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In einer unmöblierten Nacht: Roman
In einer unmöblierten Nacht: Roman
In einer unmöblierten Nacht: Roman
eBook313 Seiten4 Stunden

In einer unmöblierten Nacht: Roman

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Über dieses E-Book

Die Geschichte einer Frau, die ihr Glück in der Schweiz sucht - erzählt in zarten Tönen.

Eine Statue führt zwei Menschen zusammen - und verändert ihr Leben
Beim Kauf der Statue "Die Ameisenkönigin" lernen sich Yana und Victor im Puschkin-Museum in Moskau kennen. Sie - eine junge ukrainische Übersetzerin, aufgeschlossen und auf der Suche nach dem großen Glück. Er - ein etwas verschrobener, fanatischer Kunstsammler und erfolgreicher Schweizer Unternehmer. So gegensätzlich sie auch wirken: Die beiden verlieben sich. Voller Vorfreude zieht Yana zu Victor in die Schweiz. Die junge Frau sehnt sich nach einer erfüllenden Liebe, der Gründung einer kleinen Familie, beruflicher Verwirklichung und nach einer neuen Heimat in der Schweiz.

Die Exotin in der Schweizer Idylle: Fairytale gone bad?
In der Schweiz findet Yana eine ernüchternde Lebenswirklichkeit vor: Victor kann ihr nicht die Geborgenheit geben, die sie sich gewünscht hat. Der Familiengründung stehen seine waghalsigen Kunst- und Bauprojekte in einer kalten und elitären Unternehmerwelt im Wege. Und seine Faszination für "Die Ameisenkönigin", die sich immer mehr zu einer Obsession wandelt. Obwohl sich Yana im kleinen Schweizer Städtchen integrieren möchte, droht sie dort weiterhin die Fremde zu bleiben …

Eine Geschichte von Liebe, Verlust und Erkenntnis
In einem beschaulichen Schweizer Örtchen tobt der Kampf zwischen hohen Erwartungen und herben Enttäuschungen. Mittendrin die Exotin Yana, die ihr Lebensglück nicht aufgeben will. In klangvoller Sprache erzählt der Schweizer Prosa-Poet Markus Ramseier von Vertrautheit und Fremdheit, von Enttäuschung und nicht zu zerstörender Hoffnung.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum11. Apr. 2018
ISBN9783709938409
In einer unmöblierten Nacht: Roman

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    Buchvorschau

    In einer unmöblierten Nacht - Markus Ramseier

    Sprichwort

    1

    Yana mochte die Bronzefigur nicht, aber sie liebte ihren Besitzer. Victor saß auf seinem alten Schaukelpferd. Wie Pfeiler ragten seine Knie in die Höhe. Die Ameisenkönigin hatte er so auf die Kommode gestellt, dass die kühlen, vergoldeten Augen im schräg einfallenden Licht der Februarsonne in seinem Kinderzimmer Blitze warfen. Erhaben thronte die schmale Figur über allem, sparsam bemalt, umrahmt von Blattwerk. Ihr kantiger Kopf wurde getragen von einem bleistiftdünnen Hals. Die Königin war halb Mensch, halb Ameise, eine Riesin mit einem tiefen Dekolleté und einem Umhang, der von einem Gürtel notdürftig geschlossen wurde. Auf ihren erhobenen Händen balancierte sie zwei Ameisenmännlein. Das Männlein in ihrer Rechten trug auf seinem Haupt eine weltliche, die Figur in der Linken eine päpstliche Krone. Das alles spielte in einem auf dem Eichensockel angedeuteten Wald, wo sich zu Füßen der Königin eine Heerschar von Arbeiterinnen auf dem Laubboden abmühte.

    Man müsste diese Szene malen, dachte Yana: der CEO mit der gebügelten Hose und den gespreizten Beinen auf dem Schaukelpferd vor der Skulptur mit den goldenen Augen – ein Stillleben. Auch wenn das Werk sie irritierte – sie genoss die Stille und Weite der Villa. Vics einstiges Kinderzimmer im Turm des Gebäudes war größer als ihre Wohnung in Moskau, ganz zu schweigen vom winzigen, dunklen Raum in Schabo, den sie mit ihrer Zwillingsschwester Ewa geteilt hatte. Mehr als ein Kajütenbett, ein Tischchen für die Hausaufgaben, ein schmaler, wackeliger Schrank und der kleine, blaue Zauberteppich am Boden hatten darin nicht Platz gefunden. Der Teppich war ihr Raumschiff gewesen, das sie aus der Enge in die Umlaufbahnen der Phantasie katapultiert hatte. Einmal waren sie zu einem roten Stern aufgebrochen. Dort hatten sie ihre Traumprinzen geheiratet. Die Landung auf der Erde nach solchen Expeditionen war hart.

