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Der Zef'ihl, der in den Himmel stieg
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Der Zef'ihl, der in den Himmel stieg
eBook432 Seiten5 Stunden

Der Zef'ihl, der in den Himmel stieg

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Über dieses E-Book

Zwei Jahre sind vergangen, seit Adriaan Deneersen in »Der Zef'ihl, der vom Himmel fiel« in der Schlacht von Wamuan angeblich den Tod fand.
Doch dann macht sich eine Frau auf die Suche nach ihm, die ihn für den Mörder ihres Vaters hält. Dies bringt seine alten Häscher wieder auf Deneersens Spur. Aber der K'atok, der Herrscher, in dessen Diensten Deneersen steht, lässt sich sein wertvollstes Gut nicht so leicht wegnehmen …
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum30. Mai 2023
ISBN9783957657718
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    Buchvorschau

    Der Zef'ihl, der in den Himmel stieg - Dieter Bohn

    1

    Athena schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Nase. Eine wahre Flut an Gerüchen überfiel sie mit aller Wucht. Es waren Düfte und Aromen, die sie noch nie gerochen hatte, für die ihr Gehirn keine gespeicherten Erinnerungen finden konnte, weshalb es sich in Vergleiche flüchtete: Pfeffer, nasse Erde, Funkenschlag, Wild, Gras, Dung?

    Es waren Gerüche, die sie noch nie hatte riechen können.

    Sie war auf einer fremden Welt!

    Auf keinem der zweiundzwanzig Planeten des Demoriums, dem Demokratischen Imperium der terrestrischen Welten. Sie war auf einer Welt, die es nicht geben durfte. Nicht von der Erde aus besiedelt. Unter dem Bann der Vereinigten Kirchen.

    Auf einer Welt mit echten außerirdischen Bewohnern, die den Unterlagen ihres Vaters nach, praktisch nicht von Menschen zu unterscheiden waren. Aber trotzdem: Es waren Aliens!

    Die Luft war kalt und brannte in der Nase. Athena öffnete die Augen.

    Die Aussicht war spektakulär.

    Der Ringwall des Einschlagkraters, in dem das Basiscamp mit seinen Start- und Landeeinrichtungen versteckt war, umgab sie wie der Rand einer gigantischen Schüssel. Schroffe, kahle Hänge stiegen zu schneebedeckten Gipfeln auf.

    Aus den Unterlagen wusste sie, dass man, um hierhin zu gelangen, erst eine kalte Hochebene erklimmen musste. Auch auf dieser Welt galt die barometrische Faustformel, nach der die Temperatur mit zunehmender Höhe alle zweihundert Meter um circa ein Grad Celsius sank. Unten in den Ebenen war es deutlich wärmer. Auch innerhalb des Kraters war es durch die rundum geschützte Lage milder, als man es erwartete. Der Krater lag weit weg von der nächsten Ansiedlung der Eingeborenen, und war zu Fuß oder auf einem Reittier nur schwer zu erreichen. Es war der ideale Platz für eine versteckte Basis.

    Der Himmel hatte eine Farbe, über die ihre Mutter zu sagen pflegte: »Die Engelchen backen.« Als Kind hatte sie das geglaubt.

    Athena griff nach dem Geländer an der Gangway der Planetenfähre. Vom Widerstreit ihrer Gefühle bekam sie weiche Knie.

    Furcht, entdeckt zu werden. Überwältigende Freude – und Panik! – auf dieser fremden Welt zu sein. Erleichterung, es bis hierher geschafft zu haben. Die Trauer über ihren Verlust. Beklemmung vor der Zukunft. Die Anspannung ihres Unterfangens, ihrer Suche, und die Angst vor dem, was sie zu tun hatte.

    »Umwerfend, was?«, fragte eine Stimme hinter ihr.

    Athena unterdrückte einen Fluch. Das war dieser Geologe Franklin, der sie den ganzen Abstieg über angebaggert hatte. Sie fühlte seine Hand am Oberarm, die ihr Halt geben wollte. Unwillig entzog sie sich seinem Griff, nahm die letzten Stufen und betrat den fremden Boden. Es ärgerte sie, dass der Mann diesen für sie bedeutsamen Moment verdorben hatte. Dabei wollte sie den Augenblick in sich aufnehmen, ihn auskosten, sich umschauen. Auch wenn es außer den Bergen um sie herum und der Handvoll Gebäude am Rande des Landefeldes nichts zu sehen gab: Dies war ihre erste außerirdische Welt! Und er hatte den Zauber ruiniert.

