Das Bildnis des Wilden Markgrafen: Schauspiel
Von Gerd Scherm
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Über dieses E-Book
Uraufführung Theater Ansbach 6. Oktober 2012
Gerd Scherm
Gerd Scherm, 1950 in Fürth geboren und aufgewachsen, lebt seit 1996 mit seiner Frau Friederike Gollwitzer in einem alten Fachwerkgehöft in Binzwangen bei Colmberg. Gerd Scherm ist Schriftsteller und bildender Künstler. Er arbeitete zehn Jahre als Kreativdirektor für Rosenthal und organisierte u.a. die Selber Literaturtage und die Künstlertage auf der Mathildenhöhe in Darmstadt. Sein reiches literarisches Spektrum umfasst Theater-stücke, Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, Satiren, Libretti und Essays. Einer seiner Schwerpunkte liegt in der Lyrik, die er meist in künstlerisch-bibliophiler Ausstattung präsentiert und die auch immer wieder zeitgenössische Komponisten zu Vertonungen anregt. Gerd Scherm war Gastdozent an der Freien Universität Berlin und an der Universität St. Gallen im Fachbereich Kultur- und Religionssoziologie. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dem Deutschen Phantastik Preis.
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Buchvorschau
Das Bildnis des Wilden Markgrafen - Gerd Scherm
1. SZENE: DIE SCHLOSSFÜHRUNG
Szene in welcher ein namenloser Schlossführer in der Ansbacher Residenz zum wiederholten Mal den gleichen Schlotfeger vom Dach schießt, um dem Publikum eine Untat des längst verstorbenen „Wilden Markgrafen" zu demonstrieren. Doch selbiger ob des ständigen Im-Grabe-Umdrehens wegen all der Lügen über ihn heftigst echauffiert, kehrt nun anlässlich seines 300. Geburtstages in die Welt der Lebenden zurück, um nach dem Rechten zu sehen und einige Dinge richtigzustellen.
(Schlossführer mit Besuchergruppe, in der sich alle (!) Akteure befinden)
SCHLOSSFÜHRER
Bitte aufschließen, meine Damen und Herren! Treten Sie näher! Wir kommen nun zum historisch-dramatischen Teil unserer Führung. Hören Sie Geschichten aus dem bewegten Leben des berüchtigten Wilden Markgrafen.
(Die Besucher betreten zögernd den Raum / die Bühne)
Bitte, etwas zügiger, meine Damen und Herren! Der Weg durchs Schloss ist noch weit.
BESUCHERIN
(zu ihrem Begleiter)
Ich weiß gar nicht, warum ich mir das immer wieder antue. Ist doch eh überall das gleiche. Knarzende Fußböden, Stühle, auf die man sich nicht setzen darf und Bilder an den Wänden von Leuten, die ich nicht kenne.
BESUCHER
Leise! Und benimm Dich! Die Leute halten uns sonst noch für kulturlose Trottel. Sei endlich still!
BESUCHERIN
Es ist mir völlig egal, wofür mich die Leute halten. Mir tun die Füße weh! Seit Tagen latschen wir durch diese alten Gemäuer. Zwei Paar Schuhe habe ich mir schon auf dem blöden fränkischen Kopfsteinpflaster ruiniert.
(Zischeln von anderen Besuchern bringt die beiden zum Schweigen)
SCHLOSSFÜHRER
Auch Sie dahinten bitte! Kommen Sie doch bitteschön zu uns, damit die Führung weitergehen kann. Im Gegensatz zu früher kennt das Personal heutzutage einen Feierabend.
(Ischerlein und die Wünschin betreten als letzte den Raum)
ISCHERLEIN
Ich wollte nie wieder hierher zurückkehren. Zu groß ist der Schmerz meiner Erinnerungen.
WÜNSCHIN
Das war zu einer anderen Zeit vor der großen Dunkelheit. Die letzten Tage meiner Jugend. Und meiner Unschuld.
ISCHERLEIN
Wer ist schon unschuldig? Heißt es nicht, dass an jedem Menschen von der Stunde seiner Geburt an die Sünde klebt?
WÜNSCHIN
Das kann nicht sein. Das hat sich einer ausgedacht, der die Menschen hasst. Und der niemals Kinder hatte.
Ich hab selbst vier von diesen kleinen Würmlein zur Welt gebracht und glaub mir, keines davon war Schuld beladen, als es meinen Leib verließ.