    Und jetzt? Ihr kamen bereits wieder Zweifel, wenn sie an ihren Prinzen dachte. Pack deinen Koffer, hatte Vic ihr vor dem Galaabend im Puschkin-Museum gesagt. Verabschiede dich von überflüssigen Dingen. Du gehörst zu mir. Sie hatte noch kaum etwas über ihn gewusst, außer dass er sich für alles interessierte, was von Belang war, und Belangloses mit einem einzigen Satz erledigen konnte. Und sie war seinem Charme im Nu erlegen. Nur für ihn hatte sie ihr Haar zu einem Kranz geflochten und die silbrigen Traubenanhänger ins Ohr gesteckt, ihren einzigen Schmuck. Wenn sie kerzengerade dastand, war ihre Haltung jener der Königin nicht unähnlich. Doch sie gehörte nicht zur Gilde, die in den Festsaal geströmt war. Sie trug keine Markenuhr. Die gesamte nationale A-Elite hatte sich an diesem Freitag versammelt. Die Oligarchengattin Balbukina hatte Victor so heftig geküsst, als sei er ein alter Bekannter. Ihr giftgrünes Bleistiftkleid war der Blickfang des Abends gewesen. Auch Yana hatte Grün getragen, dezentes, klassisches Lindgrün. Viel mehr hatte sie nicht in ihrem Kleiderschrank. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie ihr Tageshoroskop gelesen. Sie denken über sich selber nach. Und das bringt Ihnen neue Erkenntnisse, nämlich, dass Sie nicht nur das schönste und schlauste Wesen auf Gottes Erden sind, sondern im ganzen Universum. Wenn es nur einen Bruchteil so einfach wäre! Wie viele hier würden die Nase rümpfen? Ukrainerin erschleicht Schweizer Pass. In welchem Puff hast du sie aufgegabelt, Vic? Brauchst du täglich dreimal Sex und frisches Holz vor der Hütte? Wie willst du mit der reden: Kuh macht muh, nicht kikeriki, Swiss Kuh? Sie kannte diese Sprüche von angetrunkenen Touristen. Zu allem Elend war Victor ein Prominenter. „Liebesglück im Osten würden sie in den Zeitungen titeln. „Dolmetscherin mit berückend blauen Augen bezaubert Schweizer Unternehmer. Sie gab sich einen Ruck. Konnte Victor und ihr das Geschwätz nicht egal sein? Legal war ohnehin alles. Vics Junggesellenwohnung verfügte über mehr als die vorgeschriebenen zwei separaten Räume, Nasszelle und Küche.

    Feiner Kuchengeruch stieg vom Erdgeschoß nach oben. Seit der Ankunft am Flughafen hatte sie nichts mehr gegessen. Der erste Gedanke in der neuen Heimat war: Ich sterbe vor Hunger. Im Duty-free-Shop war sie an allen Parfums vorbei zum nächsten Stand mit Süßigkeiten gerast und hatte eine Toblerone erstanden, um sich für das Treffen mit Victors Mutter zu stärken. Mehr als einmal hatte sie sich den Empfang in den schlimmsten Farben ausgemalt. In dieses überwältigend schöne Tal, dieses überwältigend große, noble Haus, in diese überwältigend wohlhabende, im Leben eingerichtete Familie brachte ihr einziger Sohn eine überwältigend einfache, mit den Sitten des Landes und der Gesellschaft nicht vertraute, mittellose Übersetzerin, die keinen Dunst von Kunst hatte. Zum Schreien war das. Würde die Mama sich nicht in wenigen Minuten breitbeinig vor Vic stellen und ihn gründlich durchschütteln? Würde er, der gesellschaftliche Vorzeigesohn, sich dann wehren und für seine Liebe einstehen?

