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KALIFORNIA: Ein Cyberpunk-Roman
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eBook324 Seiten4 Stunden

KALIFORNIA: Ein Cyberpunk-Roman

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Über dieses E-Book

Im Jahr 2050 hat das interaktive Fernsehen seinen Höhepunkt erreicht: Eine permanente Verbindung zum Hauptdarsteller einer Lieblingsserie ist Realität geworden. Millionen Menschen können dessen Schicksal rund um die Uhr mit ihm teilen, seine Gefühle live miterleben, mit ihm leiden und lachen und glücklich sein. Und der Deal mit dem Publikum bringt den Darstellern ein Vermögen ein.

Doch Sandy Figueroa aus der beliebten Figueroa-Familie hat dieses Geschäft gründlich satt. Im Gegensatz zu seiner Schwester Poppy, die sogar ihr ungeborenes Baby im Mutterleib schon für Reality-TV präparieren lässt, möchte er aus dem Medien-Rummel aussteigen. Doch das ist für einen Verdrahteten nicht eben einfach – insbesondere dann, wenn aus dem Reality-TV durch die verrückten Anhänger einer blutrünstigen Sekte grauenvolle Realität wird...

Marc Laidlaws dritter Roman, erstmals im Jahr 1993 erschienen, ist eine brillante, düstere Satire über die Macht und Absurdität der Medien und über die Sensationsgier eines auf die niedrigsten Instinkte reduzierten Publikums. Überdies gilt KALIFORNIA als Klassiker der zweiten Generation von Cyberpunk-Romanen.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum31. Jan. 2018
ISBN9783743853409
KALIFORNIA: Ein Cyberpunk-Roman

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    Buchvorschau

    KALIFORNIA - Marc Laidlaw

    Das Buch

    Im Jahr 2050 hat das interaktive Fernsehen seinen Höhepunkt erreicht: Eine permanente Verbindung zum Hauptdarsteller einer Lieblingsserie ist Realität geworden. Millionen Menschen können dessen Schicksal rund um die Uhr mit ihm teilen, seine Gefühle live miterleben, mit ihm leiden und lachen und glücklich sein. Und der Deal mit dem Publikum bringt den Darstellern ein Vermögen ein.

    Doch Sandy Figueroa aus der beliebten Figueroa-Familie hat dieses Geschäft gründlich satt. Im Gegensatz zu seiner Schwester Poppy, die sogar ihr ungeborenes Baby im Mutterleib schon für Reality-TV präparieren lässt, möchte er aus dem Medien-Rummel aussteigen. Doch das ist für einen Verdrahteten nicht eben einfach – insbesondere dann, wenn aus dem Reality-TV durch die verrückten Anhänger einer blutrünstigen Sekte grauenvolle Realität wird...

    Marc Laidlaws dritter Roman, erstmals im Jahr 1993 erschienen, ist eine brillante, düstere Satire über die Macht und Absurdität der Medien und über die Sensationsgier eines auf die niedrigsten Instinkte reduzierten Publikums. Überdies gilt KALIFORNIA als Klassiker der zweiten Generation von Cyberpunk-Romanen.

    Der Autor

    Marc Laidlaw, Jahrgang 1960.

    Marc Laidlaw (geb. 1960) ist ein amerikanischer Schriftsteller von Cyberpunk-, Science-Fiction- und Horror-Literatur sowie ein ehemaliger Skript-Autor beim Videospiel-Entwickler Valve Corporation.

    Zu seinen populärsten Arbeiten zählen - neben der beliebten Ego-Shooter-Serie Half-Life von Valve - die Romane Dad's Nuke (1985, dt.: Papis Bombe, 1987) und The 37th Mandala (1996); letzter wurde 1997 für den World Fantasy-Award nominiert und wurde 1996 mit dem International Horror Guild Award ausgezeichnet. Überdies wurde sein Roman Neon Lotus (1988, dt. Neon Lotus, 1995) im Jahr seiner Veröffentlichung für den Philip K. Dick-Award nominiert.

