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Der rote Feuerstein: und das Geheimnis von Atlantis
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Der rote Feuerstein: und das Geheimnis von Atlantis
eBook384 Seiten5 Stunden

Der rote Feuerstein: und das Geheimnis von Atlantis

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Über dieses E-Book

Eine rosafarbene Fee, geheime Tore in fremde Welten, magische Steine und germanische Götter – Dinge, die der zwölfjährige Paul bislang als Sagen und Mythen abgetan hat. Durchaus lesbar und interessant, aber eindeutig nicht real.
Als besagte Fee jedoch plötzlich Anspruch auf Pauls rote Feuersteinkette erhebt, findet sein beschaulicher Urlaub auf der Nordseeinsel Helgoland ein jähes Ende und sein Weltbild wird auf eine harte Probe gestellt. Eine unheimliche Bedrohung im Nacken, stolpert Paul in Begleitung des kleinen Fabelwesens von einem haarsträubenden Abenteuer ins nächste und lüftet dabei einige der bestgehüteten Geheimnisse einer wahrhaft magischen Welt...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Juni 2015
ISBN9783738029079
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    Buchvorschau

    Der rote Feuerstein - Kim Scheider

    Helgoland 1947

    Für Nils, auch wenn du inzwischen fast schon erwachsen bist! Und aus Liebe zu „meiner" Insel...

    Vicki flog, was die Flügel hergaben.

    Das war das einzige, was sie noch tun konnte, um sich zu retten. Seit Ewigkeiten hatte sie immer wieder mal hier gelebt, als einzige ihrer Art - zumindest in der Welt der Menschen.

    Die kleine Fee schlug mit den Flügeln, dass sie jedem Kolibri hätte Konkurrenz machen können. Sie flog durch die verschachtelten Gänge des unterirdischen Labyrinths, das den roten Felsen der Insel durchzog.

    Fast wären die Menschen, die auf dem kleinen Eiland mitten in der Nordsee lebten, Vickis Geheimnis auf die Spur gekommen. Das war vor ein paar Jahren, als sie die Gänge der Bunkeranlage in den Felsen trieben. Beinahe hätten sie ihn entdeckt, den Zugang zu ihrer Welt. Und jetzt lief die kleine Fee Gefahr, ihn nicht rechtzeitig zu erreichen, bevor die große Detonation den Felsen erschüttern würde.

    Den „Big Bang" würden sie es einst nennen. Die größte nichtatomare Explosion der Geschichte. Und sie sollte Vicki zum Verhängnis werden.

    Ein Beben durchlief den mächtigen Felsen. Ohrenbetäubender Lärm ließ Vicki angstvoll aufschreien. Staub und umherfliegende Trümmer nahmen ihr die Orientierung.

    Verzweifelt ließ sie sich in einer kleinen Felsspalte nieder und versuchte, sich zu beruhigen.

    Und als das Beben nachließ, der Staub sich gelegt hatte und Vicki sich endlich traute weiterzufliegen, sah sie mit Entsetzen, dass sie festsaß. Der Weg in ihre uralte Welt war versperrt.

    Helgoland 2007

    Paul rannte.

    Seine Lungen brannten, die Beine schmerzten und in seinem Kopf tobten die wirrsten Gedanken.

    Das konnte nicht sein. Das, was er gerade erlebt hatte, war einfach unmöglich. So etwas gab es nicht, konnte und durfte es nicht geben! Aus dem Alter war er raus, selbst an den Weihnachtsmann glaubte er schon seit Jahren nicht mehr, geschweige denn an das Wesen, das ihm gerade begegnet war.

    Auf dem „Friedhof der Namenlosen" war er gewesen.

    Wie jedes Jahr.

    Schon dutzende Male war er hier gewesen und nie war ihm derartiges passiert. Die Hochseeinsel Helgoland und die dazugehörige Düne waren schon fast wie ein zweites Zuhause für ihn geworden. Hier fühlte er sich wohl und - zumindest bis gerade – sicher. Das unangenehmste, was ihm hier bislang passiert war, war die Tatsache, dass er noch nicht einmal weit draußen in der Nordsee sicher vor seiner nervigen Nachbarin war. Kaum auf der Düne angekommen, war er ihr erst einmal in die Arme gelaufen und hatte sich gefragt, ob die Frau mit der Motorradhelmfrisur wohl geklont war. Frau Piel war wirklich immer und überall, einfach unglaublich. Aber noch lange nicht so unglaublich, wie das, was er gerade erlebt hatte.