SCHLOSSFÜHRER
Ruhe bitte, ich bitte um Ruhe!
Lassen Sie mich nun die Führung fortsetzen. Hier, meine Damen und Herren, von diesem wunderbaren, eleganten Raum der Ansbacher Residenz aus, wurde eine grausame Tat verübt. Von hier aus kam ein Mensch zu Tode!
Und das begab sich so:
Der Wilde Markgraf hielt sich zusammen mit seiner Mätresse in diesem Gemach auf. Man scherzte und amüsierte sich.
Bei einem Blick aus dem Fenster entdeckte das lockere Weib auf dem Dach des Hauses gegenüber einen Schlotfeger bei seiner Arbeit.
„Ach Liebster, gurrte sie, „wie gerne würde ich einmal einen Schlotfeger vom Dach purzeln sehen. Ob das wohl auch Glück bringt?
Daraufhin rief der Markgraf einen Diener und befahl ihm, seine neueste Flinte zu bringen, und zwar feuerbereit. Gesagt, getan.
Serenissimus wies an, das Fenster zu öffnen …
(Schlossführer ergreift ein Gewehr)
… legte an und
(Schlossführer zielt und schießt - - - PENG!)
(Einer der Statisten purzelt als Schlotfeger auf die Bühne)
Der arme Schlotfeger stürzte ab und war mausetot. Nur wegen der Laune einer Mätresse. Aber so waren eben die Zeiten!
(Carl geht auf den Schlossführer zu, mustert ihn eingehend, bevor er spricht)
CARL
Wie hieß denn der Mann?
SCHLOSSFÜHRER
Wie bitte?
CARL
Wie der Schlotfeger geheißen hat.
SCHLOSSFÜHRER
Woher soll ich das wissen?
CARL
Der Mann hat doch offiziell in Ansbach gearbeitet. Dann muss sein Name registriert gewesen sein. Hatte er Angehörige? Wurde für die Tat jemand angeklagt?
SCHLOSSFÜHRER
Ich habe ja im Prinzip nichts gegen Fragen von Besuchern, aber das führt zu weit.
CARL
Wo hat man ihn begraben?
SCHLOSSFÜHRER
Was? Wie? Eh …
CARL
Nun, man hat den Mann doch sicher nicht auf der Straße liegen lassen. Gab es denn kein Begräbnis?
SCHLOSSFÜHRER
Keine Ahnung. Was wollen Sie eigentlich von mir?
CARL
Oder hat man dem armen Opfer etwa ganz anders die letzte Ehre erwiesen? Gibt es in Ansbach vielleicht ein „Grab des unbekannten Schlotfegers"?
SCHLOSSFÜHRER
Sie Scherzbold, lassen Sie mich in Frieden!
(reagiert scheinbar auf eine Frage aus dem Zuschauerraum, in den er nun blickt und spricht)
Ob ich die Wahrheit sage? Selbstverständlich sage ich eine Wahrheit! In jedem Raum hier gibt es eine Wahrheit. Alte Möbel alleine erzählen noch keine Geschichten. Dazu braucht es uns, die Gilde der Schlossführer! Alles was Sie von mir hören, ist Bestandteil des Schlosses.
Es gehört dazu wie die Seidentapeten, die Sessel und die Gemälde. Diese Gemälde sind die Illustrationen meiner Worte. Sie helfen Ihnen, verehrte Gäste, dass zu meinen Geschichten in Ihren Köpfen Bilder entstehen.
Wer erinnert sich schon an Fakten und Zahlen? Bilder braucht es, die sich ins Gedächtnis einbrennen, damit man sie im Kopf nach Hause tragen kann.
(reagiert scheinbar auf eine erneute Frage aus dem Zuschauerraum)
Historie? Das sind Geschichten mit Verfallsdatum. Historiker? Das sind doch nur patriotische Fälscher. Oder revolutionäre Verleumder. Historie ist das, was man dazu erklärt. Und die Historie ist wandelbar! Wie schnell ändert sich der Blick auf die Vergangenheit. Je nach Zeitgeist wird die Geschichte angepasst, in die passende Form gezwängt, mit einem neuen Sinn ausgestattet. Alles nur eine Frage der Perspektive:
Ein Revolutionär, der scheitert, ist ein Terrorist. Ein Revolutionär, der siegt, ist ein Freiheitsheld.