    Victor blieb reglos in seine Plastik versunken. Eine halbe Million hatte er in die Beweise investiert. Der Wert der Königin stieg mit jeder Expertise, die das Werk als echt auswies. Nicht eine um 1950 in Berlin versteigerte Kopie war in seinem Besitz, wie Neider vermutet hatten, sondern eine von Meister Rutzki neu geschaffene Figur. In Moskau, wo Kunst aus ganz Europa in den Sälen stand und an den Wänden hing, hatte man ihm die Absolution erteilt. Yana hatte den Segen vom Russischen ins Deutsche übersetzt.

    „Ist es nicht hundertmal netter, mit Meisterwerken im eigenen Haus zu leben als mit Aktienzertifikaten?, rief er in die Stille. „Ich danke Gott, dass ich zu diesem Werk gekommen bin. Es überstrahlt alles, was ich bis jetzt erreicht habe.

    Und das ist nicht wenig, ergänzte Yana in Gedanken. Seit die Königin ihm gehörte, galoppierte sein ohnehin bewegtes Leben mit ihm davon. Anfang des Jahres hatte er einen Kurs in Körpersprache besucht, hatte er ihr auf dem Flug erzählt: So behalten Sie die Oberhand. Es ging um klare Zeichen. Gelang der Auftritt, war der Rest ein Kinderspiel. Stärke gepaart mit Leidenschaft. Keine Magengeschwüre, keine feuchten Hände. Manche zitterten, wenn er einen Raum betrat. Einige hielten ihn wohl für verrückt. Vic konnte das Leben feiern.

    Abrupt erhob er sich vom Schaukelpferd und trat ans offene Fenster. „Mit dir an meiner Seite wird alles noch einfacher!"

    Er war groß und kräftig gebaut, fast einen Kopf größer als sie. Ein Windstoß brachte ihn nicht aus der Fassung. Seine buschigen Augenbrauen standen für Ehrgeiz und Willen. Am lebendigsten aber waren seine strahlend schwarzblauen Augen und seine dunkle Stimme. Vic verbrachte doppelt so viel Zeit mit der Morgentoilette als sie. Das Leben um ihn herum verlangte Tag für Tag perfekte Auftritte. Allein die Rasur kostete ihn eine Viertelstunde. Jede seiner Bewegungen wirkte überlegt und überlegen. Vielleicht, weil er sich an allem so unverstellt freuen konnte, selbst an ihr, der kleinen Dolmetscherin, die sich mit allem schwer tat, sich vor jedem neuen Wort fürchtete, das auf sie zukam, als gelte es, die Silben beim Übersetzen auf einer Höhe zu überspringen, die sie noch nie geschafft hatte. Das gefüllte Champagnerglas hieß im Schweizerdeutschen Cüpli, eine schwer übersetzbare Verkleinerungsform – sogar für eine Dolmetscherin, die Russisch, Ukrainisch und Deutsch als Muttersprache hatte. Auch Namen konnte man nicht übersetzen. In Moskau hatte ihr Victor einige beigebracht: Rivella, Toblerone, Ovomaltine, Ricola, Kägi-Fret, Zweifel Chips, Kultprodukte aus der Schweiz, Aromat, die unschlagbare Gewürzmischung von Knorr, ohne die der Prinz nie ins Ausland reiste. Auch Victor war eine unschlagbare Mischung. Den meisten Menschen fiel es schwer, von ihm nicht begeistert zu sein. Er hatte kein vollkommenes Gesicht, aber eines, in dem sich keine Katastrophen und keinerlei Zweifel eingenistet hatten.

    „Ja, viel einfacher", wiederholte er.

    „Wie weiß ich denn, dass du der Richtige bist?", fragte sie ihn neckisch.

    „Ich bin der Richtige, Punkt."

    „Und wann ist einer der Richtige?"

    „Wenn er sie hundertprozentig ergänzt."

    „Und wenn sie fast nichts hat und fast alles zu ergänzen ist?"

    „Ach, tu nicht so bescheiden. Du bist wunderbar, Yana. Und ich gebe dir alles, was ich habe."

    „Ich bin anstrengend."

    „Du bist entzückend!"

    „Du verwechselst mich mit einer andern."

    „Es gibt keine andere, da kannst du lang suchen!"

    Seine Begegnungen mit dem anderen Geschlecht seien bis vor ein paar Wochen unspektakulär verlaufen, hatte er ihr gestanden. Er habe niemandem falsche Hoffnungen machen wollen. Wenn sich eine an ihn hängte, hatte er sie abgeschüttelt, nicht grob, aber entschieden.

