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Gedanken sind frei: Science Fiction Kurzgeschichten
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Gedanken sind frei: Science Fiction Kurzgeschichten
eBook356 Seiten4 Stunden

Gedanken sind frei: Science Fiction Kurzgeschichten

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Über dieses E-Book

Die Story von der Welt, in der Schreibcomputer die Bücher schreiben und es menschliche Autoren sehr schwer haben …
Die Story von den verirrten Erinnerungen …
Die Story von den Zeitmaschinen, die wirklich Zeit erzeugen …
Und noch 34 weitere Storys.

Coverbild: Ad libitum/Shutterstock.com

„Jürgen Müller entführt uns nur selten in die Welten weitab, vielmehr mit Vorliebe in die gleich nebenan; nicht Laserschwert und Phaser, vielmehr absurde Situationen und obskure Gedankenspiele sind sein Metier, bei einigen seiner Stories ist man geneigt anzunehmen, dass der Begriff SF-Groteske eigens für ihn erfunden wurde."

(aus einer Rezension von Torstern Altmann)

„Jürgen Müllers Geschichten sind keine Schnellschüsse aus der lockeren Hüfte, die dann an der nächsten Tresentür abprallen – er liefert Hintergründiges, auch wenn das AHA-Erlebnis manchmal erst auf dem zweiten Blick entsteht, Lustiges und Skurriles. … Insgesamt bietet Jürgen Müller mit seinem Kurzgeschichtenband abwechslungsreiche und interessante Unterhaltung auf hohem Niveau, oftmals besser als das, was anderswo gebunden auf den Markt geworfen wird."

(aus einer Rezension von Jürgen Eglseer)

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum21. Mai 2019
ISBN9783730950944
Gedanken sind frei: Science Fiction Kurzgeschichten

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    Buchvorschau

    Gedanken sind frei - Jürgen Müller

    Zum Buch + Schreib-Maschinen

    Zum Buch

    Jürgen Müller

    Gedanken sind frei

    Science-Fiction-Storys

    Inhalt:

    Die Story von der Welt, in der Schreibcomputer die Bücher schreiben und es menschliche Autoren sehr schwer haben …

    Die Story von den verirrten Erinnerungen …

    Die Story von den Zeitmaschinen, die wirklich Zeit erzeugen …

    Und noch 34 weitere Storys.

    Coverbild: Ad libitum/Shutterstock.com

    Schreib-Maschinen

    Der Vorführsaal des Computerherstellers ROTHAUPT besaß die Ausmaße einer Kathedrale, die Inneneinrichtung eines Raumkreuzers aus einem Science-Fiction-Film, der frühestens in fünf Jahren gedreht würde, und an Stelle der blattgoldumrahmten Orgelpfeifen einen kolossalen Flachmonitor der Marke BRILLANT. Einige Meter vor diesem stand statt eines Spieltisches mit Manualen, Registerzügen und Pedalen ein Rednerpult und darauf eine Computertastatur aus Marmor.

    Trotz der Größe des Raums herrschte Gedränge: Aufgeregte Firmenangehörige, hektische TV-Teams und wuselige Journalisten kollidierten untereinander oder mit den Teleobjektiven der aufdringlichen Fotografenschar. Ein Teil der Schaulustigen, die sich den Zutritt zum Medienspektakel der diesjährigen Nominierungen der Anwärter für den Nobelpreis für Literatur leisten konnten, hatte die Absperrung rings ums opulente Kalte Büfett überwunden und schaffte zusätzliches Chaos. Seit die Computer-Riesen am Zuge waren, hatte dieser Literaturwettstreit auf höchster Ebene Kultstatus erlangt.

    Das Stimmengewirr brach ab, als Dolf Rothaupt, agiler Seniorchef seiner marktdominierenden Firma, mit gewohnt forschem Schritt ans Rednerpult trat, dabei die Liste mit den Nominierungen schwenkend, die ihm als vorjährigem Gewinner eben vom Sprecher der achtzehn Juroren überreicht worden war. Seine Töchter Isolda, Isalda und Isotta – unzertrennliche Drillinge, wie es hieß, die bereits vor Jahren das Management des Familienunternehmens übernommen hatten – blieben wie immer unsichtbar im Hintergrund; wahrscheinlich waren sie abstoßend hässlich und scheuten aus diesem Grund das Licht der Öffentlichkeit.