    Laidlaw wurde 1960 geboren und wuchs auf in Laguna Beach, Kalifornien. Dort besuchte er die University of Oregon, wo er die Programmierung von Computer-Lochkarten studierte, dies jedoch bald entmutigt aufgab.

    Anschließend schrieb er diverse Kurzgeschichten - darunter die Erzählung Nutrimancer (1987), eine herrliche Parodie auf William Gibsons Roman Neuromancer (1984). Laidlaws erster Roman, Dad's Nuke, wurde 1985 veröffentlicht. Darauf folgten einige weitere Romane im Verlauf der (19)90er Jahre – u.a. Kalifornia (1993, dt.: Kalifornia, 1995) -, dennoch arbeitete er weiterhin als Rechtssekretär in San Francisco.

    Gelegentlich spielte Marc Laidlaw Computer- und Arcade-Spiele, war keines davon vermochte ihn auf Dauer zu faszinieren. Erst das Adventure-Spiel Myst (1993) veränderte schließlich seine Wahrnehmung dieser Spiele. Eigens dafür, um Myst in seinem Haus in San Francisco spielen zu können, kaufte er einen modernen Computer. Mit seinem neu gefundenen Interesse schrieb er The Third Force (1996), einen Roman, der auf dem Gadget-Computerspiel basiert. Sein Lieblings-PC-Spiel ist Thief: The Dark Project.

    Die Zusammenarbeit mit Spieldesignern führte schließlich dazu, dass er seine Unterstützung anbot, um ein aktuelles Spiel zu entwerfen. Er trat der Valve Corporation bei, während sie Half-Life (1998) entwickelten und an der Story sowie dem Level-Design des Spiels arbeiteten. Bei Valve arbeitete er später an Half-Life-Erweiterungen und Half-Life 2. Er beendete seine Mitarbeit bei Valve im Januar 2016 mit dem Hinweis darauf, dass der Hauptgrund hierfür sein fortschreitendes Alter sei und dass er stattdessen plane, zum Schreiben seiner eigenen Originalgeschichten zurückzukehren.

    Im August 2017 veröffentlichte Laidlaw ein Werk mit dem Titel Epistle 3, dem die Handlung von Half-Life 2: Episode 3, die er während seiner Zeit bei Valve erdacht hatte (wenn auch mit veränderten Charakternamen und Orten), zugrunde liegt.

    KALIFORNIA

    »Es ist keineswegs unvernünftig,

    nahezu jede Art von Unregelmäßigkeiten

    in einem ebenso entfernten wie vernachlässigten Bundesstaat

    wie Kalifornien zu erwarten.«

    - California Reporter 582 (1906)

      Vorschau

    Feedback.

    »Alles Gute zum Geburtstag, Kalifornien.«

    »Ich wünsche dir einen schönen Tod...«

    Du wirst es mir mit Küssen und Kredit danken.

    Der Wald glitschiger Missbildungen erhob sich wie etwas, das vom Boden des Meers ausgekotzt worden war.

    »In deiner Wurzel-Chakra ist ein Haarknäuel.«

    »Sonnenbräune, Mann! Alles Bräune!«

    Kali-Kali-Kalifornia !

    »Er möchte die Drähte entfernt haben.«

    »Die Leute wollen in sie rein. Sie wollen fühlen, was sie fühlt.«

    - frei von ihrem trüben Ektoplasma.

    »Viel zu knallig...«

    »Du fühlst, wie du scheibchenweise aufgeschnitten wirst, während du gleichzeitig selbst die Scheibchen schneidest.«

    »Jetzt würde ich gern Sushi essen.«  

    - heiße Schokolade und gebratene Zwiebeln.  

    »Bloß weil dir Vergnügen Angst einjagt.«

    Meine Tochter...