    »Sieht man sich nachher?«, hakte er nach.

    Sie lächelte Franklin übertrieben höflich an, strich sich eine lange, dunkle Strähne aus dem Gesicht und schwieg. Dann drehte sie sich um und beeilte sich, in den Shuttlebus zu kommen, der sie vom Landeplatz zur Basis bringen sollte.

    Das Kirchliche Passantum ihres Vaters hatte sie bis hierher gebracht, nachdem sie alle Absperrungen und die Quarantäne überwunden hatte.

    Nun musste sie allein klarkommen, sich allein auf einer primitiven Welt mit primitiven Eingeborenen durchschlagen. Dabei wusste sie immer noch nicht, was sie tun würde, wenn sie diesen Deneersen endlich gefunden hatte.

    Ganz oben auf der Liste ihrer Optionen stand »umbringen«.

    2

    Adriaan Deneersen zog die Weste enger, schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft war klar und frisch, und stank nur wenig. Es war überraschend still hier draußen, stiller als im Haus, wo ein Kind plärrte.

    Er öffnete die Augen, trat an die hölzerne Brüstung der Loggia heran und sah nach unten. Der Platz vor der Villa war leer, der Brunnen lag verwaist. Hier saß er oft, hier war er allein mit seinen Gedanken.

    Adriaan Deneersen sah an sich hinunter.

    Eindeutig, dachte er. Es geht dir zu gut.

    Er griff auf Höhe des Bauchnabels zu und presste den Wulst zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen.

    Du kriegst ‘ne Wampe!

    An mangelnder körperlicher Betätigung konnte es nicht liegen. Ein- bis zweimal in einem Zehntag trainierte er mit seinem Leibwächter K’ahadi den Kampf mit und ohne Waffen – zum Teil bis zur Erschöpfung. Manchmal beteiligte sich auch dessen Frau Oklata, ebenfalls eine ausgebildete Kämpferin. Nach dem Mordanschlag, bei dem der alte Selaroe umgekommen war, hatte er sich auf Geheiß des K’atoks Leibwächter zulegen müssen.

    Qiuani kocht vermutlich zu gut. Und ich esse zu gerne.

    Aber er wusste, dass er sich etwas vormachte.

    Dir fehlt die Herausforderung, der Druck.

    Damals hatte es kaum Momente zum Verschnaufen gegeben, in denen er hätte Speck ansetzen können. Die möglichen Repressionen durch den K’atok, falls er beim Ersinnen von wirksamen Waffen versagte, hatten als reale Gefahr immer hinter ihm gestanden. Nun standen seine Projekte nicht mehr unter dem Zeitdruck, dass jeden Moment das mordlüsterne Heer der Masuti vor den Toren der Stadt auftauchen konnte. Er konnte sich mehr oder weniger in Ruhe den Projekten und seiner Familie widmen. Und doch war er unzufrieden.

    Du solltest es genießen! Und froh sein, mit dem, was du hast. Wenn jemand von denen da oben rauskriegt, dass du noch lebst, bist du tot.

    Fern am Horizont zeigten sich vereinzelte Wolken, die in der Dunkelheit kaum auszumachen waren.

    Der Himmel war übersät mit Sternen, die er nicht benennen konnte. Sob’uhn hatte ihm Namen von einzelnen Sternbildern genannt. Adriaan hatte sich nur den »Seefahrer« und die »Wooti« gemerkt.

    Wenn man genau hinschaute, sah man winzige Lichtpunkte, die mit großer Geschwindigkeit über den Himmel zogen – viel kleiner als die meisten Sterne. Die Menschen von Kofane nannten sie »K’t’scha«, nach einem Zugvogel.

    Was wissen sie schon von Relaissatelliten!

    Den wenigsten Menschen in Kofane war bewusst, dass die »K’t’scha« erst seit kurzer Zeit dort oben waren. Wer sie zum ersten Mal bemerkte, ging davon aus, dass er sie vorher nur nicht gesehen hatte.

    Adriaan wusste es besser.

    Das da oben sind meine Häscher. Dort oben wartet der Tod auf mich!

    Er zog einen Korbstuhl zu sich heran und ließ sich hineinfallen. Dann schob er die Arme auf die Brüstung und legte sein Kinn darauf ab.

    Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser des Waschtrogs in der Mitte des Platzes. Tagsüber war um den Brunnen herum immer viel los, um ihn abzulenken: Die Wäscherinnen, im Wasser tollende Kinder, Reiter, die ihre Siita zur Tränke führten. Jetzt zeugten nur noch dunkle Flecken auf dem Boden um den Trog herum vom Leben, das sich tagsüber hier abspielte.

    Ein leises Geräusch erklang von der Tür hinter ihm. Das war vermutlich einer seiner zwei Leibwächter, der ein Auge auf ihn hatte.

    Könnte ich hier das Ziel eines heimtückisch abgeschossenen Pfeils werden?

    Adriaan zuckte mit den Schultern. Die Zeiten, in denen er sich Sorgen vor den Masuti machen musste, waren vorbei. Zwar zogen noch immer vereinzelt Reste dieser räuberischen Nomaden durch das Umland. Aber seitdem ihr gewaltiges Heer beim Angriff auf Wamuan – mithilfe seiner Erfindungen – geschlagen worden war, bestand keine Notwendigkeit mehr, ihn zu ermorden.

    Dafür gibt es jemand anderen, der meinen Kopf will!

    Allerdings sollte Sven Hermans annehmen, dass Adriaan tot sei, weil er die Schlacht nicht überlebt hatte. Dafür hatten Frida Helvquist und die anderen Forscher gesorgt.

    Aber ist das Täuschungsmanöver auch geglückt? Kann ich sicher sein, dass nicht einer von ihnen geredet hat? Hab’ ich sie von meiner Unschuld überzeugt? Glauben sie mir?

    Eine zweite Kinderstimme fiel in das Plärren ein. Adriaan verdrehte die Augen und fühlte gleich darauf Schuldgefühle in sich aufsteigen. So sehr er die Kinder auch liebte, er fühlte sich von dem Drumherum oft überfordert. Dank seiner Frauen und Bediensteten blieb er zwar von vielen der unangenehmeren Seiten eines Großfamilien-Lebens verschont. Trotzdem zog es ihn immer öfter zur Ak’temi, zu seiner Akademie weit vor den Toren der Stadt. Dort hatte er Ruhe, konnte sich konzentrieren, und dort wartete ein Bett auf ihn, das ihm eine ruhige Nacht versprach, ohne dass ihn ein weinendes Kind aus dem Schlaf riss.

    Schlaflose Nächte waren Gift für Kreativität, und von seinen kreativen Ideen lebte er. Im wahrsten Sinne des Wortes.

    So gut der K’atok ihn auch behandelte, Adriaan war dennoch klar, dass der Herrscher von Kofane nach dem Motto »Zuckerbrot und Peitsche« vorging. Das Zuckerbrot waren Adriaans Villa, sein Status, sein Wohlstand und seine Pa’atni. Die Peitsche hatte er einmal erleben müssen. Nachdem er auf Shi’ialla gelandet war, wurde er wochenlang eingesperrt. Damals dachte er, er müsse in seinem Kellerverlies verrotten. Hinzu kam, dass er sich noch einen Infekt zugezogen hatte, an dem er beinahe krepiert wäre. Die Zeiten und die Sorgen hatten Spuren hinterlassen. Erste graue Strähnen zeigten sich in seinen dunkelblonden Haaren und die Falten in seinem Gesicht waren tiefer geworden.

    Diese »Peitsche« will ich nie wieder erleben. Und deshalb muss ich liefern.

    Sein Wert lag in dem Wissen um Dinge, die dieser Welt tausendfünfhundert Jahre voraus waren. Seine Aufgabe war es, dieses Wissen aufzuschreiben und wenn möglich, in praktische Anwendungen umzusetzen.

    Vorzugsweise in solche, die Kofane den anderen Ländern überlegen machte oder ihnen gegenüber zumindest einen Vorteil verschaffte.

    Deshalb war er der Zef'ihl.

    3

    »Hat was von Kehlkopfkatarrh, was?«, fragte Francesco. Er sprach Terranto, die Standardsprache auf den zweiundzwanzig Welten, die der Mensch besiedelt hatte. Sein Grinsen schien von einem Ohr zum anderen zu reichen.