    Paul rannte noch immer. Der Weg zum Hafen war eigentlich gar nicht so weit, doch heute kam er ihm vor wie eine unüberwindbare, niemals enden wollende Strecke.

    Vom Friedhof aus, der eher eine Gedenkstätte für die zahlreichen namenlosen Ertrunkenen der Nordsee war als ein Friedhof im eigentlichen Sinne, war er auf kürzestem Wege durch die Dünen gerannt, vorbei am Spielplatz und dem neu errichteten Bungalowdorf, immer weiter Richtung Anleger. Endlich kam der Hafen in Sicht und, wie hätte es auch anders sein sollen - die Dünenfähre hatte natürlich gerade abgelegt. Für die nächste halbe Stunde würde er erst mal festsitzen.

    „Mist! Verdammter Mist!", fluchte er vor sich hin.

    Er wollte nur noch weg von der Düne, rüber zur knapp zwei Kilometer entfernten Hauptinsel, wo seine Eltern sicher schon auf ihn warteten und ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen würden.

    Keuchend setzte er sich hin, mitten auf den Anlegesteg und versuchte das Chaos in seinem Kopf zu sortieren. Das konnte einfach nicht wahr sein, was ihm da Minuten vorher passiert war.

    Aber sie war da gewesen, hatte sogar mit ihm gesprochen.

    „Hallo! Ich bin Vicki und wer bist du?", hatte sie ihn gefragt. War dabei aufgeregt mit den Flügeln schlagend vor ihm hin und her geflogen und hatte ihm dann die verrückteste Geschichte erzählt, die er jemals gehört hatte.

    Sprachlos hatte er das kleine flatternde Wesen angestarrt, das da unter der alten Schiffsglocke auf dem Friedhof hervor geschossen kam und ihn einfach angesprochen hatte. Nicht nur, dass es sie eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, nein, sie sprach auch noch zu ihm!

    Ich hätte gestern doch nicht von Mutterns Eiergrog probieren dürfen, dachte Paul und konnte noch immer nicht fassen, was er da sah. Er hatte zwar nur ein mal an dem, wie der Name schon sagt, vorwiegend aus Grog und Eiern bestehenden „Nationalgetränk" der Helgoländer genippt, aber anscheinend hatte dies bereits eine durchschlagende Wirkung!

    „Hallo, redest du nicht mit jedem?, fragte ihn die Fee - oder war es eine Elfe? „Ich versuch’s noch mal, sagte sie mit einem frechen Grinsen im Gesicht. „Ich bin Vicki und wer bist du?"

    „Ich... Paul ... Das gibt’s doch nicht! Ich, ich bin Paul", stammelte er vor sich hin.

    „So - ein Junge bist du? Ich dachte, du wärst ein Mädchen. Wegen den langen Haaren und so." Keck lächelte sie ihn an.

    Schon wieder dieser Spruch! Wie oft hatte er ihn schon in unzähligen Variationen zu hören bekommen?

    „Umso besser, hatte sie dann gemeint. „Jungen sind angeblich mutiger, soweit ich in Erinnerung habe. Auch wenn du mir nicht gerade diesen Eindruck machst.

    Nach wie vor sprachlos und auch ein wenig beleidigt hatte Paul den Flug des kleinen Wesens verfolgt, das ununterbrochen vor seinem Kopf hin und her flog. Vielleicht war es auch ein Insekt? Dagegen sprachen allerdings das rosa Kleid, das im Wind vor seiner Nase flatterte und die lange blonde Powermähne, die ihn beim Vorbeifliegen jetzt schon mehrmals an der Nase gekitzelt hatte.

    „Was willst du von mir?"

    Nur mühsam hatte er die Worte hervor gebracht. Eigentlich hatte er fragen wollen, wo sie herkäme - denn eine Sie war es eindeutig -, wieso es sie gab, warum er sie verstehen konnte und überhaupt. Aber da sein Verstand sich nach wie vor weigerte zu glauben, was sich gerade abspielte, war ihm keine bessere Frage über die Lippen gekommen.

    Das muss ein Scherz sein. Oder ein Trick. Oder was auch immer, hatte Paul gedacht und noch einmal gefragt: „Was willst du von mir?"

    „Deine Hilfe!", sagte Vicki frei heraus.

    Und dann hatte sie ihm ihre schier unglaubliche Geschichte erzählt.

    Prinzessin Vicki XII.

    Setz dich und hör einfach nur zu", hatte sie den etwas verstörten Jungen aufgefordert, der sich unbeholfen auf einer der Bänke neben ihr nieder ließ.