    »Nominiert wurden«, hob er mit rauer, energischer Stimme an, während zeitgleich die Namen mannshoch auf dem aufgehängten Flachmonitor erschienen, »erstens: TJOST – ein historischer Roman aus meiner Wunderschmiede. Zweitens: SIEBEN MASKEN UND KEIN GESICHT – ein Spionage-Thriller, erstellt von SEVENTEEN-CLICK-STORIES, dem nicht üblen Schreibcomputer meines ärgsten Kontrahenten EASYWRITER. Glückwunsch, Roy, auch wenn er nicht von Herzen kommt!« Gelächter brandete auf und wieder ab. »Drittens: MUSKARIN UND WOHL BEKOMMS – ein Kriminalroman von FAROLT... – Pardauz, wer kennt einen Schreibcomputer FAROLT EHRENSING? Oder ist das die Herstellerfirma?«

    »Hier ist jemand umgekippt!«, schallte es aus den Reihen der Zuschauer.

    Ein Arzt öffnete dem schmächtigen, bleichen Burschen, der mit ungläubiger Miene dalag, den Hemdkragen und verabreichte ihm einige leichte Ohrfeigen. »Aufgewacht, junger Mann!«

    »Was ...?«

    »Und da sind wir wieder! Hm, auf den Hinterkopf gefallen, ja? Wo befinden Sie sich, wie heißen Sie?«

    »Rothaupt-Anwesen ... Farolt Ehrensing. Warum fragen Sie?«

    »Glück gehabt. Stehen Sie au...« Der Arzt erstarrte. »Sie heißen wie ...?« Dann wurde er beiseite gerissen und der junge Mann von der Journalistenmeute umzingelt. Die Fotografenschar bereitete in punkto Helligkeit minutenlang einem ausgewachsenen Tropengewitter Konkurrenz. Dolf Rothaupt indes musste von seinen Leibwächtern gestützt werden. Es schien, als hätte die Sensation, dass ein Mensch die Phalanx der Schreibcomputer in den TOP-TEN-BOOKS sprengte, dem Seniorchef einen Herzanfall beschert.

    Farolt aber wurde gefeiert wie Georg Friedrich Händel bei der Aufführung der Feuerwerksmusik im Londoner Green Park.

    Zwei Stunden später befand er sich in einem Park, mit zerschlagenem Gesicht im Gras, und zwei maskierte Frauen in Lederkluft traten ihm, bevor sie zwischen angrenzenden Büschen verschwanden, zum Abschied kräftig in den ungeschützten Leib.

    »Sind Sie okay?« Eine junge Frau, die in der Nähe am Rand eines Springbrunnens gesessen und Vanilleeis geschleckt hatte, war zu ihm geeilt und versuchte ihm aufzuhelfen.

    Eine Frau? Ein Traum von Frau! Vamp, männermordende Sirene und unschuldiges Gör zugleich. Aphrodite, Kleopatra und Helena samt Loreley waren Dreck dagegen! Die Tritte in seinen Solarplexus waren nicht nötig gewesen, damit er atemlos vor ihr auf die Knie fiel!

    »Danke, es geht schon wieder.« Er fühlte sich ihr gegenüber schon nichtig genug; sie musste ihm nicht noch hoch helfen.

    »Soll ich Sie nicht lieber zur Polizei fahren?«

    »Ach wo, das war sicherlich nur eine Verwechslung, ein Einschüchterungsversuch an die falsche Adresse; ich habe weder Schulden noch Feinde.«

    »Nun, besonders ernst scheinen die beiden es auch nicht gemeint haben, sonst wären Sie jetzt reif für die Intensivstation«, erwiderte sie so trocken, wie er nass war ... vom Blut, das noch immer von den aufgeplatzten Brauen über die Wangen lief.

    Sie lief davon, und er hätte sie so gerne bis ans Ende seiner Tage an seiner Seite gehabt!