    »Willkommen in Libidopolis!«  

    Feedback.    

    - glitzerte im dunklen Eingang, als Kerzenschein die schlanken Stäbe und Drähte auf und abwanderte.  

    »Das ist der Moderator von News 90.«  

    »Aber ich habe gefühlt, wie du gestorben bist!«

    »Keine Familienshow?«   

    »Ich habe vergessen, dass du keine Rolle gespielt hast.«

    »Krrrauuu.«

    »Madam, es ist nicht nötig, unschuldige Kinder abzuschlachten.«

    »Aber das ist sie nicht!«

    »Es ist kupferfarben, Baby...«

    »Ein Traum, ein Tanz. Maya.«

    »Das Kind hat eine Geburtsschuld.«  

    » - Fressen für Riesengeier!«

    »Und du nennst dich einen Seehund?«

    »Kali-ma! Kali-ma!«  

    »Stimmt es, dass ihr Hunde ein schlechtes Langzeitgedächtnis habt?«

    »Bald werdet ihr so blind und weiß wie Grottenolme sein.«

    »Ich ziehe es vor, es für synthetisch zu halten.«

    Die Ehrwürdige Tochter erkannte einen Penis, wenn sie einen sah.

    »Treiben... dahintreiben mit dem dürren Laub.«

    »Ich nehme an, du benutzt keine Berater mehr für  deine Garderobe?«

    »So eine Art Eisernes-Kleinkind-Mode.«

    »Aber hallo! Jetzt weiß  ich sicher, dass  du in einem Reagenzglas ausgebrütet  wurdest.«  

    »Die einzige Mutter, die dieses Kind je kennenlernen wird, ist unsere dunkle Göttin Kali.«  

    - gegen das Fenster im Büro gefallen und hat die Nacktschnecken aufgesaugt, die an der Scheibe klebten.

    »Sie studieren die Dinge, um die Gott sich nicht kümmert.«

    Fleisch ist so... abstoßend!

    »Männer! Köter und Männer!«

    Krabben und Reis. Kein Preis!

    »Papi, er soll aufhören! Er macht meine Sex-Toys kaputt!«

    »Sie hat völlige Kontrolle über das Militär!«

    »Kali-Kali-Kali-ma!«

    Inzwischen schossen die Nonnen bereits.

    »So wenige Seehunde im Publikum.«

    »Jetzt... schau mir in die Augen!«

    »Elvis lebt!«

    Feedback...

    WEITER!

    TEILS EINS

      1. Geburt live

    Beinahe Mittemacht.  

    Poppy lag in der Dunkelheit. Und außerhalb.

    Schweiß bedeckte ihr Gesicht wie eine Schönheitsmaske. Ihr Keuchen klang wie die Schreie eines Fremden. Aber das war nur eine Hälfte von ihr.  

    Die andere Hälfte glitt in einem sich kräuselnden, muskulösen Schweigen dahin. Mutter und Kind. Sich selbst gebärend.  

    Die Gipswände mit den schäbigen Tapeten des alten Hotels erstickten ihre Schreie. Mit den Fingern bohrte sie Löcher in die Schaumgummimatratze. Blutlachen bildeten sich auf der mit Plastik beschichteten Bettwäsche. Warme Flüssigkeit strömte in rhythmischen Stößen aus ihrem Schoß. Sie fühlte sich wie ausgelaugt, aber noch nicht leer. Sie war so erschöpft, dass sie sich nicht vorstellen konnte, weiter durchzuhalten. Aber der schlimmste Teil kam noch.  