    Sie berichtete ihm von längst vergangenen Zeiten, in denen sie, doch eine Fee, wie sie inzwischen klargestellt hatte, unbeschwert zwischen zwei Welten pendelte; der Insel Helgoland und - und das war das Unglaubliche an ihrer Geschichte - der Insel Atlantis .

    Ja, nee, is’ klar, dachte Paul und wollte schon wieder aufstehen und gehen. Der Zwölfjährige war durch und durch Realist. Er las zwar gerne Fantasieromane, aber nur, weil er die Vorstellung von solchen Welten spannend fand. An Fabelwesen oder Engel und übersinnliche Fähigkeiten glaubte er in keiner Weise. Garantiert gab es eine ganz logische Erklärung für derartige Phänomene.

    Ja, so musste es sein!

    Andererseits flog diese kleine Fee hier vor ihm herum, ließ sich sogar gerade auf seinem Knie nieder und redete mit ihm. Warum also nicht auch Atlantis?

    Sicherheitshalber kniff Paul sich an verschiedenen Stellen kräftig ins eigene Fleisch, aber da es doch mächtig weh tat, musste er wohl davon ausgehen, sich nicht etwa in einem Traum zu befinden, sondern tatsächlich im Hier und Jetzt. Aber alles wurde nur noch viel unglaublicher.

    Von einem geheimen Zugang im Inneren des Felsens berichtete die Fee ihm, von Piraten, Vampiren, Göttern und Prinzessinnen, von Magiern und weiteren Fabelwesen und davon, wie sie vor nahezu genau sechzig Jahren auf einmal im Felsinneren gefangen war und nicht mehr zurück nach Atlantis kam, weil die große Explosion ihr den Rückweg versperrt hatte.

    Natürlich hatte Paul bei den vielen Besuchen auf der Insel Helgoland auch vom „Big Bang" gehört. Jener Explosion, die man nach dem Krieg auf dem evakuierten Felsen ausgelöst hatten, um die militärischen Anlagen dort zu vernichten.

    Große Teile des gerade mal knapp einen Quadratkilometer großen Eilandes waren dabei zerstört worden und nur der eiserne Wille der Helgoländer und einiger Friedensaktivisten hatten es ermöglicht, dass Helgoland überhaupt wieder besiedelt werden konnte. Mehrmals hatte Paul auch mit seinen Eltern an einer Bunkerführung teilgenommen, bei denen einem ein Fremdenführer die Vergangenheit der Insel während eines Marsches durch die wenigen erhaltenen Stollen näher gebracht hatte.

    Auch die Legenden, die teilweise heute noch verbreitet wurden, Atlantis sei einst in Sichtweite von Helgoland untergegangen, hatte er gehört und - natürlich - als Märchen abgetan.

    Und nun saß hier eine kleine geflügelte Fee auf seinem Knie, lächelte ihn nach wie vor freudig an und erweckte alte Sagen zum Leben. Für den Jungen brach ein Weltbild zusammen.

    Nach dem langen Aufenthalt fern ihrer magischen Heimat sei sie, Prinzessin Vicki XII., nun ihrer Zauberkraft beraubt.

    Natürlich, eine zaubernde Prinzessin war sie selbstverständlich auch noch! Und benötige ausgerechnet seine Hilfe, um den geheimen Zugang nach Atlantis wieder zu öffnen.

    Paul betrachtete das seltsame Wesen, das unermüdlich freundlich lächelte, genauer. Die Fee hatte ein sehr hübsches, wenn auch puppenhaftes Gesicht und so ziemlich alles an ihr, einschließlich der zarten Flügel auf ihrem Rücken, war rosa, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen. Ein feines, unaufdringliches Leuchten umgab ihren winzigen Körper, was ihr zusätzlich einen geheimnisvollen Anstrich verlieh. Die Nachbarstochter wäre sicher entzückt gewesen. Paul hingegen war zunächst einmal schockiert, einem Fabelwesen wie ihr tatsächlich zu begegnen, das obendrein auch noch etwas von ihm wollte.

    „Warum? Also, ich meine, warum ICH?"

    Vicki sah ihm in die Augen und machte plötzlich ein sehr ernstes und trauriges Gesicht.

    „Du besitzt etwas, das ich brauche", war ihre Antwort. Mit bebendem Finger deutete sie auf seine Brust.