    Er war einer der Instruktoren im Basiscamp, dessen Aufgabe es war, die Neuankömmlinge mit den Gegebenheiten dieser Welt vertraut zu machen, einer Welt unter Kirchenbann. Ohne das Kirchliche Passantum ihres Vaters hätte Athena nie etwas von diesem Planeten gehört, geschweige denn, dass sie ohne diese Kirchliche Sondererlaubnis je einen Fuß daraufgesetzt hätte. Mit Mühe hatte sie verheimlichen können, dass sie keine Anthropologin war. Immer wenn das Gespräch auf sachbezogene Themen gekommen war, hatte sie es geschafft, die Unterhaltung in Bahnen zu lenken, in denen sie sich sicherer fühlte. Dabei kam ihr zugute, dass sie sich in den Ausbreitungswegen der Sprachen auskannte, die sehr eng mit dem Ausbreiten der Menschheit über die Erde verbunden waren. Das sollte ihr als Linguistin eigentlich gefallen. Sie hatte eine Welt voll fremder Sprachen vor sich, die es zu erforschen galt.

    Aber sie war nicht zum Forschen hier.

    Sie hatte ein anderes Ziel. Sie musste diesen Adriaan Deneersen finden.

    Aus der Nachricht ihres Vaters entnahm sie, dass er zuletzt in Wamuan gelebt hatte, der Hauptstadt des Landes Kofane im Nordosten dieses Kontinents. Doch um ihn dort zu suchen, musste sie die Sprache, die dort gesprochen wurde, halbwegs beherrschen.

    Den langen Flug nach Shi’ialla hatte Athena die meiste Zeit unter dem Indoktrinator verbracht, jener modernen Variante des »Nürnberger Trichters«, der die Lernfähigkeit des Gehirns im REM-Schlaf nutzte. Nun besaß sie nicht nur ein fundiertes Wissen über diese fremde Welt, sondern verfügte auch über den grundsätzlichen Wortschatz und die grammatischen Regeln der drei wichtigsten Verkehrssprachen. Aber Worte in ihrer Großhirnrinde abgespeichert zu haben, war eine Sache. Sie folgerichtig anzuwenden und vor allem richtig auszusprechen, war etwas anderes.

    Atta war eine kehlige, abgehackte, harte Sprache, mit einer Anhäufung von Konsonanten und Plosivlauten wie »k« und »t«.

    Dabei sollte sie eigentlich befähigt dafür sein, schließlich hatte sie Sprachwissenschaften studiert. Deshalb ärgerte sie Francescos Feixen über ihre Versuche, sich mit ihm auf Atta zu unterhalten, umso mehr.

    Francesco hob die Hände. »Lassen Sie sich nicht frustrieren! Sie machen das für einen Neuling erstaunlich gut, Athena.«

    Bei ihrer ersten Begegnung hatte er erklärt, dass sie ihn vom Aussehen her, mit ihren schulterlangen rotbraunen Haaren und dem sonnengebräunten Teint, an seine italienischen Vorfahren erinnerte. Seitdem behandelte er sie besonders zuvorkommend.

    Der Instruktor wandte sich an die anderen »Neulinge«.

    »Keine Angst, ihr kriegt das noch hin. Bis dahin hilft nur üben, üben, üben. Und das ist der Grund, warum ihr euch daran gewöhnen solltet, euch auch in der Freizeit in Atta zu unterhalten.«

    Die Bewohner dieser Welt durften nicht erfahren, dass Forscher von einem anderen Planeten sie studierten. Selbst wenn ein Forscher von der äußeren Erscheinung her in eine Region passte, gehörte jahrelange Erfahrung dazu, nicht aufzufallen oder sich gar wie ein Einheimischer zu benehmen. Schon durch ihren Akzent fielen sie auf. Darum mieden sie so weit wie möglich den Kontakt mit den Eingeborenen, und wenn er nicht zu vermeiden war, dann gaben sie sich als Reisende aus fernen Ländern aus.

    Athena war nur eine von fünf Neuen, die sich erstmals auf Shi’ialla aufhielten und die in einem zweiwöchigen Crashkurs die notwendigen Dinge beigebracht bekamen, bevor sie zu einer Gruppe erfahrener Forscher an ihren Zielort gebracht wurden. Sie war erleichtert, dass Franklin Gheri, der mit ihr angekommen war, nicht dazugehörte. Er war bereits am Tag nach der Ankunft mit einem Hopper weitergereist. Sich zwei Wochen gegen einen zudringlichen Schürzenjäger zur Wehr zu setzen, wäre mehr, als sie in ihrem Gemütszustand ertragen konnte. Deshalb vermied sie es auch, mehr Zeit als nötig mit den anderen Neulingen zu verbringen.