    Die Fötaldrähte arbeiteten seit dem siebten Monat und hatten auf einer privaten Nabelschnurleitung gesendet, die von allen anderen Empfängern abgeschirmt war. Poppy hatte Zugang zu ihrer Tochter durch diesen Draht, der als Zweiwegkanal diente, bis die Schnur schließlich gekappt wurde. Durch die Säuglingsaugen mit den schweren Lidern blickte sie hinaus in die orangefarbene Dämmerung und hörte in den mit Flüssigkeit gefüllten Ohren den eigenen Herzschlag und den ihrer Mutter. Dieser Teil von Poppy war nicht ausschließlich Poppy. Das kleine Mädchen  - provisorisch Calafia genannt -  hatte ein selbständiges Leben. Ihre Seele war ein heller Fisch, der sich nicht in dem Schlagnetz der Drähte verfing. Von Zeit zu Zeit fragte sich Poppy, ob ihre Tochter ab und zu in die Nabelschnur und die Drähte ihrer Mutter hineinkroch, um durch Poppys Augen zu sehen und durch ihre Ohren zu hören.  

    Hier gab es allerdings nichts, was sehenswert gewesen wäre. Nichts, woran sich ein Kind erinnern sollte.

    Hässliche  Wände. Eine gelbe Glühbirne in einer antiken Fassung an der Decke. Verbogene Jalousien hingen wie dünne Rippen hinter den verstaubten Gardinen. Es war eine Schande, dass  ihre Tochter diesen hässlichen Anblick als ersten auf der Welt haben sollte - diese Bruchbude, ohne jede Schönheit oder einen Hinweis auf die Wunder der modernen Zeit. Poppys Draht-Ehemann, Clarry Starko, hielt diesen Gegensatz von heruntergekommenem Hotel und neuem Leben für einen grandiosen Regie-Einfall. Sie hatte sich nie von ihm dazu überreden lassen wollen; aber laut Vertrag stand ihm das Recht zu, über so vage Punkte wie kreative Kontrolle zu entscheiden.

    Clarry war irgendwo in der Nähe, wie immer unsichtbar. Sie spürte beinahe seine Finger auf ihrer Seele. Er arbeitete im Übertragungswagen des Studios, überwachte alles auf den Monitoren, überprüfte die sensorische Qualität, zeichnete alles auf und schnauzte die Mitarbeiter an. Ein Dutzend Menschen hing an Poppys Wahrnehmungen - Millionen warteten auf die Sendung dieser Nacht, aber niemand half ihr. Sie war hier völlig allein, im Griff einer uralten Macht. Sie spürte, wie sie sich hin und her wälzte und presste, presste.  

    Die beiden Wahrnehmungssysteme verschmolzen, überlappten sich und wurden unscharf. Jeder Atemzug schmeckte nach einer warmen salzigen Flüssigkeit. Das Zimmer wurde dunkel und still, während ihr Schoß plötzlich mit Licht und Lärm überschwemmt wurde. Die Glocke schlug in ihrem inneren Ohr. Mittemacht.

    Es war der 9. September 2050.

    Zweitausendundfünfzig Jahre nach Christus, wer auch immer das gewesen sein mochte. Irgendeiner jener über tausend Götter, die man in Kalifornien verehrte.  

    Auf den Straßen wurde Jubelgeschrei laut. Fremde hießen das Kind willkommen, ohne es zu wissen. Heute war Kalifornien zweihundert Jahre alt, und Calafia - zehn Sekunden alt - wurde von derselben unwiderstehlichen Kraft aus der Dunkelheit herausgepresst, die sie eines Tages dorthin zurückzerren würde.  Die Schmerzen ließen etwas nach und verhießen Erlösung. Jetzt war der entscheidende Moment da!

    Wie ein Wassermelonenkern flutschte sie heraus. Jetzt war überall Licht. Kein Teil von ihr war mehr im Dunkeln. In ihren Ohren dröhnte es wie Meeresrauschen. Zwei Paar Ohren hörten jetzt die lärmende Menge unten. Eine warme Septembermitternacht in Kalifornien. Die Mitternacht ihrer Geburt.

    Als Poppy erschöpft zusammensank, spürte sie dennoch, wie Stärke in ihr aufstieg. Sie schloss die Augen für einen Moment...