    Sie gab sich geschlagen. Um Luft zu bekommen, öffnete sie den obersten Knopf ihres Jeanshemds. „Fass es nur nicht als Freipass auf", sagte sie ihm im Spaß.

    Längst hatte sie begriffen, dass es kein Zurück gab. Er hatte einen Zeitzünder betätigt, der ihre bis anhin tief im Innern schlummernde Leidenschaft mit Schweizer Präzision ins Freie gesprengt hatte. Sie genoss seine Anflüge von Extravaganz. Vic war ein reicher Mann. Daran war nichts Böses. Das Edle, Große, Ganze war ihm wichtig. Sie versuchte, sich alles zu merken, was er sagte, wie er es sagte, sie entwickelte ein Extragedächtnis für seine Gesten, seine Mimik, seine Haltung, die Kraft, mit der er die Dinge anpackte. Alles kam ihr wichtig vor, richtig, wenn sie es mit ihrem eigenen Gebaren verglich, ihrer mickrigen Lebenserfahrung. Immerhin konnte sie sich in jeder Situation konzentrieren. Die Arbeit gab ihr Schutz. Sie musste übersetzen – und die andern mussten ihr zuhören. Von den Satzzeichen mochte sie das laute Ausrufezeichen am wenigsten. Victor liebte es, was sie bisweilen irritierte. In der Dolmetscherschule hatten sie sogar das Schweigen geübt. Sie hatte eine alte Lehrerin gehabt, vor der sie große Ehrfurcht hatte. Man trug eine Verantwortung für jedes Wort und für jede Pause.

    Mit den Fingerkuppen fuhr sie über sein Handgelenk. Ja, sie ergänzten einander. Victor war schneller und lauter als sie, aber er nahm sie ernst, er überfiel sie nicht mit Küssen und war nicht öffentlich zärtlich. Dass er ihr mehrmals gelbe Rosen gekauft hatte, konnte sie ihm verzeihen. Gelb galt in ihrer Heimat als Zeichen des Abschieds und der Trauer. Mit der ausgestreckten Rechten wies er zum Fenster hinaus ins Tal, hinauf zur Fluh. „In einem Jahr weihe ich den neuen Firmensitz ein, in vier, fünf Jahren verkaufe ich die Firma an die Holländer oder an die Franzosen. Dann gibt es nur noch die Kunst für mich – und dich. Aber jetzt gibt es eine kleine Hausführung. Mutter wartet. Ich muss dich warnen. Das kann ganz schön dauern."

    Victors Mutter trug eine kragenlose beige Hemdbluse und eine braune Hose. Feine Hautfältchen legten sich wie ein zweiter Kragen über den Rand der Bluse. „Du hast eine sportliche Frisur, meine Liebe! Mit mütterlicher Selbstverständlichkeit duzte sie Yana und strich ihr übers blonde Haar, das ihr Gesicht als wuscheliger Bob einrahmte. „Und die kleinen Volants passen perfekt zu deinem Jeanshemd, auch die Sneakers. Ihre Augen bewegten sich ununterbrochen. „Yana hat eine Elfensilhouette und einen richtig schönen Schmollmund, wandte sie sich an Vic. Und bereits wieder an sie gerichtet: „Du bist so schmal und zart, dass man fast fürchtet, dir beim Händeschütteln wehzutun. Um ihre Nasenflügel war ständig ein kleines Beben. Sie verwuchs mit der Ansammlung von Schränken, Stühlen, Sofas, Truhen zu einem stil- und glanzvollen Ganzen. Yana kam nicht aus dem Staunen heraus. So hatten Großbürger Ende des 19. Jahrhunderts also in der Schweiz gelebt. So lebten reiche Leute noch heute. Ein Glasfenster mit einer Jagdszene war über der Eingangstür eingelassen, ein Plattenboden führte von der Empfangshalle zu den angrenzenden Räumen, Küche und Speisekammer. So viele Blickfänge – Kamine, voluminöse Schränke, bemalte Wände, Vorhänge in Leinenvelours mit Spitzenordüren, Landschaftsbilder im Treppenaufgang, überall Bilder. Eine kleine silberne Ente stand auf einem Beistelltisch, gefüllt mit Erdnüssen. Die Brauntöne von Wänden, Türen, Böden und Treppen vereinigten sich im Erdgeschoß zu einem üppigen Ganzen, während im Obergeschoß in Bibliothek, Bad und Schlafzimmern Gelbtöne dominierten. Mutter Muff redete auf dem Rundgang ununterbrochen. Ihr ging die Arbeit nie aus. Vor Kurzem hatte sie gemusterte neue Vorhangstoffe mit Dessins aus der Zeit um 1900 bestellt. Die Holzböden waren frisch geschliffen und gebohnert.