    „Was? Meine Feuersteinkette?" Pauls Gedanken überschlugen sich förmlich. Was hatte denn seine Kette mit all dem zu tun? Er hatte den Feuersteinanhänger bei einer jener Bunkerführungen unter einer der Bänke gefunden, auf denen die Helgoländer während der Bombenangriffe im Krieg gesessen und gewartet hatten, bis das Schlimmste vorbei war. Den Fremdenführer, offenbar einen Zeitzeugen, hatte es geschüttelt, bei den Erinnerungen an die ängstigende und beklemmende Atmosphäre, die damals herrschte.

    Der kunstvoll geschliffene rote Feuerstein jedoch hatte Paul sofort gefallen und, kaum zurück in der Ferienwohnung, wurde er mit Hilfe eines Lederbändchens zur Kette umfunktioniert. Seitdem trug er die Kette beinahe ununterbrochen, seit nunmehr anderthalb Jahren. Er war sehr stolz auf dieses besonders schöne Stück roten Feuersteins, den es weltweit angeblich nur auf der Helgoländer Düne gab und der somit auch in gewisser Weise wertvoll war. Und ausgerechnet dieser Stein sollte nun etwas mit der kleinen Fee zu tun haben, die noch immer auf seinem Bein saß und ihn erwartungsvoll ansah?

    Als könne sie seine Gedanken lesen, erklärte sie plötzlich: „Das ist der Schlüsselstein. Der Schlüssel für den geheimen Zugang nach Atlantis."

    „Meiner Heimat, fügte sie nach einer kurzen Pause traurig hinzu. „Der Schlüssel öffnet alle Tore auf dem Weg von hier nach Atlantis. Ohne ihn komme ich nicht zurück.

    Sie ließ ihre Worte kurz wirken, dann fuhr sie fort.

    „Ich habe dich beobachtet, als du den Stein entdeckt hast. Ich hatte ihn selber erst kurz vorher gefunden. Ein Wunder, dass er nach all der Zeit noch dort lag und kein anderer ihn mitgenommen hat. Leider habe ich meine Zauberkräfte über die lange Zeit eingebüßt. Ich konnte ihn nicht aus eigener Kraft fortbewegen. Und dann kamst du. Ein Tourist! Und hast ihn mitgenommen."

    Paul sah ihr an, was sie empfunden hatte, als ihr klar geworden war, dass der Stein - und somit jede Hoffnung jemals nach Hause zurückzukehren - mit ihm um die nächste Ecke entschwunden war.

    „Ich war verzweifelt, völlig von der Rolle. Alle Hoffnung war dahin. Sie lächelte ihn schüchtern mit Tränen in den Augen an und erzählte weiter. „Dann kamst du wieder. Letztes Jahr im Sommer. Weißt du noch?

    Natürlich wusste er es noch. Und erinnerte sich plötzlich an ein paar merkwürdige Situationen, die ihm damals gar nicht so bewusst geworden waren. In jeder spielte ein kleines summendes Etwas die Hauptrolle, das er für ein besonders lästiges Insekt gehalten und genervt mit der Hand weggescheucht hatte. „Das warst du?"

    „Jedes mal!"

    Nachdenklich ließ Paul sich das alles durch den Kopf gehen.

    Sollte er etwa wirklich schon seit Monaten, ohne es zu wissen, einen Schlüsselstein besitzen, der einem den Weg nach Atlantis öffnen würde? Das musste doch eine Verwechslung sein. Er sah an sich hinunter zu dem roten Stein an seiner Kette und wollte gerade seine Verwechslungstheorie zum Besten geben, als die Fee mit ihren Erzählungen fortfuhr.

    „Deine Eltern hingen wie Kletten an dir. Ich hatte keine Gelegenheit, dich mal alleine zu erwischen. Dann warst du wieder weg. Aber dieses Mal war es nicht ganz so schlimm. Inzwischen wusste ich ja, dass du immer wiederkommen würdest."

    Ein fragender Ausdruck machte sich auf Pauls Gesicht breit.

    „Okay, ich habe euch ein bisschen belauscht, gab sie zu. „Musste doch wissen, mit wem ich es zu tun habe. Eine kurze Pause trat ein, in der jeder der beiden seinen eigenen Gedanken nachhing.

    „Seit wieviel Jahren kommt ihr eigentlich schon hier her?"

    „Solange ich zurück denken kann, antwortete Paul. „Und laut meinen Eltern noch länger.

    „Tja, und jetzt bist du zum Glück wieder hier. Und sogar alleine. Lassen dich deine Eltern jetzt endlich von der Leine, was?", fragte die Fee.

    Da war es wieder, das freche Grinsen in ihrem puppenhaften Gesicht. Paul musste auch lächeln.