    Ein zweites Paar Augen zitterte und öffnete sich. Es starrte auf die unscharfe gelbe Helligkeit. Sie fröstelte in der trockenen Luft, die so kalt war verglichen mit dem Ort, von dem sie gekommen war.

    Sie öffnete den Mund und schrie kläglich.

    Poppy setzte sich auf. Ihre Tochter lag zwischen ihren Beinen und blickte zur Decke hinauf. Einen Augenblick lang sah sie ganz deutlich, was ihre Tochter sah: Verschwommene Lichter und Farben. Irgendwie schön, trotz der Hässlichkeit des Zimmers. Dann eine warme, duftende Gestalt. Ihre eigenen Hände nahmen sie liebevoll hoch, um ihr ins eigene Gesicht zu schauen.

    Als sich die Augen von Mutter und Tochter trafen, schoss ein grauenvoller Schmerz durch beide. Rückkopplung! Beinahe hätte Poppy Calafia fallen lassen.

    Der Schmerz ging durch und durch und bedrohte die Seelen von beiden, auch die neugeborene.

    Poppy legte ihre Tochter ab. Ein durchsichtiges, schimmerndes koaxiales Kabel mit dünnen und bunten und zusammengedrehten Drähten lief von Calafias Leiste in Poppys Vulva. Poppy zog noch ein Stück Kabel aus ihrem Schoß. Ein kleiner schwarzer Ring kam zum Vorschein. Sie drehte den Verbindungsring und zertrennte so feinsäuberlich die Nabelschnur. Dabei spürte sie ein dumpfes Zwicken.

    Dann fühlte sie sich... verkleinert.

    Wieder nur zwei Augen, zwei Ohren. Sie war wieder sie selbst, allein, niemand anderer mehr. Nichts extra.

    Poppy zog an dem Kabel, das aus ihr heraushing, und spürte die entsprechenden Rucke im Innern. Sie biss die Zähne zusammen und riss noch einmal mit aller Kraft. Ein kurzer Schmerz - und die Nachgeburt kam heraus. Ein vom Blut glitschiges Netz glitt aufs Bett. Es sah aus wie die Wurzel irgendeiner exotischen Schlingpflanze. Bis auf die allmählich schwächer werdenden Erinnerungen an die Wehen hatte Poppy keine Schmerzen. Nachdem ihr Schaltkreis von dem des Kindes getrennt worden war, bestand auch nicht mehr die Gefahr einer Rückkopplung. Bis einige Einstellungen von Hand bei Calafias System gemacht waren, konnte niemand ihre Drähte über einen Monitor anzapfen. Das Kind hatte jetzt eine Privatsphäre, die Poppy verwehrt war.

    Schmerzen und Erschöpfung machten Freude Platz.

    Mein Baby, dachte Poppy. Meine Tochter.

    Das Mädchen lag still da und reckte die Ärmchen und Beinchen in die Höhe. Mund und Augen waren geschlossen. Poppy hob es hoch. Da gingen die Augen wieder auf.

    Orangefarbene, strahlende Flammen. Lebhafte Augen.

    Figueroa-Augen.

    Poppys Augen waren ebenso orange wie die ihrer Brüder Sandy und Ferdinand und ihrer Schwester Miranda. Aber am meisten ähnelte das Baby ihrem Vater Alfredo. Wie er hatte Calafia ein faltiges Gesicht und kaum Haare. Sogar der mürrische Ausdruck war ganz Alfredo!

    Das war auch kein Wunder.

    Calafia war schließlich seine Idee gewesen.

    Nur die neueste und beste Technologie für den jüngsten Neuzugang zum Figueroa-Clan.

    Calafia war das erste Kind, das mit Drähten geboren worden war.

    Und sie war bereits jetzt ein Star.