    An seinen Seiten hatte er jetzt zwei bullige Türstehertypen, die ihn für eine Art »sehr unerwünschter Gast« zu halten schienen. Weit und breit war keine Tür zu sehen, durch die sie ihn schmeißen konnten, trotzdem schmissen sie ihn wiederholt durch die Gegend und zwar konsequent einem schwarzen Lieferwagen mit dunklen Scheiben entgegen.

    Die beiden Maskierten sprangen aus den Büschen hervor und schlugen die beiden Männer mit Pistolenknäufen nieder.

    Eine seltsam anmutende Nobelkarosse hielt mit kreischenden Bremsen neben ihm. »Rein mit dir! Schnell, Mann!« Eine schmalgliedrige Hand zog ihn auf den Beifahrersitz. »Scheint doch ernst zu sein. Nichts wie weg!« Der Vamp, die Traumfrau, das unschuldige Gör – sein Schutzengel! – ließ den fremdartig wirkenden Luxuswagen davon preschen. Vereinzelte Schüsse knallten wirkungslos hinter ihnen her.

    Farolt, der glaubte, in einen schlechten Film geraten zu sein, brauchte eine Weile, um wieder klar denken zu können – wenn solch rationales Tun neben dieser göttlichen Person überhaupt möglich war.

    »Das ist Ihr Schlitten?«, brachte er endlich hervor, als er erkannte, worin er saß.

    Hätte sie ihn in eine Rikscha gesetzt und diese selbst gezogen, wäre er nicht verblüffter gewesen als in dem Moment, da er bemerkte, dass sie einen robusten Porsche 911 Turbo fuhr, der sicherlich seine 80.000 gekostet hatte, aber vor vier Jahrzehnten, als er hergestellt wurde, und den sie eigenhändig steuerte! Ihrem Erscheinungsbild angemessen hatte er eine gepanzerte tauch- und kurzflugfähige Mercedes- oder BMW-Limousine mit dem neuesten elektronischen Schnickschnack erwartet. Ebenso standen ihr seiner Meinung nach zumindest drei Chauffeure zu, die sich im Dienst ablösten und dafür bezahlten, diese Engelsgleiche fahren zu dürfen. Bewegungslos saß er neben ihr. Ewig hätte er so mit ihr fahren können. Nie hätte er sich getraut, sie anzusprechen oder gar zu berühren. Diese Frau war dreitausend Nummern zu groß für ihn, konnte jeden haben. Jeden Adligen, jeden Prinzen dieser Welt. Wäre er ein Scheich – bedenkenlos würde er seine restlichen sechshundert Haupt- und Nebenfrauen köpfen lassen, sollte sie das leiseste Anzeichen eines diesbezüglichen Wunsches äußern.

    »Warum sind die hinter dir her?«

    »Keine Ahnung. Hab nichts ausgefressen ... aber vielleicht ein Doppelgänger von mir? Mhm ...«

    »Und was machst du so? Erzähl mal!«

    Und er erzählte.

    »Du schreibst ...? Warum denn nur? Dafür gibts doch Programme!«

    »Jetzt reden Sie wie Netti! Such dir eine anständige Arbeit ...«

    »Netti? Deine Frau?«

    »Nee, große Schwester. Bin solo. – Davon kann man nicht leben! Ein Glück, dass das unsere Eltern nicht erleben mussten – wir sind Waisen, müssen Sie wissen. Und erst mein Schwager, Burkhart Suck, den müssten Sie mal hören: Ibotensäure! Das Hauptgift des Fliegenpilzes ist die I – bo – ten – säu – re, nicht das Muskarin, wie früher fälschlicherweise angenommen! IBOTENSÄURE UND WOHL BEKOMMS muss es heißen! Schon zu dumm zum Recherchieren, aber will es mit Schreibcomputern aufnehmen. So ein Pragmatiker! Wäre nicht meine Schwester dazwischengegangen, er hätte mich aus dem Haus geworfen, meine Sachen zum Fenster raus und mich gleich hinterher, als er erfuhr, dass ich die Eintrittskarte zu den Rothaupts auf dem Schwarzmarkt erstanden habe. Kann sich keine eigene Bleibe leisten, aber achthundert Kröten für ein Scheiß-Billett ausgeben! Nichtsnutziger Schmarotzer! Ich! Tut so, als wäre die ausgebaute Bodenkammer, in der ich hausen darf, ein Appartement. Und ohne Karte oder Einladung kommt man ins streng bewachte Rothaupt-Anwesen nun mal nicht rein. Aber jetzt bin ich wer, hab ich ausgesorgt ... Augen wird der machen, wenn er mich morgen in den Schlagzeilen sieht oder heute schon im Fernsehen ... Und meine Schwester erst!«

    »Dich? Im Fernsehen? Besonders telegen schaust du nicht aus.«

    »Das nicht, aber ...« Und er erzählte weiter, während sie durch die Stadt fuhren.