    Ihr Tag war vollgestopft mit Lektionen über dieses und jenes, um das unter dem Indoktrinator erlernte Wissen zu vertiefen. Francesco war dabei nur einer von vier Instruktoren. Doch es würde Wochen, Monate dauern, bis sie dieses aufgepfropfte Wissen verinnerlicht hatte.

    Nein, nicht »Wochen« und »Monate« hieß das hier, sondern »Zehntage« und »Ssont«! Sie musste sich daran gewöhnen!

    Shi’ialla war der vierte Planet der Sonne Uul, einer Sonne mit einem leicht rotstichigen Spektrum. Die anderen elf Planeten waren glühende oder vereiste Steinwelten, die der Sonne zu nah oder zu fern waren, um Leben zu ermöglichen, oder riesige Gasbälle wie der Jupiter.

    Der Planet benötigte für einen Sonnenumlauf 247,2 Tage. Ein Tag auf Shi’ialla dauerte knapp sechsundzwanzig irdische Stunden. Das war eine Herausforderung für jeden terranischen Neuankömmling, der an den Vierundzwanzigstundenrhythmus der Erde gewohnt war. Die indigene Bevölkerung rechnete in Parr. Der Tag hatte zwanzig Parr. Somit entsprach ein Parr etwa neunzig Minuten.

    Da es keinen einzelnen Mond gab, der das Jahr durch seine Phasen unterteilte, gab es auch keinen Monat im irdischen Sinn. Die Umlaufbahnen der beiden Monde Asuul und Asoon waren zu komplex, um als brauchbarer Zeitmesser zu dienen. Es gab lokale Ausnahmen, aber in weiten Teilen der Welt basierte alles auf dem Zählsystem, das jedem zur Verfügung stand, den zehn Fingern an den Händen. Anscheinend hatten Schifffahrt und weltweiter Handel dafür gesorgt, dass die Standardisierung viel weiter fortgeschritten war als auf der Erde eines vergleichbaren Zeitalters.

    Eine »Woche« bestand somit aus zehn Tagen mit kurzen und abgehackt klingenden Namen. Das Jahr war in vier Ssont zu sechs Zehntagen eingeteilt. Zu Beginn eines Ssont gab es einen zusätzlichen Feiertag, der die Sonnenwendtage und die Tage der Tag- und Nachtgleiche auszeichnete. Drei oder vier zusätzliche Feiertage am Ende des Jahres brachten den siderischen Umlauf wieder mit der Zeitrechnung zur Deckung.

    »So!«, sagte Francesco bestimmt. Er setzte ein erwartungsvolles Grinsen auf und fuhr auf Atta fort.

    »Kommen wir zum heutigen Höhepunkt, der für die meisten sogar der des ganzen Einführungstrainings ist.«

    Er öffnete die kleine Seitentür, die zu einem lang gestreckten Gebäude führte, das wie ein weiterer Stall aussah. »Wenn ihr schon die Quhatas beeindruckend fandet, dann müsst ihr erst mal die hier sehen.«

    Der Instruktor schob das Tor weit auf, sodass der zartrosa Schein der Sonne Uul in diesen Bereich der Stallungen fiel.

    »Das, liebe Newbies, sind unsere Siitas.« Francesco machte eine effektheischende Geste. »Sind sie nicht schön?«

    Athena stockte der Atem. Ihre Begegnung im Nachbarstall mit den Quhatas, dem planetaren Äquivalent für Ochsen, war bereits ein Erlebnis gewesen, doch der Anblick der Siitas ließ ihr Herz höherschlagen. Diese anmutigen Wesen auf Bildern oder in Videos zu sehen, war beeindruckend. Einem drei Meter großen Saurier auf zwei Beinen gegenüberzustehen, war atemberaubend.

    Als Kind hatte sie sich nie für Saurier begeistern können, sich sogar davor gefürchtet. Aber diese Sauroiden machten ihr keine Angst. Vielleicht lag es daran, dass Siitas außer an Beinen und Hals keine glatten, kalten Reptilienschuppen besaßen, sondern mit einem Fell aus kurzen, platten Haaren bedeckt waren, die an den Rändern fast wie Federn aussahen. Das schmale Maul glich dem eines Kamels, und wie diese, schienen die Siitas fortwährend zu kauen. Alles in allem erinnerten sie diese Tiere eher an übergroße Kängurus mit einem weit nach hinten ausladenden Knochenzapfen am Schädel.