    Poppy seufzte und hielt den Säugling an die Brust. Sie war dankbar für diese wenigen ruhigen Augenblicke. Der Preis, ein Star zu sein, war eine anstrengende Geschichte. Clarry Starko hielt sich nie lange mit zarten Augenblicken auf. Pausen in seinen Sendungen wurden immer durch einen Schrei oder eine Explosion unterbrochen.

    Manchmal fragte sich Poppy, ob Clarry tatsächlich der geeignete Regisseur für jemand mit ihrer Ausdrucksfähigkeit war. Als er ihr die Idee für die Serie zum ersten Mal vorgetragen hatte - zu einem Zeitpunkt, als sie verzweifelt Arbeit gesucht und nicht mehr geglaubt hatte, dass sie eine Karriere über die Drähte hatte - war sie für seine Begeisterung dankbar gewesen. Wie hätte sie ihm absagen können? Und bis jetzt war es für sie super gelaufen. Aber irgendetwas kollidierte bei dem hektischen Tempo des Programms mit ihren natürlichen Neigungen. In der alten Show, der Familienshow, war sie stets das Sensibelchen gewesen. Oft hatte sie sich um die Geschwister kümmern müssen, wenn die zunehmend analytisch denkende Mutter eigene Ziele verfolgte. Oft hatten die Geschwister bei Poppy nach der Zärtlichkeit gesucht, die sie brauchten, was allerdings nicht häufig vorkam. Poppy sehnte sich oft nach ruhigen Zeiten, wo Gefühle herrschten oder man sich zumindest sinnvoll unterhielt. Aber für Clarry gab es nur das halsbrecherische Tempo, Drehbücher mit Intrigen, unvorhersehbarer Gewalt, Verdrehung der Realität und einen möglichst verkorksten Schluss. Sie passten eigentlich nicht zusammen - und waren daher ein genauso hybrides Paar, für die Hollywood berühmt war. Verkrampft. Unberechenbar.

    Manchmal musste Poppy zugeben, dass sie den Job hasste. Aber es war alles, was sie hatte. Ihre Show.

    Und jetzt ihre Tochter.

    »Komm, wir machen dich sauber und wickeln dich ein«, flüsterte sie zärtlich.

    Handtücher und Babysachen lagen auf dem Nachttisch. Sie wischte Calafia vorsichtig ab, wobei sie besonders auf die Genitalien - so wie diese waren - achtete. Ein Kabel mit einem silbrig glänzenden Adapter hing aus der Leiste des Babys. Poppy zog die Nabelschnur heraus und ließ sie neben das Bett fallen. Dann wickelte sie die Kleine in ein weiches Baumwolltuch und danach in eine feste Decke mit stoßdämpfender Auflage. (An den Zweck dieser Decke wollte sie nicht denken.) Schließlich noch eine weitere Decke. Dabei flüsterte sie ständig mit ihrer kleinen Tochter.

    »Calafia ist doch ein hübscher Name, oder etwa nicht? Du hast am selben Tag Geburtstag wie Kalifornien. Heute vor zweihundert Jahren wurde es ein Staat. Ist das nicht ein schöner Zufall?«

    Es war kein Zufall. Sie sagte dies nur, weil es sich in der Show gut machte. Alles, was sie dachte, wurde übertragen. Sie fügte manchmal ein paar eigene Sätze ein, damit es für das Publikum, das später die Show sah, keine Lücken gab. Alle Stars - bis auf einige ganz verschrobene Typen - führten permanent Selbstgespräche, um das Publikum ja auf dem Laufenden zu halten. Es war das goldene Zeitalter der Monologe.

    Dabei gab es heute Nacht wirklich jede Menge zu hören. Der Lärm auf den Straßen der Stadt, das Feiern, wurde von Minute zu Minute zu lauter.

    Jetzt jeden Augenblick...

    Irgendwo in der Nähe klirrte Glas. Poppy wusste nicht, ob es im Hotel gewesen war oder nicht.