    „Ja, inzwischen darf ich auch alleine losziehen."

    Und prompt passiert mir so was, fügte er in Gedanken hinzu und schüttelte sich fröstelnd. Es war zwar erst April, dafür jedoch schon recht warm in den letzten Tagen. Doch schlagartig schien es um einige Grad kälter geworden zu sein. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Paul aus und weckte in ihm ein heftiges Verlangen, diesen Ort zu verlassen.

    Auch Vicki wirkte auf einmal ziemlich nervös.

    „Ein Rochusmensch, hauchte sie ängstlich und ihr geheimnisvolles Leuchten erlosch mit einem Schlag. „Ein Rochusmensch...

    „Lauf!, schrie sie Paul unvermittelt an. „Lauf so schnell du kannst. Ich lenke ihn ab.

    Paul starrte sie verständnislos an. Ein Rochusmensch? Was sollte das denn nun wieder bedeuten?

    „Verschwinde endlich!, brüllte Vicki ihn mit sich überschlagender Stimme an. „Nun hau schon ab!

    Und dann sah er ihn.

    Ein Rochusmensch? Das, was da über ihren Köpfen am Himmel tobte, das war kein Mensch, das war ein Ungeheuer. Ein Monstrum. Ein Alptraum. Nie zuvor hatte er ein solches Geschöpf gesehen, außer vielleicht auf den Titelbildern der Gruselromane, die seine Mutter ab und an las.

    Das Wesen über ihm verdunkelte nahezu sein ganzes Sichtfeld. Es war unerhört groß, hatte nur entfernt menschenähnliche Formen vorzuweisen und erinnerte mehr an eine Mischung aus einem Golem und einem Riesen. Seine giftgrünen Augen strahlten eine Boshaftigkeit aus, wie Paul sie noch nie gefühlt hatte. Zudem bestand das Untier aus einer undefinierbaren Materie, wobei Paul noch nicht einmal genau hätte sagen können, ob es überhaupt aus einem festen Material bestand oder gar feinstofflich war. Es wirkte irgendwie holografisch, an den Rändern seltsam verzerrt, als würde etwas aus ihm herauslaufen. Obendrein konnte es nicht nur ohne Flügel fliegen, sondern tat dies, trotz der ungeheuren Größe, auch noch mit einer Geschwindigkeit und Wendigkeit, die der eines Insektes in nichts nachstand.

    Mit einem letzten „Lauf endlich!", flatterte Vicki hoch und ließ Paul aus seiner Erstarrung erwachen.

    Ohne weiter nachzufragen, begann Paul zu rennen. Rannte, bis ihm die Lungen brannten und er kaum noch Luft bekam. Er wagte nicht einmal, sich umzudrehen, um zu sehen, was sich hinter ihm wohl inzwischen abspielte.

    Und nun saß er hier am Anlegesteg, wartete bibbernd auf die Dünenfähre und wollte noch immer nicht glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.

    Eine Nacht wie ein Traum

    Endlich, die Dünenfähre!

    In Gedanken versunken hatte Paul noch eine Weile an seinem Feuerstein herumgespielt und sich dann doch noch getraut, sich in Richtung „Friedhof der Namenlosen" umzudrehen. Und da er nichts Ungewöhnliches hatte erkennen können, war er zu dem Schluss gekommen, es müsse doch an den Nachwirkungen seiner ersten Exkursion in die Welt der alkoholischen Getränke gelegen haben. Kaum hatte die Dünenfähre angelegt und die schnatternde Schar Touristen sowie einige Vogelkundler auf die Düne entlassen, da kam er sich fast schon etwas albern vor, überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, Prinzessin Vicki XII. und der Rochusmensch seien Realität gewesen.

    Und doch war ihm alles so echt vorgekommen.

    Was, wenn...?

    „Aber nein, Feierabend jetzt!, ermahnte Paul sich selber. „Schluss mit dem Theater! Ich fahre jetzt rüber, esse was und dann wird sich schon alles aufklären!

    Er bestieg die Dünenfähre und stellte fest, dass zumindest die Schmerzen in seinen Oberschenkeln Realität waren. Gerannt war er also tatsächlich.

    Kaum hatte das kleine Boot abgelegt, wanderte seine Hand doch wieder in Richtung Kette und er befühlte noch einmal den Stein. Er fühlte sich ganz warm an, als sei er durch die Begegnung mit der Fee irgendwie „aktiviert" worden. Auch ein ganz leichter, fließender Schimmer schien von dem Material auszugehen. Dem Leuchten der kleinen Fee nicht unähnlich...