    Dagegen waren die Quhatas nebenan plumpe Tiere. Sie glichen einer Kreuzung aus Nilpferd und Gürteltier mit schmalen Geweihschaufeln, die sich seitlich am Kopf befanden.

    Francesco trat an ein Tier heran und tätschelte seinen Hals.

    »Ihr müsst euch mit ihnen vertraut machen, denn sie sind in fast allen Gegenden von Shi’ialla das Hauptverkehrsmittel. Wir bringen euch zwar mit dem Hopper hin, aber aus verständlichen Gründen darf die indigene Bevölkerung natürlich kein technisches Gadget aus unserer Welt zu Gesicht bekommen. Darum fliegen die Hopper auch nur nachts und im Stealth-Modus, das heißt tief, langsam und leise. Und deshalb müsst ihr die letzten Kilometer auf einheimische Weise weiterkommen. Und da sind die Siitas die erste Wahl. Es sei denn, ihr wollt zu Fuß gehen.«

    In einigen Tagen würde eine solche Gruppe aufbrechen. Ihr Ziel lag zehntausend Kilometer südöstlich von hier auf dem Kontinent Me’el. Athena hatte sich für diese Gruppe einteilen lassen, denn der Kurs ihrer nächtlichen Reise würde hundert Kilometer Luftlinie an Wamuan vorbeiführen.

    Francesco wandte sich an seine Zuhörer. »Also? Wer will die oder der Erste sein? Keine Panik! Sie sind gutmütig und leichter zu reiten als Pferde.«

    4

    Hoch über den Zinnen des Palasts, im Zentrum der Stadt Wamuan, erhob sich der Turm. Von hier aus konnte man die ganze Stadt und die Ebene, in der sie lag, überblicken. Dieser Anblick war jedoch nur ganz wenigen Menschen vergönnt.

    Eine hagere Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, lehnte einsam am Rand der Plattform, die Hände zusammengefaltet, mit den Ellenbogen auf der steinernen Brüstung abgestützt, und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Auf der einen Seite blieb er an der Straße nach Kallein hängen, die sich zwischen den Hügeln hervor schlängelte, der Stadt näherte und sich als belebte Hauptstraße unter dem Bollwerk des Haupttors hindurch duckte, die direkt auf den Palast zuführte. Auf der anderen Seite war es der Fluss Kjul, der das Auge lenkte, wie er sich in die Bucht von Wamuan ergoss und wo sich zwei Eilande, »die Schwestern« Flar und Fnis, aus der See erhoben.

    Im Westen versank die Sonne in einem letzten Aufbäumen blutroten Lichts. In ihrem Schein blühten die Wolkentürme einer grauschwarzen Wolkenfront, die den gesamten südlichen Horizont umspannte. Der Himmel wurde bleifarben und stumpf. Wahrscheinlich würde es ein Gewitter geben.

    Ein riesiger Schwarm von Ga’ata schwebte über der Bucht von Wamuan. Nach und nach löste er sich auf. Die Flugechsen kehrten zu ihren Nistplätzen auf den beiden vorgelagerten Inseln Flar und Fnis zurück.

    In Anbetracht der politischen Lage hätte der K’atok zufrieden sein können.

    Die Masuti waren vor zwei Jahren erfolgreich zurückgeschlagen worden, dank Adriaan Deneason, der ihm so unvermittelt aus dem Himmel in den Schoß gefallen war.

    Die sichtbaren Wunden, welche die Schlacht um Wamuan gerissen hatte, waren größtenteils verheilt. Die nicht sichtbaren, die Narben an Körper und Geist seiner Untertanen, seiner Kinder, würden nicht so schnell verheilen.

    Mit seiner Hauptstadt und seinem Land ging es aufwärts. Auch dank des Fremden von den Sternen, den er zu seinem Zef'ihl gemacht hatte.

    Die Stadt roch anders, frischer als vor drei Jahren – aufgrund des Zef'ihls und seiner »K'naal'lis'atzon«.

    Der Handel mit den Nachbarländern blühte – mit den Erfindungen des Zef’ihls.

    Die Nachbarn hatten Respekt vor dem kleinen Kofane – aus Angst vor dem Zef’ihl.

    Es missfiel dem K’atok, dass so viel von einer einzelnen Person abhing. Kofanes Wohl lag in den Händen eines Mannes, der in seiner Welt als Verbrecher galt. Nur weil er angeblich in der Schlacht getötet worden war, wurde der Zef’ihl von seinen Leuten nicht mehr gesucht, und nur deshalb stand er dem K’atok noch zur Verfügung.