    Sie nahm das Kind auf den Arm und lief zum Fenster. Schnell zog sie die Jalousien hoch und blickte auf die Straße.

    Die Welt zehn Stockwerke tiefer lag in weiter Ferne. Sie hatte das Gefühl, als blicke sie in einen Abgrund.

    Auf dem Gang vor dem Zimmer flüsterte jemand.

    Man hatte sie gefunden. Die Gestalten in Clarrys kompliziertem Drehbuch sollten seinem Spezial zur Zweihundertjahrfeier noch zusätzliche Spannung verleihen. Sie hörte beinahe die Vorschau: »Poppy und ihr neugeborenes Baby in großen Schwierigkeiten. Alles in der nächsten Episode von Poppy auf der Flucht

    Sie lauschte atemlos. War das eine raue Stimme? Keuchen? Schritte?

    Ein Hund bellte.

    Es klang grauenvoll.

    Aber es gab noch Hoffnung. Das Gebäude war so alt, dass es noch eine Feuerleiter hatte. Straßenlichter, Neonreklamen, die Scheinwerfer der vielen Autos, schimmerten durch die Eisensprossen und versprachen ihr einen momentanen Vorteil. Besser als nichts.

    »Wir müssen da raus«, flüsterte sie. »Mein armes Baby. Sie haben uns gefunden. Sie finden uns immer.«

    Sie suchte auf der Fensterbank nach einem elektrischen Schalter, fand aber nur Staub und tote Spinnen. Das Hotel war zu alt für bequeme Automaten. Farbe verklebte das alte Fensterschloss. Die konnte sie nie wegkratzen. Sie lehnte sich gegen die Scheibe und fühlte die Leere der Nacht dahinter. Das Glas war wie ein trüber Wasserschleier, der alles dahinter verzerrte. Wenn Poppy die Scheibe einschlug, würde sie der Krach verraten.

    Ihre alten Instinkte wurden wach und fingen sie ein. Sie hörte auf, die Situation als Show zu sehen, als eine Aufführung. Sie musste jetzt ihre Tochter retten und empfand die Gefahr für beide ganz real.

    So wenige Plätze zum Verstecken. So viele Verfolger. Poppy war immer auf der Flucht.

    Poppy zog die Gardinen vor. Das Kind war still. Es wog fast nichts. Sie legte es aufs Bett und zog die oberste Decke über das kleine Gesicht, um die neugeborenen Augen vor Glassplittern zu schützen. Dann sah sie sich im Zimmer um. Ihre Augen fielen auf einen verrosteten Klappstuhl aus Metall, der an der Wand lehnte.

    Im Gang hörte sie lautes Knurren.

    Keine Zeit mehr für weitere Vorsichtsmaßnahmen. Sie packte den zusammengeklappten Stuhl und schlug mit den Beinen wie mit einem Rammbock gegen die Scheibe. Die Gardinen dämpften das Klirren nur leicht.

    Auf dem Gang wurden Schritte laut. Sie näherten sich dem Zimmer.

    Schnell nahm sie Calafia hoch. »Komm, nichts wie raus hier!«

    Die verstaubte Gardine schützte sie vor den spitzen, scharfen Scherben, als sie durchs Fenster hinausstieg.

    Beim Anblick des endlosen, langsamen Verkehrsstroms auf der Straße, zehn Stockwerke tiefer, wurde ihr schwindlig. Die Menschen schwenkten Laternen auf und ab und verschwanden damit in den Häusern. Feuerwerk explodierte. Tiefe Schatten glitten langsam an den Wänden empor, während die Funken in allen Farben des Regenbogens herabrieselten. Poppy blickte zum Nachthimmel empor, um dort Hilfe zu finden. Der Vollmond hing wie das Pendel eines Hypnotiseurs mitten in der Bewegung erstarrt da. Vor ihr stiegen sämtliche Hypnosesitzungen auf, die sie mitgemacht hatte, um ihre Tropen zu verbessern, um in die Handlung ganz eintauchen zu können und die Glaubwürdigkeit von Momenten zu verstärken und Bilder wie diese zu vermitteln.