    „Bist du katholisch?", fragte sie unvermittelt.

    Yana erschrak. „Nein – gar nichts. Bei uns war Religion lange verboten."

    „Victor ist katholisch."

    „Ich weiß." Am liebsten hätte sie losgeheult.

    Die Wendeltreppe hinunter ging es auf die Terrasse. Hier, wo das Städtische fließend ins Dörfliche überging und das Dörfliche nach dem letzten Verkehrsschild „Sackgasse neben dem still vor sich hinplätschernden Bach im Idyll endete, erhob sich am Hang die „Augenweide. „Der Bauherr hat es bis in höchste Ämter geschafft, sagte Victor. „Vater hat das Haus in einem üblen Zustand gekauft und gründlich renoviert. Das Schieferwalmdach war mit Dachaufsätzen und Zinkblechzinnen verziert und der Kranz von Kaminaufbauten versprach auch an Frosttagen Wärme. Große Fenster. Holzläden. Nachts mussten diese Fenster leuchten wie ein überdimensionierter Adventskalender. Mutter Muff seufzte kaum hörbar. Talseitig hatte sich der mit Natursteinquadern verkleidete Bau in den vergangenen Jahrzehnten leicht abgesenkt. Die Vorderfassade der Villa hatte Risse.

    Yana atmete das Tal in sich hinein. Sie war daheim im Geraschel der Blätter und im Gurgeln des nahen Baches. Und Victor ließ die Wärme seiner Hand in ihre strömen. In diesem kleinen Reich war er groß und lebenstüchtig geworden. „Wie oft habe ich mit dir das Gras zwischen den Ritzen der Granitplatten entfernt? Er schubste Mutter in die Seite. „Jeden Freitagabend hast du den Stubenteppich auf der Stange neben dem Schuppen geklopft, obwohl du dir ein ganzes Heer von Putzfrauen hättest leisten können. Wenn Besuch kam, zogst du die Fransen mit dem Kamm gerade. Und ich habe mit den Fransen gespielt, während die Gäste auf dem Sofa saßen und du deinen Spezial-Gugelhopf präsentiert hast. Nie sind Kinder gekommen. Nie ist nach Vaters Tod noch etwas passiert, bis auch der Wellensittich eines Tages gestorben ist. Vics Stimme tönte keineswegs vorwurfsvoll. Mutter hatte das Haus bewahrt. Das hatte sich bewährt. Der Wohlstand hatte sie nicht träge gemacht. Die Buchhaltungen von über vierzig Jahren standen Rücken an Rücken in den Gestellen. Ordnung. Ruhe. Harmonie. Das war die Augenweide.

    „Nichts hat sich seit Vaters Tod verändert, fuhr Victor in ruhigem Tonfall weiter, „bis auf diese Sichtbetonhäuser. Der südliche Teil des prächtigen Landschaftsgartens war sieben Einfamilienhäusern gewichen, die sich im Halbkreis, der Beugung des Talbachs folgend, um die Villa reihten. „Alle Häuser haben die gleichen braungrauen Rattanliegen von Möbel Pfister auf den Sitzplätzen." Kommt uns nicht zu nahe, schienen die aneinandergereihten Würfel zu mahnen.