    „Schluss jetzt mit dem Theater, rief Paul noch einmal, als könne er so die unerwünschten Gedanken verscheuchen. „Ich habe einfach zu viele Geschichten gelesen!

    Da er der einzige Fahrgast war und der Motor des kleinen Bootes kräftig röhrte, bemerkte niemand sein Selbstgespräch.

    Aber trotz der Absicht, das Ganze einfach zu vergessen, nahm er sich gleich erstmal vor, sich mit entsprechender Lektüre über Atlantis einzudecken.

    Rein interesse halber selbstverständlich.

    Ein wenig zögernd betrat Paul kurz darauf das Ferienappartement. Er stellte sich mit trotziger Miene vor den Garderobenspiegel, als wolle er klarstellen, dass er das sehen möchte, was er morgens noch gesehen hatte: einen mittelgroßen, sportlichen Zwölfjährigen mit sehr langen, blonden Haaren, die ihm nicht erst heute Spott und Hohn eingebracht hatten. Aber daran war er gewöhnt. Er trug die Haare so seit seinem fünften Lebensjahr und sie gehörten einfach zu ihm, wie seine braunen Augen und die Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen.

    Freundlicherweise zeigte ihm der Spiegel auch all dies. Er war weder um Jahre gealtert, noch rollten seine Augen wie im Wahn umher, wie er insgeheim befürchtet hatte. Nein, er war immer noch er, ganz so, wie er sein sollte, nur ein wenig blass um die Nase vielleicht, was ihm jedoch in Anbetracht der Umstände auch vollkommen gerechtfertigt erschien.

    Er atmete noch einmal tief durch, dann betrat er die angrenzende Wohnküche, in der er seine Eltern vermutete. Paul nannte sie immer Ältern, um sie zu ärgern, aber mittlerweile war das mehr schon eine lieb gewonnene Angewohnheit als ein Ärgernis. Doch als er den Raum betrat, stellte er fest, dass seine Mutter alleine war. Sie begrüßte ihn lächelnd und natürlich, wie immer, mit einem Buch in der Hand.

    „Na, mein Schatz, noch alle Namenlosen da?" Pauls Mutter war eine etwas rundliche und gemütliche Frau Ende dreißig, mit langen, schon leicht ergrauten Haaren und immer guter Laune.

    „Ja, ja, alle angetreten zum Rapport", grinste Paul schwächlich zurück.

    Besorgt musterte seine Mutter ihn. „Was ist los mit dir, du bist so blass? Ist dir die Überfahrt nicht bekommen?"

    Musst du gerade sagen, dachte Paul entrüstet. Wer ist denn jedes Mal schon bei Windstärke zwei seekrank? Das bist doch wohl du! Aber er war auch dankbar für die mundgerechte Ausrede, also brummte er irgendeine unverständliche Zustimmung.

    Nur zur Sicherheit natürlich, schloss er gleich mal unauffällig alle Fenster. Nur für den Fall, dass es doch kleine Feen gab und nur für den Fall, dass diese noch mal versuchen könnten, Kontakt zu ihm aufzunehmen.

    „Möchtest du etwas essen? Oder einen Tee?"

    „Tee wäre gut." Gedankenverloren goss er sich eine Tasse ein, nippte daran, verbrühte sich prompt und zog leise fluchend von dannen. Sein Blick fiel auf das Bücherregal, das, wie in jeder Ferienwohnung, die sie bisher bewohnt hatten, mit einschlägiger Helgoland-Literatur bestückt war und las die Titel.

    „Verwehte Spuren von Benno Krebs, „Auf Helgoland ist alles anders von H.P. Rickmers, Fotobände von Franz Schensky, Tatsachenberichte, Mythen und Sagen... Die hatte er, genau wie seine Mutter, schon längst alle verschlungen.

    Die einzige deutsche Hochseeinsel hatte schließlich eine interessante Geschichte zu bieten. Etwa sechzig Kilometer von der deutschen Küste entfernt, trotzte der rote Bundsandsteinfelsen seit tausenden Jahren den Stürmen der Nordsee und war im Laufe der Zeit auf ein Geringes seiner ursprünglichen Größe zusammengeschrumpft. Auch die einstige Verbindung zwischen der Hauptinsel und der vorgelagerten Düne war schon seit Jahrhunderten gebrochen und mittlerweile trennte die beiden eine breite Fahrrinne, in der die Seebäderschiffe im Sommer vor Anker lagen, während die Gäste das letzte Stück zur Insel mit dem Inseltaxi, den traditionellen Börtebooten, transportiert wurden.