    Sie starrte den Mond an. Den widerlichen Mond. Den Mond, wo alles zur Hölle gegangen war.

    Dann explodierte etwas...

    Feuerwerk!

    Calafia riss Mund und Augen auf. Als das Kind die goldenen Flammen der Pyrotechnik am Himmel sah, fing es an zu schreien. Die Augen des Babys und die Flammen hatten die gleiche Farbe.

    Die nächsten Knallkörper ließen die Feuerleiter erzittern. Poppy bot ein perfektes Ziel, indem sie sich wie ein betäubtes Opfer benahm. Nach einigen Augenblicken erfasste ihr Verstand einige Komponenten dieser chaotischen Zweihundertjahrfeier. Jemand schlug die Tür im Zimmer hinter ihr ein.

    Sie kletterte schnell über die Zickzackleiter zur nächsten Plattform. Bis auf eins waren alle Fenster entlang der Feuerleiter erleuchtet. Sie lief zu dem dunklen Fenster. Es war offen. Sie hörte lustvolles Stöhnen. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Sie stieß gegen eine Schnapsflasche auf dem Fensterbrett. Als sie umfiel und auslief, gluckerte sie so leise wie Calafia, die unfassbar ruhig blieb.

    Auf dem halben Weg zur siebten Etage, schaute Poppy nach oben und sah einen Schatten, der sich durch die Gardine ihres kaputten Fensters schlängelte. Wie ein Tintenfleck lief er über die Fensterbank und landete auf der Feuerleiter.

    Poppys Schritte brachten die Eisenleiter ins Schwanken. Das Gestänge hing bereits seit über hundert Jahren an der bröckelnden Hausmauer. Inzwischen waren alle Gesetze zur Sicherheit dieser Einrichtungen längst in Vergessenheit geraten. Jetzt schwankte die Leiter, als marschiere eine Armee darauf.

    Poppy erreichte das sechste Stockwerk. Hier war die Maximalhöhe, aus der sie sich eine Überlebenschance ausrechnete, falls sie springen musste.

    Fünfter Stock. Die Chancen waren nur geringfügig besser. Gebrochene Beine und Wirbelsäule für sie... und für das Kind? Keine Ahnung.

    Jetzt hörte sie oben einen Schrei und einen dumpfen Aufprall. Noch mehr dunkle Schemen waren auf die Feuerleiter geklettert. Einige sprangen direkt von einem Stock auf die Plattform des nächsten, ohne die Stufen zu benutzen.

    Vierter Stock. Die Straße unten wirkte wie die in einer Spielzeugstadt, wie ein Modell, das auf ihre Hand wartete. Fahrräder, Tretautos und andere Wagen kurvten wild um die Fußgänger herum, die die Wege verstopften und auf Zementsäulen balancierten, wo sonst nur Blumentöpfe standen. Lamas und Kühe brüllten als Reaktion auf die frustrierten Schreie ihrer Besitzer. Am lautesten war das Freudengeschrei über die Feier. Jede Bar war voll, Menschentrauben standen an den Theken. Privathäuser dienten als Kneipen. Menschen drängten sich auf den Balkons der Häuser und quollen aus den Wohnsupermärkten. Poppy wünschte, dass auch auf ihrer Feuerleiter Menschen wären, zwischen denen sie sich verstecken könnte.

    Als sie den dritten Stock erreichte, hörte sie über sich Metall quietschen. Eine Gestalt fiel neben ihr in die Tiefe, gefolgt von Rostwolken und Eisenstücken. Sie landete in einem Abfallhaufen. Eines der vielen Opfer dieser Nacht.

    Poppy zögerte. Die Plattform im zweiten Stock war ziemlich kaputt und hatte viele gefährliche Löcher, wie

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