    »Autsch, das klingt ernst. Ich glaube nicht, dass die Computer-Riesen besonders erfreut sind, dass du in ihre Domäne eingedrungen bist!«

    »Sie meinen ...?«

    »Genau. Beim nächsten Mal knallen die dich ab. Bis jetzt haben sie nur mit dir gespielt.«

    Kalte Schauer überrieselten ihn, und er schaute in kurzen Abständen unauffällig in den Rückspiegel.

    Irgendwann hielten sie vor dem Eingang einer Höhle. »So, hier bist du in Sicherheit, bis ich bei vertrauenswürdigen Leuten ein Versteck für dich aufgetrieben habe. Bis gleich.«

    Nach ihrer Wiederkehr fuhren sie Meile um Meile und hielten endlich vor einem von hohen Steinmauern umsäumten verschlossenen Tor.

    Während sie davor warteten, schaute sie ihn kopfschüttelnd an. »Und du schreibst wirklich selbst? Eigenhändig? Das, was du dir ausgedacht hast? Warum nur? Schon meine Schulaufsätze erledigte ein Schreibcomputer! Mein Vater war so bescheuert und hat mit zum zehnten Geburtstag anstelle des gewünschten 3-D-Heimkinos so ein billiges Schreibdings – POETRY ALPHA VERSION hieß es wohl – geschenkt. Ich hätte es ihm am liebsten an den Kopf geworfen.«

    »Dieses ›Schreibding‹ war ein AUTO-AUTOR von ROTHAUPT. Man gibt ein Exposé ein und wartet ab. Bei SEVENTEEN-CLICK-STORIES von EASYWRITER hingegen bestimmt man mit einem Klick das Genre, mit dem zweiten die Länge des Werkes, mit dem dritten die Höhe der Spannung ... mit dem sechzehnten nur neu, und mit dem siebzehnten bestätigt man alles mit okay. Heraus kommen bei beiden Herstellern zum Beispiel Krimis von der bestechenden Güte einer Agatha Christie oder eines Georges Simenon, zwar erst nach einer Dreimonatsfrist, aber eben kein abgekupfertes Zeug, sondern noch nie da gewesene Zeilen voller Spannung, auf Wunsch ebenso stimmungsvolle Lyrik oder Kunstmärchen, und der Verlag bezahlt nur das bisschen Strom. Aber was hilft einem das, wenn man den Kopf voller Geschichten hat, die filmartig vor einem ablaufen, herauswollen und aufgeschrieben ... Was sagten Sie eben: Billig? Ein billiges Schreibding?« Farolt verschluckte sich fast. »Menschenskind, das war der erste gängige AUTO-AUTOR überhaupt. Für das gleiche Geld hätte Ihr Vater eine Luxusjacht erwerben können! Oder etwas Schnittigeres als diesen klapprigen Schlitten aus der Jahrtausendwende.«

    »Für das bisschen Plaste? Das Ding sah aus wie eine handelsübliche Tastatur mit Netzstecker, bloß einige Zentimeter höher gebaut. Was soll daran teuer gewesen sein?«

    »Daran nichts. Aber darin! Nanotechnik en masse. Und sämtliche bis dato digitalisierte Bücher der Menschheit. Ein Großrechner vor achtzig Jahren hätte für die gleiche Leistung Hochhausformat besitzen müssen ... und wäre langsamer gewesen. Aber der Hauptgrund ist: Es war ein Testmodell. Einzelanfertigung, keine Serienware.«

