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Lore und die letzten Tage (eBook): Roman
Lore und die letzten Tage (eBook): Roman
Lore und die letzten Tage (eBook): Roman
eBook271 Seiten3 Stunden

Lore und die letzten Tage (eBook): Roman

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Über dieses E-Book

Killen McNeills Epos um eine junge Frau in den Wirren der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in der fränkischen Provinz - Fränkische Geschichte, hautnah erzählt
Die junge Lore, in der Bombennacht vom 2. Januar 1945 Vollwaise geworden, flieht aus Nürnberg in das idyllische Dorf Seilar. Dort trifft sie den Hitlerjungen Anton wieder, in den sie sich im letzten Sommer als Erntehelferin verliebt hat. Mit ihm erlebt sie die letzten, schrecklichen Tage des Krieges. Anton soll im Volkssturm Seilar verteidigen, will aber den Einsatz vereiteln, damit das Dorf vor dem Angriff der Amerikaner verschont bleibt. Doch in der Burg, die über Seilar thront, hält sich ein SS-Verband auf, der gnadenlos Vergeltung für Verräter ausübt.

75 Jahre später, bei einer Gedenkfeier für die Kriegsopfer, kommen Lore Zweifel, ob der Untergang des Dorfes tatsächlich so abgelaufen ist, wie es in den Reden geschildert wird. Es beginnt ein Wettlauf mit den eigenen letzten Tagen, um herauszufinden, ob ihr Leben auf eine Lüge gebaut war ..
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Nov. 2023
ISBN9783747205259
Lore und die letzten Tage (eBook): Roman
Autor

Killen McNeill

KILLEN MCNEILL stammt aus Nordirland. Er studierte Germanistik, war in den Jahren 1973/74 Austauschstudent in Erlangen, zog später nach Franken und arbeitete als Lehrer. Mit seinem Kurzkrimi »Pfarrers Kinder, Müllers Vieh« gewann er 2012 den Fränkischen Krimipreis. Seit 2013 erscheinen seine Romane bei ars vivendi.

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    Buchvorschau

    Lore und die letzten Tage (eBook) - Killen McNeill

    Prolog

    2022

    »Ach, Mama, du kannst doch gar nicht mitreden«, sagt Evi. »Du hast die Liebe doch nie erlebt.« Sie huscht durch die Küche, unruhig wie eine Amsel auf Futtersuche, hebt Dinge hoch, betrachtet sie neugierig von allen Seiten und legt sie wieder beiseite: das Rindenbild vom Königssee, die Chianti-Korbflasche vom Wochenmarkt in Meran, den Zinnteller vom Plönlein in Rothenburg.

    Dabei kennt sie alles hier aus ihrer Kindheit. In diesem Haus, das Franz Jungkunz, ihr Vater, in den Fünfzigerjahren in der ersten Nachkriegssiedlung in Neustadt gebaut hat, ist sie mit ihren zwei älteren Brüdern Heinz und Klaus aufgewachsen, und seitdem hat sich fast nichts verändert: Linoleumfußboden aus schwarz-weißen Quadraten, Küchenbüfett mit geriffelten Vorhängen, Tisch mit Resopaloberfläche.

    In ihrem Sessel am Küchentisch neben dem Herd sitzt ihre Mutter Lore. Sie ist zu besorgt wegen Evis Streifzug, darüber, was alles in die Brüche gehen könnte, um über ihre Behauptungen nachdenken zu können. Das hebt sie sich für später auf. Gerade hält Evi ein Modell vom alten Pyramidenkogel am Wörthersee in der Hand, das ihr Vater nach dem ersten Kärntenurlaub 1963 aus Streichhölzern gebastelt hat. Lore zieht zischend die Luft ein und hält sie an. Evi hat das Modell schon heruntergeschmissen, als sie fünf Jahre alt war, und Lore musste es notdürftig zusammenleimen, um den Zorn des Vaters auf seine Tochter abzufangen. Evi setzt das Modell wieder ab, wenn auch rechts auf dem Büfett statt links, und Lore atmet auf. Evi geht weiter zum Fenster, das zum Garten hinausschaut. Dort nimmt sie das gerahmte Hochzeitsfoto ihrer Eltern aus dem Jahre 1951 vom Fenstersims.