    Der Gugelhopf auf dem Salontisch war so kolossal, dass er über den Rand der Kuchenplatte ragte. Zartblaue, zur Farbe des Tischtuchs passende Blumenmotive rankten sich um Porzellanteller und –tassen. „Früher lebten die Menschen hier im Tal von ihren Schafen, von der Wolle und der Milch. Mit der Serviettenspitze tupfte Mutter einen Kaffeetropfen von Yanas Untertasse. „Die Schafe zogen dem Bach entlang, und im Winter, wenn der Schnee kniehoch lag, wohnte der Hirte zuhinterst im Kessel unter der Fluh mit den Tieren im selben Haus. Für die Schafe gab es einen großen Raum, für den Hirten einen kleinen. Alle waren zusammengepfercht. Draußen im Schnee wären sie erfroren. Sie schnitt die eine Häfte des Kuchens auf. „Greift zu! Erinnerst du dich, Vic? Als Kind hast du immer die Rosinen herausgepickt. Selbst als junger Mann hast du das noch getan." Kerzengerade saß sie auf ihrem Stuhl. Das hohle Kreuz ließ sie größer erscheinen als sie war. Yana mochte die herbe Wärme im Redeschwall der Frau, auch wenn diese alle paar Sätze mit dem Schlimmsten rechnete. Zwischen zwei Bissen zeigte sie Yana ein Foto ihres verstorbenen Gatten. Darauf war Vics Vater ein imposanter, hoffnungsfroher Mann mit Bart. Still und sanft sein Blick. Und doch hatte er eine Fabrik aufgebaut und schon zu Vics Primarschulzeit mit eiserner Hartnäckigkeit um den Jungen als Nachfolger geworben. Damals war die Augenweide das einzige Haus weit und breit, ein verträumtes Gebäude am Ende des Talwegs, einen Kilometer von der Kirche entfernt. Mutter Muff hatte den Weg meist zu Fuß gemacht, auch nachdem sich ihr Alexander einen Chauffeur leistete und in der nachträglich eingebauten Tiefgarage drei Wagen standen, einer für die Calgex, einer für privat und einer für die Sonntagsfahrten.

    „Was du erzählst, ist schön und gut, sagte Victor, „aber nun hat man sieben Häuser vor die Augenweide gestellt. Du selbst hast das Land weggegeben …

    „… damit du dir deinen Traum erfüllen kannst. Paps hat alles hart erarbeitet. Er blieb immer auf dem Boden." Mutter und Sohn redeten sich in ein Feuer. Der Mama war der Kunstmarkt unheimlich. Ein Warhol hatte in der Vorwoche für fünfunddreißig Millionen Franken den Besitzer gewechselt. So weit ging Victor nicht. Doch früher blieb das Geld im Unternehmen. Sie hatte die Buchhaltung noch allein erledigt, als die Calgex bereits hundert Mitarbeitende zählte, jede Spesenabrechnung akribisch kontrolliert. Jahr für Jahr war alles bis auf den letzten Rappen aufgegangen.

    „Die besten Köpfe kümmern sich nicht um Entkalkung", warf Vic scherzend ein.

    Sie nahm ihn schärfer ins Visier. „Du hast ja gar keinen Platz mehr für all deine Skulpturen und Bilder, die Räume und Wände sind voll, der Tresor quillt über."

    „Im Zollfreilager in Genf gibt es Raum in Hülle und Fülle."

    „Und wenn es brennt?"

    „Kommt die Stickstofflöschanlage zum Zug. Vor allem muss das Ganze weder verzollt noch versteuert werden."

    Energisch schob Vics Mutter den Unterkiefer vor. „Wann heiratet ihr eigentlich?, fragte sie, „ich habe mir immer Enkelkinder gewünscht, damit wir Muffs nicht aussterben. Yana erstarrte. In Moskau hatte sie vergessen, Geburtstage zu feiern und sich im Spiegel zu betrachten. Noch konnte sie kaum fassen, dass es Glück gab. Umso mehr fürchtete sie sich vor Stürzen ins Bodenlose. Unter dem Tisch drückte Vic sein Knie an ihres. Sofort wurde ihr wohler. Ihre Zwillingsschwester hätte ihre Begegnung eine schicksalhafte Liebe genannt. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Liebe war klein, aber sie bestand. Yana war jetzt siebenundzwanzig und bis vor Kurzem fast noch ein Kind, ein Kind, das Selbstgespräche mit sich führte und sich Nacht für Nacht verlassen vorkam. Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Tränen kannte sie doch nur noch vom Zwiebelschälen. „Geht’s dir gut?, fragte Mutter Muff. „Du bist ja kreideweiß!

    „Doch, mir geht’s gut, lächelte sie und erhöhte den Druck auf Vics Knie, „richtig gut! Vor lauter Begeisterung verschluckte sie sich.

    Mutter lachte so herzlich, dass die Teller auf dem Tisch zitterten. „Erzählt endlich vom Fest, ich bin ja überhaupt nicht im Bild."