    »Was du alles weißt!« Sie sah ihn schelmisch an. »Das konnte ich nicht wissen. Das Ding war kompakt; man konnte nirgends reingucken. Dann muss ich mich bei Paps wohl nachträglich bedanken. Apropos ›klappriger Schlitten‹: Wenn du glaubst, dieser guterhaltene Oldtimer sei billig ... Du nimmst die Schreibcomputer ja ganz schön in Schutz! Eigentlich müsstest du sie hassen.«

    »Nun ja, alles hat seine Vor- und Nachteile. Nehmen Sie nur den Titel der heutigen ROTHAUPT-Nominierung: TJOST.«

    »Wieso? Was ist damit?«

    »Wissen Sie, was es bedeutet?«

    »Was denn?«

    »Ich musste selber erst nachfragen. Steht in jedem Wörterbuch, ist aber so veraltet, dass es kaum jemand kennt. Tjost – französisch: mittelalterlicher Reiterzweikampf mit scharfen Waffen. TJOST! Nach solch einem Titel sucht jeder Autor. Kurz und prägnant. Das ist schon die halbe Miete für den Erfolg. Ich meine, stellen Sie sich ein Buch Mittelalterlicher Reiterzweikampf mit scharfen Waffen vor; wer kauft das Ding? Und wenn ich mir nun bewusst mache, dass so ein AUTO-AUTOR diesen kurzen prägnanten Titel, nach dem ich garantiert eine halbe Stunde suchen muss, nach einigen Millisekunden findet und noch in der selben Sekunde weiß, ob es in der Menschheitsgeschichte jemals ein gleichlautendes Buch gab, werde ich schon etwas neidisch.«

    Er verstummte, als sich hinter dem Tor Schritte näherten. Ein langgezogenes Knarren, und sie sahen eine vermummte Gestalt, die sie ziemlich nervös in eine halbverfallene Baracke am gegenüberliegenden Ende eines schutthaldenähnlichen Innenhofs geleitete. Innen rollte sie einen Teppich beiseite, klappte die darunter verborgene Falltür auf.

    Seine bezaubernde Retterin trat hinzu und stieg ohne zu zaudern eine steile Stiege hinab in die Dunkelheit.

    Licht flammte auf. »Komm runter, Bangbüxe! Man hat mich eingewiesen; ich weiß, wo es langgeht.«

    Unten sah er sich überrascht um.

    »Mach hin! Deine ›Freundinnen‹ können jeden Augenblick hier sein. Oder hältst du sie wirklich für so unbedarft, dass sie deine Spur verlieren – auf Dauer!«

    »Du meinst, sie sind noch hinter mir her?« Verängstigt trippelte er ihr nach.

    Zirka alle fünfzig Meter trafen sie auf eine druck- und gassichere Stahltür; eine jede wurde von seiner Führerin nach dem Passieren sorgfältig geschlossen, während der Gang inzwischen aus Stahlbeton bestand. Alles hier wirkte irreal, die Stille, die Umgebung, die verursachten Geräusche ... Andere Lebewesen, die Zivilisation – das war Erinnerung ... ach was, hatte es nie gegeben! Es gab nur sie und ihn: Adam und Eva – wozu bedurfte es anderer Leute ...

    Hinter dem fünften Schott drückte sie einen Knopf, und sofort bebte der Boden unter ihren Füßen. Farolt stieß einen unterdrückten Schrei aus.

    »Keine Panik, ich habe nur die Baracke gesprengt. Auch der Gang bis zum ersten Schott dürfte eingestürzt sein. Jetzt sollen sie uns mal finden!«

    Sie zog ihn in eine Kabine und befahl: »Ganz runter!«

    Der sprachgesteuerte Hochleistungslift stürzte mit ihnen in die Tiefe. Haltsuchend drängte sie sich an ihn und er hätte sie am liebsten umfasst. Unten traten sie nicht etwa in den nächsten Gang hinaus, sondern in eine nicht mehr aktive Schleuse hinein. Als sich hinter ihnen hydraulisch ein Hauptschott schloss, begriff er endlich, dass sie sich Dutzende Geschosse tief in einem Atombunker aus dem vorigen Jahrhundert befanden.

    Wenn seine Verfolger ihn nicht über einen Satelliten beobachtet oder einen Peilsender am Wagen seiner Retterin angebracht hatten, fand ihn hier höchstens der Teufel persönlich! Und mit dem Wagen war gewiss die vermummte Gestalt von vorhin verschwunden.

