Zusammensein, das wir beide sehr liebten.

    Später wurde ich oft gefragt, was man braucht, um ein guter Schauspieler zu werden. Ich gab immer die eine Antwort: »Vor allem Begabung, das schließt viel Fantasie ein.«

    Pferde liebte ich über alles, also redete ich meinen gleichaltrigen Spielkameraden ein, ich hätte im nahe gelegenen Wald einen Stall mit zehn Pferden, und sie glaubten es mir. Auf dem Weg zu diesem imaginären Stall entschieden wir, wer den Schimmel reiten soll, wer die Braune und wer den Falben. Alle glühten wir vor Begeisterung. Aber als wir endlich in die Nähe des Stalles kamen, entschied ich kurz entschlossen, es sei heute nicht günstig, einen Ausritt zu machen, und wir kehrten um. Das wiederholten wir an vielen Tagen, bis jeder von uns wusste, ich besaß gar keinen Pferdestall, und es gab in diesem Wald auch überhaupt keinen. Aber wir liebten dieses Spiel. Der Fantasie war ein großer Raum gewährt, und in der Ferne hatte das auch mit meinem späteren Beruf zu tun.

    Als Vierjähriger machte ich mit meiner älteren Schwester Magdalena in der Vorweihnachtszeit einen Bummel durch die Einkaufsstraße unseres Städtchens. Die Stadt war in Schnee gehüllt, und in den Auslagen der Geschäfte lagen die verlockendsten Dinge. Meine Schwester hielt mich an der Hand.

    Plötzlich interessierte mich etwas in einem Schaufenster auf der gegenüberliegenden Seite. Ich riss mich unvermittelt von ihrer Hand los, lief über die dunkle Straße, und ein Auto fuhr mich frontal an. Der Wagen fuhr mich um, rollte über mich hinweg, ich lag längs zwischen den Rädern. Gott sei Dank hatte das Auto eine sehr große Bodenfreiheit, und mir passierte gar nichts.

    Ich erinnere mich noch, wie ich, umgeben von vielen Menschen, nach Hause getragen wurde. Vom Autobesitzer bekam ich eine riesige Tüte Bonbons.

    Später wurde mir erzählt, am nächsten Tag habe in der Zeitung gestanden: »Kind überlebt Autounfall wie durch ein Wunder!« – Noch war ich im Himmel unerwünscht.

    Einmal nahm mich meine Mutter zum Besuch einer entfernten Verwandten mit, der es nicht gut ging. Es war abends und schon dunkel. Im kleinen Zimmer, in dem die Kranke lag, war es schummrig. Einige mir unbekannte Erwachsene standen herum und murmelten Gebete. Am Kopfende des Bettes saß ein Mann auf einem Hocker. Er weinte leise. Wahrscheinlich war es der Ehemann der Kranken. Im Bett sah ich nur das winzige Gesicht der Frau, von einer viel zu großen Nachthaube halb verdeckt. Dann kam ein Arzt, er beugte sich über das kleine Gesichtchen und sagte: »Sie ist tot!« – Dass man so schnell tot sein konnte, begriff ich nicht.

    Auf dem Heimweg fragte ich meine Mutter, warum der Mann geweint habe. Sie antwortete mir: »Der war nie gut zu seiner Frau und dauernd betrunken, und nun hat er ein schlechtes Gewissen.«

    Da soll ich gesagt haben: »Ich werde zu meiner Frau später immer gut sein!« – Ob das wirklich so war, muss meine Frau beurteilen. Mit dem »immer« wird es wohl nicht so ganz geklappt haben. Es wäre für ein ganzes Leben vielleicht auch ein bisschen langweilig gewesen. Wie es bei Theodor Storm heißt:

    Blüte edelsten Gemütes

    Ist die Rücksicht; doch zuzeiten

    Sind erfrischend wie Gewitter

    Goldne Rücksichtslosigkeiten.

    Walter, den Sohn unseres Hauswirts, fünfzehn Jahre älter als ich, hatte ich zum Freund. Er war sehr sportlich, fuhr Kanu, boxte in einem Verein und tat sich als leidenschaftlicher Eissegler hervor. In den Wintern dazumal war dieser Sport auf der Ostsee in Strandnähe sehr oft möglich.

    Eines Tages stand ich auf einer kleinen Holzbrücke, die über die Motze führte, einen Nebenfluss der Wipper, und warf Steine ins Wasser. Da erschien mein Freund zufällig mit seinem Faltboot unter der Brücke. Im Spaß rief er mir zu: »Komm doch runter!«

    In blindem Vertrauen sprang ich die zwei Meter ins Wasser und blieb im morastigen Grund stecken. – Ich bin später mit meinen Vertrauensbeweisen etwas zurückhaltender geworden.

    Mit Walter Lüdtke machte ich einen Tagesausflug von Schlawe nach Rügenwalde. An einem warmen Frühlingsmorgen fuhren wir mit seinem Faltboot los, auf der Wipper die fünfzehn oder zwanzig Kilometer stromabwärts nach Rügenwalde. Ich habe noch heute die Bilder von damals vor Augen: Dunkelgrüne Wälder gleiten vorbei, helle Wiesen, schwarzweiße Kühe am Ufer. Die tiefhängenden Zweige der Weiden spiegeln sich im stillen Wasser. Lerchen steigen flatternd und singend in den Himmel, abseits gelegene Bauernhäuser fahren langsam über das hohe Flussufer.

    Für eine Pause zogen wir das Boot an Land. Auf dem Gras breiteten wir eine Tischdecke aus, wir aßen und tranken. Und immer die Stille.

    Nach der Ankunft in Rügenwalde »falteten« wir das Boot zusammen und fuhren mit dem Zug nach Hause zurück. – Was für ein glücklicher Tag für mich. Ein großes, unvergessliches Erlebnis.

    Kurz danach war ich Zeuge, wie eine Gruppe von Jungen vor einem ungefähr drei Meter tiefen Betonschacht stand, in den ein kleines Kätzchen gefallen war. Das konnte sich allein nicht retten. Und die Kinder versuchten auch gar nicht, dem Tier zu helfen, sondern warfen Steine in den Schacht.

    Am nächsten Tag wagte ich einen Blick in das dunkle Loch. Da lag das tote Tierchen. Das Bild hat mich lange gequält, und ich habe es ebenfalls bis heute nicht vergessen.

    Was treibt junge Menschen, Kinder, zu solchen Handlungen? Wenn junge Menschen heutzutage grausame Dinge begehen, die Opfer fordern, stellt man neben die Blumen und Kerzen ein Schild. Auf dem steht: »Warum?« Und wo ist die Antwort auf diese Frage?

    Mein Klassenlehrer in der ersten Klasse trug einen dunkelbraunen Nadelstreifenanzug. Er

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