    Im Laufe der Zeit gehörte die Insel mal den Dänen, mal den Engländern, bis hin zu den Deutschen. Unter deren Zugehörigkeit hatte die Insel in den beiden Weltkriegen einiges zu erdulden und war sogar zweimal vollständig evakuiert worden. Der „Big Bang" war dann trauriger Höhepunkt dieser Ereignisse und erst mit dem Wiederaufbau in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts konnte die Insel wieder besiedelt werden. Inzwischen war sie ein modernes Hochseebad geworden und bot unzähligen Urlaubern eine grandiose, einmalige Landschaft mit vielen seltenen Pflanzen und Tieren.

    All dies wusste Paul bereits über die Insel und ihm kamen auch wieder die Geschichten über Atlantis und Helgoland in den Sinn. Sollte die Insel tatsächlich sogar über einen Zugang zu diesem sagenumwobenen Ort verfügen? Was wusste er eigentlich über Atlantis?

    Die unterschiedlichsten Theorien hatte er schon gehört. Manche hielten es für die „Wiege der Menschheit", von der alles Leben auf Erden ausgegangen sein soll. Andere waren davon überzeugt, die Menschen seien ein Experiment von Außerirdischen und deren Basisstation sei Atlantis gewesen. Filme hatte Paul gesehen, in denen das verschollene Eiland als mythischer Ort dargestellt wurde, wo Menschen und Meerjungfrauen zwischen altgriechisch anmutenden Gebäuden friedlich miteinander lebten und vom Meereskönig regiert wurden. Auch, dass es die verschiedensten Vorstellungen davon gab, wo Atlantis gelegen haben könnte, hatte er gehört. Eine davon war natürlich auch jene Sage, laut der das Eiland ganz in der Nähe von Helgoland gelegen haben soll. Gerade diese Theorie war ihm immer am unwahrscheinlichsten vorgekommen. Wie oft war er schon hier gewesen und hatte außer den Mythen nie etwas entdeckt, was wie eine Verbindung zwischen den beiden Inseln aussah. Und er hatte wahrlich jeden erreichbaren Winkel der Insel erkundet.

    Im Berginneren solle der Zugang liegen, hatte die Fee berichtet. Irgendwie wünschte er sich die kleine Fabelgestalt jetzt doch herbei. Hatte er doch mindestens tausend Fragen an sie. Zwar klammerte er sich noch immer an der Hoffnung fest, sich das alles nur eingebildet zu haben und vielleicht war er ja auch einfach nur kurz auf der Bank eingenickt, eingeschläfert von der beruhigenden Geräuschkulisse des ihn umgebenden Meeres und hatte geträumt.

    Bestimmt sogar.

    Aber seine Neugier war geweckt. Wieder befingerte er seine merkwürdig erwärmte Feuersteinkette und schaute durch das Fenster hinüber zur Düne. Und glaubte plötzlich, sein Herz bliebe stehen! Das dunkle, schwarze Etwas, das da über den Hügeln der Düne tobte, diese Mischung aus Ungeheuer, Dämon und Ausgeburt eines Alptraumes, das war mit Sicherheit kein Wolkenfetzen oder dergleichen.

    Es war, wie Vicki es angstvoll genannt hatte - und in Ermangelung eines passenderen Wortes nannte er es auch so - ein Rochusmensch.

    Paul rieb sich kräftig über die Augen und starrte noch einmal hin, doch der Anblick hatte sich nicht verändert. Mal abgesehen von den Sternchen, die er jetzt zusätzlich noch vom Reiben der Augen aufblitzen sah. Trotz der sicheren Entfernung zur Düne beschlich ihn sofort wieder die gleiche Angst vor dem grausigen Wesen, das ihn auch schon auf der Düne befallen hatte. Er war zwar weder ein Held noch ein besonders ängstlicher Typ, aber dieses Geschöpf war eindeutig einem Alptraum entsprungen und ganz und gar nicht geraten, Fröhlichkeit zu verbreiten.

    Er schaute zu seiner Mutter hinüber, die den uralten Rocksong, der gerade im Radio lief, mitträllerte, blickte zur Düne, sah den Rochusmenschen und sah wieder zu seiner Mutter. Auch sie hatte kurz aus dem Fenster gesehen, schien aber nicht wahrzunehmen, was sich da drüben abspielte. Vielleicht hielt sie es auch einfach für eine Laune der Natur. Dennoch bemerkte sie seinen fiebrigen Blick und wirkte etwas bestürzt.