    Das ideale Versteck. Todesstille herrschte hier, hinter den sicherlich mehrere Meter dicken Außenwänden. Kein Mensch schien diesen Ort während der letzten Jahrzehnte betreten zu haben. Niemand würde ihn hier aufspüren ...

    »Hören Sie mal – wie sollen wir hier wieder rauskommen, wenn Sie den Eingang gesprengt ...«

    Ihr Lachen brach sich geisterhaft im Gang. »Glaubst du wirklich, es gibt nur einen Zugang?«

    »Ach so ...«

    »Keine Sorge, die andern sind gut getarnt. Kein Mensch kommt hier herein oder heraus, ohne dass wir es wollen.«

    Sie öffnete das nächste Schott, er trat in einen Raum von der Größe eines Trucks und prallte entsetzt zurück vor den zehn Männern darin.

    Erst glaubte er, seine Häscher, durch einen anderen Eingang gekommen, erwarteten ihn hier, dann sah er, dass sie sich nicht um ihn kümmerten, sah, was sie taten: schreiben, an Computern, mit fiebrig-glänzenden Augen, ohne auch nur einmal aufzusehen. Erleichtert stieß er die angehaltene Luft aus.

    »Deine Leidensgenossen. Wie ich von den Verbindungsleuten erfuhr, haben die Computer-Riesen jedem Autoren, der es auch nur auf den letzten Platz der TOP HUNDRED BOOKS schaffte, die gleiche ›Aufmerksamkeit‹ geschenkt. Die das überlebten wollen sich von hier aus rächen und die Computer in Grund und Boden schreiben. Halbirre, schlimmer als du ... schlafen kaum, tippen den ganzen Tag ...«

    »Drud!«, schrie er auf. »Jendrich Drud! Er hat es vorletztes Jahr auf Rang 37 im Genre Kriminalroman gebracht – mein großes Vorbild ...«

    »Und jetzt hast du ihn übertrumpft!« Sie blickte spöttisch auf Drud, der die Tastatur bearbeitete, dass Pianistenhände dagegen selbst bei prestissimo wie in Slowmotion gewirkt hätten. »Hör mal, mein schüchterner Schreiberling – ich muss los. Tschüß.« Sie gab ihm die Hand, trat zu einem kleinen Bassin am Ende des Raums, kaum drei mal vier Meter und bestimmt drei Meter tief, schöpfte etwas Wasser in die hohle Hand, blickte zur mit – ja was? – zur mit verbeulten Deckeln von Mülltonnen (nicht den heutigen Tonnen, die sich bei Nichtgebrauch automatisch im Gehsteig versenken, sondern den hässlichen runden Blechdingern, in welche die Leute in alten Filmen immer die Asche füllten) verzierten Decke hoch (einen Geschmack besaßen diese Bunkererbauer damals!) und trällerte: »Der Letzte bleibt oben, zehn müssen rein, einer wird schrein ...«

    Ein Abzählreim hier unten, also wirklich, ziemlich deplaziert! Kein Wunder, dass einer der Männer zusammenzuckte.

    »He, du ...« – er wagte tatsächlich, sie zu duzen –, »wie heißt du?«

    »Das wirst du früh genug erfahren ... bei unserem nächsten Treffen!«

    Er würde sie wiedersehen! Farolt war der glücklichste Mensch auf und unter Erden.

    Lustlos klickte Farolt auf START – ZUBEHÖR – SEITENMONITORE. Nun ein Druck auf die Cursor-Links-Taste: der zwei Zentimeter dicke, 40 Zentimeter hohe und 25 Zentimeter breite linke Seitenmonitor klappte im 135°-Winkel vom 50 Zentimeter breiten Hauptmonitor zur Seite weg. Eine umständliche Angelegenheit – Platz genug für zwei Zusatztasten für die direkte Steuerung der Seitenmonitore war auf der Tastatur allemal; aber allzu oft änderte man die Einstellung auch nicht. Für gewöhnlich blieben beide Hilfsmonitore in der 135°-Stellung – wie bei einem dreiteiligen Schlafzimmerspiegel des vorigen Jahrhunderts, in dem man sich gleichzeitig von vorn und von den Seiten betrachten konnte. Ein weiterer Druck, und der Seitenmonitor bildete eine Linie mit dem Hauptmonitor; dann widmete Farolt sich der Cursor-Rechts-Taste. Anschließend bearbeitete er beide Tasten gleichzeitig, in immer kürzer werdenden Abständen. Der Monitor wirkte nun wie eine gut gemästete und flügelgestutzte Gans beim verzweifelten Versuch, sich in die Luft zu erheben.