    Mit dem Zef’ihl besaß Kofane eine unschätzbare Kostbarkeit. Es hatte Überzeugungskraft gebraucht, damit der Fremde sein Wissen und seine Fähigkeiten in den Dienst des Landes stellte. Die Wochen im Kerker hatten dazu beigetragen. Und auch die Privilegien – eine repräsentative Villa, die Pa’atni, die sich seiner sehr menschlichen Bedürfnisse angenommen hatten –, waren ein goldener Käfig gewesen.

    Jetzt waren es die unsichtbaren Fesseln einer Familie, die ihn an Wamuan und Kofane banden.

    Was dem K’atok Sorgen bereitete, waren nicht die eifersüchtigen Blicke der Nachbarn auf seinen Zef'ihl, sondern dass Kofanes plötzlicher Reichtum an Wissen und Fortschritt die Aufmerksamkeit von jemanden erregte, der ihnen weit überlegen war.

    Er wusste, dass es dort draußen Mächte gab, die sie alle – sein Land, seine Kinder – mit einem Wisch auslöschen konnten. Er hatte es in den Mitschriften Sob’uhns gelesen.

    Schlimmer noch! Diese Mächte konnten sie zu Sklaven machen, die weniger Rechte als Pa’atni hätten. Sie konnten ihnen ihre Lebensart nehmen, ihnen ihre Religionen aufzwingen, ihnen ihre Würde nehmen.

    Und sie würden ihm und seinen Kindern ihren Zef’ihl wegnehmen. Es wurde Zeit, sich diesem Problem zu stellen.

    Er richtete sich auf, drückte den Rücken durch und ging mit entschlossenem Schritt zu den Leibwächtern, die an der Treppe warteten.

    »Schickt den Zetul zu mir!«

    5

    Es war warm im Hopper, der Antrieb säuselte vor sich hin, und die Innenbeleuchtung war auf ein Minimum heruntergedimmt. Ideale Voraussetzungen, um auf einem Flug in tiefster Nacht vor sich hin zu dösen. Athena war zu aufgeregt, um zu schlafen. Außerdem war ihr von der Schwerelosigkeit im Hopper übel.

    Hinter dem mittleren Sitzblock begann die Außenwand der Kugel, die bis zur Decke und durch sie hindurch reichte, und die den Higgs-Applikator in sich barg. Diese im Raumfahrerjargon »Hickup« genannte Maschine erzeugte das Feld, das den Einfluss der Gravitation aufhob. Was blieb, war eine schwebende Masse, die vom Staustrahltriebwerk im Heck bewegt wurde.

    Alle Wände, der Boden und die Decke waren mit einem speziellen Material ausgekleidet. Zusammen mit den Schuhüberziehern sorgte es für den nötigen Halt, wenn der Hickup in seinem kugelförmigen Feld die Schwerkraft aussperrte.

    Rechts und links der Kugelwölbung führten schmale Gänge in den hinteren Bereich. Dort befand sich der Stauraum mit den Versorgungsgütern für die Forscher vor Ort, sowie Ausrüstungsgegenstände und die wenige, persönliche Habe der Passagiere. Auch der Rucksack mit Athenas Habseligkeiten und dem heimlich beschafften Proviant befand sich noch im Stauraum hinter der Kugel des Hickups.

    Die Kabine verfügte neben den Sitzen für Pilot und Kopilot über weitere acht Sitzplätze für Passagiere.

    Alle Plätze waren belegt. Bis auf eine Frau kannte Athena die Passagiere von den Einführungswochen. Sie hatte bewusst vermieden, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Während die anderen sich nach dem Unterricht noch trafen oder den Abend zusammen verbrachten, hatte Athena sich herausgehalten. Man hielt sie vermutlich für überheblich oder eine Eigenbrötlerin. Dabei war Athena normalerweise gesellig. Aber jede unbedachte Äußerung, jedes zwanglose Fachsimpeln mit einem der Forscher konnte ihre Tarnung auffliegen lassen. Dem war sie lieber aus dem Weg gegangen.

    Die meisten Passagiere dösten vor sich hin oder unterhielten sich leise. Nur ein paar der Neuen aus ihrer Gruppe hatten offensichtlich Spaß an der Schwerelosigkeit, die nicht nur die Haare wie eine Seegraswiese im Meer wogen, sondern alles, was nicht befestigt war, durch die Kabine umherschweben ließ.