    „Was ist denn nur los mit dir, mein Schatz? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!"

    Sollte er ihr etwa sagen, dass genau das sein Problem war? Kurz war er geneigt, ihr alles zu erzählen, von Prinzessin Vicki XII., von dem geheimen Zugang nach Atlantis und von dem Rochusmenschen. Doch eben dieser war nun verschwunden, wie Paul mit einem erneuten Blick zur Düne hinüber feststellen musste. Er schluckte einmal kräftig, bevor er antworten konnte. „Nee, nee, alles in Ordnung. Mir ist nur noch ein bisschen übel. Du weißt ja, die Überfahrt gerade."

    „Ruh’ dich noch was aus und trink endlich deinen Tee, dann geht es dir bestimmt bald besser."

    Sie lächelte Paul aufmunternd zu und ließ sich mit dem Buch in der Hand auf dem Sofa nieder.

    Sie hätte es mir sowieso nicht geglaubt, dachte Paul betrübt. Sie hätte mir nur wieder wohlwollend die Hand auf die Stirn gelegt, um meinen Fieberpegel zu testen und hätte mir gesagt, mit ein bisschen Bettruhe wäre alles wieder in Ordnung.

    Aber konnte er es ihr verübeln? Wer sollte ihm die Geschichte überhaupt glauben? Er war sich sicher, dass nicht einmal sein bester Freund Aman ihm das abgekauft hätte.

    „Wo ist eigentlich Papa?", fragte Paul.

    „Auch zur Düne, Bernstein suchen."

    Vor Schreck prustete Paul den halben Tee auf die Fensterscheibe, als ihm klar wurde, was seine Mutter da gerade gesagt hatte.

    „Paul!! Pass doch auf!"

    „T’schuldigung, war noch zu heiß", beeilte er sich zu sagen und starrte gebannt rüber zur Düne, während er unbeholfen mit dem Ärmel den Tee auf der Scheibe verteilte.

    Entrüstet hielt seine Mutter ihm ein Wischtuch unter die Nase. „Kannst du bitte einen Lappen nehmen?"

    „T’schuldigung, t’schuldigung", stammelte er vor sich hin und entfernte endlich die schmierigen Streifen von dem Fenster.

    „Was ist denn nur los mit dir? Du wirst doch nicht etwa krank?"

    Oh nein, jetzt tat sie es doch.

    Ehe Paul sich versah, hatte sie auch schon ihre Hand auf seine Stirn gelegt und mit wissendem Blick kurz innegehalten. Dann strich sie ihm über das Haar, zuckte ratlos mit den Schultern und stellte mit Kennermiene fest, dass er aber kein Fieber habe.

    Eilig wandte Paul sich in Richtung Ausgang. „Ich geh’ noch kurz was an die Luft, vielleicht geht es dann besser." In Windeseile zog er sich an und flüchtete regelrecht aus der Wohnung. Wieder rasten die Gedanken durch seinen Kopf, der allmählich zu platzen schien.

    So viel zum Thema Urlaub und entspannen, dachte er genervt und humpelte, so schnell es sein monströser Muskelkater erlaubte, Richtung Nord-Ost-Gelände, wo die Dünenfähre im Moment immer an- und ablegte.

    Mein Vater ist auf der Düne. Der Rochusmensch ist auf der Düne. Womöglich ist Vicki auch noch drüben. Vicki!, dachte Paul. Was ist das eigentlich für ein komischer Name für eine Fee?

    Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, wenn er sie das nächste Mal sähe. Denn, dass er sie wiedersähe, daran zweifelte er mittlerweile nicht mehr. Der scheinbar vor Wut rasende Rochusmensch, den er noch vor Minuten gesehen hatte, zeigte ihm deutlich, dass er wohl doch keine Tagträume oder Halluzinationen hatte. Und so, wie das Monstrum getobt hatte, war es ihm wohl noch nicht gelungen, die kleine Fee zu schnappen.

    Was auch immer es mit ihr vorhatte.

    Da er im Moment sowieso nichts tun konnte und das unheimliche Wesen nicht mehr zu sehen war, beschloss Paul zunächst einmal die Helgoländer Bücherei aufzusuchen, neben der er quasi sowieso gerade stand. Die freundliche Frau darin hatte ihm schon häufig gute Bücher empfohlen. Sie wüsste sicherlich auch, wo er etwas über Atlantis finden konnte, sei es nun in Form von wissenschaftlichen Berichten oder

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