    Schreiben tat er nichts mehr, seit über einem halben Jahr nicht mehr, als er stolz und glücklich ENDE unter der letzten Zeile seines neuesten Romans LEICHENSCHMAUS, GEPÖKELT tippte und im selben Moment die Arbeit von fünfeinhalb Monaten auf Nimmerwiedersehen vom Bildschirm verschwand – und von der Festplatte! Alles für die Katz. Erst hatte er es nicht wahrhaben wollen, dann hatte er sich in seiner Wohnzelle verbarrikadiert und geheult wie ein Neugeborenes nach dem ersten Klaps, bloß viel länger.

    Nein! Schreiben tat er auf dieser Kiste nie wieder etwas ... Dafür schrieben die anderen wie üblich, wenn auch nicht mehr so stoisch wie sonst. Wieder und wieder starrten sie auf die Betonwand links neben dem Bassin. Seit Tagen! Irgendetwas lag in der Luft. Etwas Schreckliches. Längst hatten sie ihn mit ihrer unverhohlenen Furcht angesteckt. Der kleine Fahrige hinter ihm setzte sogar hin und wieder beim Schreiben aus, wirkte direkt panisch.

    »Was ist hinter der Wand?«, schrie Farolt sein ehemaliges Idol an. »Ein neunköpfiger Drache, der just erwacht? Wieso habt ihr vor dem Angst; seid ihr Jungfrauen? Der Ausgang, ja? Ist dort ein Ausgang? Wo ist der Ausgang? In einer Toilette? In einer unserer Wohnzellen? Mach den Mund auf, Mann! Ein Jahr bin ich hier unten und hab noch kein Wort von euch gehört. Nicht mal untereinander sprecht ihr: acht Stunden schreiben, vier schlafen, wieder acht schreiben, wieder vier schlafen, ununterbrochen, seit ich hier bin und seit wer weiß wie vielen Jahren davor ... Ich hab euch so satt, ihr Zombies, ihr Maschinen, ihr ... Schreib-Maschinen! Aber wenn es nicht anders geht – vielleicht löst ja ein bisschen Wasser dein verklebtes Maul!«

    Alle zehn waren krankhaft wasserscheu, hatten während des vergangenen Jahres nicht ein einziges Mal im Bassin gebadet, während er sich fast jeden Tag darin erfrischte. Nur einmal waren sie ins Wasser gesprungen. Er hatte damals im Becken knapp unterhalb der Wasserlinie einen halbquadratmetergroßen dunkelblauen Schieber entdeckt und einen möglichen Fluchtweg vermutet. Als er ihn beiseite wuchten wollte, waren alle zehn Mann zu ihm gesprungen, hatten ihn vom Schieber weggezerrt und anschließend grün und blau geschlagen.

    Und richtig: Kaum hatte er Drud in den Schwitzkasten genommen, um ihn zum Bassin zu zerren, gebärdete dieser sich, als befände sich Schwefelsäure im Becken, und die anderen befreiten ihn aus der Umklammerung.

    »Das hab ich gerne! Grüßen sich nicht mal, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt, geht es gemeinsam auf einen Einzelnen. Feige Bande!« Farolt zog sich aufgebracht in seine Wohnzelle zurück.

    Drei mal zwei Meter maß sein Reich. Ein Lattenrost auf einem Stahlgerüst nahm den meisten Platz ein; gegenüber diesem »Bett« standen ein Stuhl und ein Holztischchen; in einer Wandnische klaffte ein Speisenaufzug von einem so geringen Durchmesser auf, dass sich nicht mal ein Kind hineinzwängen könnte.