    Athena zupfte an ihrem Rock und klemmte den Saum zwischen den Beinen ein. Fast alle trugen bereits die Kleidung, wie sie auch die Eingeborenen trugen. Rock war sie ja gewohnt, aber diese merkwürdige Art von Unterwäsche war gewöhnungsbedürftig. Sie bestand aus einem langen, schmalen Tuch, das einmal um die Hüften geschlungen, dann zwischen den Beinen hindurchgeführt und wieder an der Hüftschlinge befestigt wurde. Die Pobacken blieben dabei frei. Ständig ertappte sie sich, wie sie den Saum des Rocks nach unten zupfte, weil sie sich so nackt vorkam. Vor allem, wenn er wie hier im Antischwerkraftfeld des Hickups ständig bestrebt war, sich zu lüpfen.

    Athena saß an einem der Plätze an der Außenwand. Sie lehnte ihren Kopf an das Pla-Glas des Kabinenfensters, beschattete ihre Augen vor dem Restlicht der Kabine, und starrte nach draußen. Die Finsternis einer Welt, die Jahrhunderte von der Entwicklung elektrischen Lichts entfernt war, half ihr gegen die Übelkeit. Ein unterschwelliger Geruch in den Polstern, nicht vollständig von Raumluftparfüm überdeckt, ließ ahnen, dass sie nicht die Erste wäre, die sich im Gefühl des freien Falls übergeben würde.

    Einer der Monde stand am Himmel. Der Farbe nach musste es Asoon sein, der größere der beiden Trabanten. Seine dünne Atmosphäre überzog ihn mit einem blauen Schein. In seinem Orbit befand sich auch der »Bahnhof«, an dem das Sprungschiff sie abgesetzt hatte. Von dort aus starteten Shuttles, die Forscher zum Basiscamp an der Oberfläche und wieder zurückbrachten. Der kleinere Mond, die rötliche Asuul, war nicht zu sehen.

    Die astromechanischen und geografischen Gegebenheiten waren eine von vielen Schulungseinheiten unter dem Indoktrinator gewesen. Der Planet verfügte über zwei bewohnte Großkontinente, Ajschta und Me’el. Auf Ajschta befand sich das Basiscamp, der versteckte Stützpunkt der Terraner auf Shi’ialla, zugleich der Ort mit der Startvorrichtung, mit deren Hilfe man die Umlaufbahn erreichen konnte.

    Eine dritte, kontinentgroße Landmasse mit dem zungenbrechenden Namen Xsesch’an lag unter dem ewigen Eis des Nordens begraben. Lediglich ein Zipfel im hohen Norden blieb vom Permafrost verschont und ragte mit einer geologisch dazugehörenden Inselkette fast bis zum Äquator.

    Eine weitere Inselgruppe im Osten bildete den Pseudokontinent Sumsar, vergleichbar dem irdischen Indonesien.

    Me’el war die Endstation dieses Hoppers. Die letzten Tage hatten sich die Gespräche im Basislager um nichts anderes als die Ruinen gedreht, die man dort in einem unzugänglichen Dschungeltal mittels LIDAR-Fernerkundung aus dem Orbit entdeckt hatte.

    Die Forscher konnten weitgehend frei entscheiden, wo und wann und wie sie eingesetzt wurden. Darum war dieses Tal das Ziel der meisten im Hopper. Der Stauraum im Heck der Maschine war voll mit Materialien und Versorgungsgütern für das neue Forschungscamp.

    Athena hatte es geschafft, für den Trip nach Me’el eingetragen zu werden. Wäre sie wirklich die Anthropologin, als die sie sich bisher erfolgreich ausgegeben hatte, wäre sie jetzt hoch erfreut, die Gelegenheit zu bekommen, in unerforschtem Gebiet zu graben.

    Vorher würde der Hopper jedoch noch einen Zwischenstopp in einem abgelegenen Camp mit Botanikern einlegen. Die Flüge erfolgten fast ausschließlich nachts und für den Fall, dass ein Hopper irgendwo abgestellt werden musste, gab es im Stauraum eine zusammengefaltete Mimikryfolie, die auf optoelektrischem Wege die Struktur des Hintergrunds imitieren konnte. Die Eingeborenen dieser Welt sollten nicht mitbekommen,

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