    Vic schien nur auf das Stichwort gewartet zu haben. „Punkt 19 Uhr ertönte im Saal ein Gong, legte er los. „Wir saßen in der ersten Reihe, neben dem Direktor und dem Bürgermeister. Und alle die Professoren im Publikum. Just in diesem Moment klingelte mein Handy. Das warst du, Mama, du mit deinen tausend Fragen. Ich sitze mit lauter Russen in einem Saal und kenne weder die russische noch die ukrainische Sprache und du fragst mich, ob Yana studiert hat. Klar hat sie studiert, an der Linguistischen Fakultät in Kiew, mit Auszeichnung! Yana nickte leicht. „Erfahrung hat sie auch, auf Baustellen und Anlagen, mit Heirats- und Scheidungsurkunden, Gerichtsurteilen, Packungsbeilagen."

    „Die Russen sprechen kein Deutsch und kaum Englisch außer cheese, chocolate, Rolex", sagte Yana, um auch einmal etwas zu sagen. Obschon sie Wörter aus vier Sprachen in sich hatte, redete sie unter Leuten kaum. Und obwohl sie von Vic täglich neue Schweizer Wörter lernte, Schiri, Beiz, Älplermagronen, Trumpf-Buur, Cervelatpromi, wagte sie nicht, vor Mutter mit der Mundart zu punkten. Sie hatte ständig Angst, zu versagen, auszugleiten, im falschen Moment zu husten. Die Angst war seit dem Tag ihre ständige Begleiterin, als Großmutter aufschrie, weil sie als Fünfjährige einen vermeintlichen Stock im Garten mit dem Fuß wegschieben wollte. Sie wusste nicht, dass der Stock eine Schlange war und dass man sich vor Schlangen fürchten musste. Nach dem Schock hatte Großmutter ihr erzählt, ihre Mutter habe in der Nacht vor der Geburt der Zwillinge geträumt, sie würde zwei riesige Schlangen zur Welt bringen.

    „Ich trug deine gelbe Krawatte, Mutter, fuhr Vic weiter, „meine Glückskrawatte. Ich war Victor Alexandrowitsch. Ob Fürst oder einfacher Bürger, alle redeten sich mit dem Vornamen und dem Vornamen des Vaters an. Und allen im Saal war klar: Der Muff ist im Besitz eines Millionenfangs, an dessen Echtheit niemand mehr zweifelt. Keine geniale Fälschung, sondern ein Original des Meisters. ‚Ni pucha, ni pera‘ – Hals- und Beinbruch, hatte Yana ihm zugeraunt, bevor er ans Rednerpult trat, und auch wenn es der falsche Augenblick ist: Ich lechze nicht nach gesellschaftlicher Anerkennung, ich will mich nicht nach oben schlafen. – Eines verspreche ich dir, Yana, hatte er zurückgewispert, ich werde immer ehrlich zu dir sein. Hatten nicht alle das Recht auf eine zweite Chance? Ihr erster Mann hatte so frei und so genüsslich gelogen wie der russische Präsident. Nun wünschte sie sich ein Parfum mit einem Duft, der sie immer schützte.

    Vics gerötetes Gesicht strahlte feuchte Wärme ab. „Wiedererkennbarkeit ist das oberste Gebot, Mama. Gestalte dein Werk stets so, dass deine Kunst von der größtmöglichen Zahl Menschen spontan wiedererkannt wird und dein Marktwert stetig wächst. Ich habe die Figur in einem kleinen Antiquariat gekauft. Der Kauf war ein Bauchentscheid, die bemalte Plastik nicht signiert, doch habe ich sogleich gewusst, dass das kein Dachbodenfund war." Schon am Tag seiner Ankunft Moskau hatte er den Spezialisten seine Skulptur präsentiert. Verwirrt hatte die Chefkuratorin des Puschkin-Museums ihren Pony geschüttelt und sich am folgenden Morgen an die Expertise gemacht.

    „Zeigst du mir die Figur endlich?, fragte Mutter. „Und vergesst nicht zu essen, mahnte sie.

    Die aus dem leicht vorgestreckten Kopf hervorquellenden Augen der Königin kamen Yana noch frostiger vor als im Turmzimmer, wie vergoldete Hagelkörner. „Es ist richtig, dass du die Figur gekauft hast, sagte Mutter, „auch wenn ich von diesem Rutzki noch nie gehört habe. Die Königin hat eine stolze, schöne Haltung, doch das Gesicht ist verbissen.

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