    Er nahm sein Mittagessen heraus, wie immer reichlich, aber längst kalt geworden, da vernahm er plötzlich gedämpft eine weibliche Stimme.

    Jubilierend stürzte er in den Arbeitsraum und rief: »Endlich kommst du! Und nun sag: Wie heißt du? Und dann bring mich hier raus – diese Schlägerinnen suchen mich längst nicht mehr!« – was stimmte: Sie hatten ihn gefunden!

    200.000-Volt-Elektroschocker in Hirschkäferform auf den rechten Handrücken geschnallt, in der Linken eine handliche Fernbedienung, trieben die Schlägerinnen aus dem Park die Schreibwütigen zum Bassinrand. Beide waren so wie letztes Jahr gekleidet. Die eine trug dunkelbraune Lederkluft und eine gleichfarbige Vollmaske aus weichem Nappaleder, wie sie in jedem SM-Shop erhältlich war, die andere das Gleiche in tiefstem Schwarz.

    Farolt riskierte einen Angriff. Beim Versuch, der näherstehenden Dunkelbraunen den Schocker zu entreißen, berührte er aber dessen Kontaktlamellen und glitt paralysiert und mit entsetzlichen Schmerzen zu Boden.

    Die Tiefschwarze hatte inzwischen auf ihre Fernbedienung gedrückt, und die Mülltonnendeckel an der Decke überm Wasserbecken senkten sich, mittig an langen Kletterstangen angeschweißt, langsam bis auf die Wasseroberfläche herab.

    Jeder der zehn Bedrängten wurde auf einen Mülltonnendeckel getrieben. Mancher zitterte mehr als die mehrere Zentimeter langen und angsterregend knatternden Funkenentladungen zwischen den »Geweihenden« der »Selbstschutzgeräte«.

    Die Dunkelbraune hielt alle in Schach, während die andere die Männer der Reihe nach mit den Rücken an die Stangen zerrte und ihre Hände hinter diesen in Handschellen steckte. Danach zerrten sie Farolt zum Bassin und verfuhren mit ihm ebenso.

    Ein erneuter Druck auf eine Fernbedienung, und alle Stangen außer der seinen senkten sich weiter; die Mülltonnendeckel stellten sich leicht schräg und versanken schließlich. Bald standen die zehn Männer bis zum Hals im Wasser.

    »Aufhören! Ihr könnt sie doch nicht einfach ersäufen!«, brüllte Farolt aus Leibeskräften.

    Als hätte er ihnen etwas vorzuschreiben, folgte der nächste Tastendruck, und die Stangen verharrten auf der Stelle. Die Männer aber mussten bereits den Kopf in den Nacken legen, um wenigstens durch die Nase atmen zu können.

    Die Dunkelbraune zog ein Schriftstück unter ihrer Kleidung hervor. »Achtung!«, drang schneidend scharf ihre Stimme hinter der geschlossenen Mundklappe hervor. »Die Platzierungen des letzten Jahres sind: Drud, Jendrich: Platz elf, vierundzwanzig, vierzig und dreiundsiebzig der TOP HUNDRED BOOKS des Genres Krimanalroman. Durchschnitt: runde vierunddreißig. Platz eins. Hoch mit dir!«

    Drud stieg wieder über die Wasseroberfläche auf.

    Farolt staunte und glaubte zu begreifen: Drud war mit vier Texten in den TOP HUNDRED vertreten und wurde von angeheuerten Killern eines Computer-Riesen dafür bestraft. Mit Sicherheit befand sich seine Nase beim nächsten Abtauchen nicht über der Wasseroberfläche.

    Mit den nächsten acht wurde ebenso verfahren. Alle hatten sie es mindestens dreimal in eine Genre-Liste der Top Hundred geschafft, bloß er, Farolt, wurde verschont, weil er nichts fertig geschrieben hatte. Nur – der kleine Fahrige, Florin Tandecki, Schlechtplatziertester hinsichtlich der Durchschnittswerte, wurde bis zur Nase im Bassin belassen! Seltsam wimmernde Töne ausstoßend zog er die Knie an und stemmte sich rücklings an der Kletterstange hoch. Ein weiterer Tastendruck der Tiefschwarzen: unter Wasser glitt der dunkelblaue Schieber beiseite – unzählige

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