    Lore seufzt. Wenn Evi weg ist, wird sie alles wieder auf den richtigen Platz stellen müssen. Evi war schon als Kind voller Unrast. Bei ihren Besuchen macht sie normalerweise gerne Vorschläge, wie das alte Haus auf Vordermann zu bringen sei. Aber es ist alles noch völlig in Ordnung und von Lore immer sauber gehalten worden. Warum das Alte wegwerfen, wenn es noch gut ist? Und jetzt rentiert es sich auch nicht mehr. Lore wird in diesem Jahr zweiundneunzig, und Franz ist vierundneunzig.

    Heute aber treibt Evi etwas anderes um. Gerade hat sie ihrer Mutter erklärt, dass sie ihren Mann Theo verlassen will, nach fast vierzig Jahren Ehe. Und jetzt mustert Evi das Hochzeitsbild von Lore und Franz mit verengten Augen, nickt bestätigend und klopft mit dem Zeigefinger darauf. »Das da«, sagt sie, »das war keine Liebe.«

    Wenn Evi so ist, weiß Lore nicht, wie sie mit ihr umgehen soll, was sie ihr antworten soll, ist ihr hilflos ausgeliefert. Evi hat sie schon immer überfordert, sie war ein Nachzügler, acht Jahre jünger als Klaus. Wo hat Evi sie nur her, diese Unruhe, diese Hast, dieses Alles-infrage-Stellen? Nicht von Lore, und auch nicht von Franz. Wenn sie es nicht genau wüsste, könnte Lore denken, Evi wäre gar nicht ihr Kind. Später, wenn Evi fort ist, werden Lore beim Aufräumen die Antworten kommen, die sie jetzt braucht.

    »Wieso?«, fragt Lore nur, und, weil ihr nichts Besseres einfällt: »Es hat doch immer alles gepasst.«

    Evi stellt das Foto weg, auf den Küchenschrank statt auf das Fensterbrett, und setzt sich Lore gegenüber an den Küchentisch. Sie verschränkt die Arme auf der Tischplatte, dann stützt sie ihr Kinn in beide Hände und schaut ihre Mutter an. »Alles gepasst, alles gepasst«, sagt sie. »Und was sollen die Leute denken, und das gehört sich nicht. Das sind deine Themen. Aber das ist doch nicht alles. Immer an andere denken statt an sich selbst, das habe ich von dir gelernt. Aber unsere Kinder sind schon längst aus dem Haus und haben selber Familie. Und ich bin sechzig. Jetzt denke ich endlich an mich. Vielleicht hättest du das auch viel früher machen sollen.«

    Lore betrachtet ihre Tochter und sieht sich selbst vor dreißig Jahren; das trapezförmige Gesicht, die ausgeprägten Wangenknochen, und die nach oben gewölbten Augen, die den entschlossenen Eindruck der Kieferpartie abmildern. Jetzt, wenn Lore sich im Spiegel anschaut, ist die Knochenstruktur noch zu erkennen, aber die Haut ist von tiefen Furchen durchzogen. Wie der ungeteerte Marktplatz von Seilar früher, nach Regen, wenn mehrere Ochsengespanne aus verschiedenen Richtungen Brennholz gebracht haben, denkt sie beim Betrachten ihres Spiegelbildes. Oder als die Amipanzer durchgefahren sind, damals, in der Zeit nach der Katastrophe.

    Woran hatten ihn damals ihre Augen erinnert? An Mandarinenscheiben. Das war Weihnachten 44 gewesen. Sonst hat man ja keine Mandarinen gesehen. Er hat es in einem Brief geschrieben, in der Zwischenzeit, als sie getrennt waren.

    »Warum lachst du, Mama?«, sagt Evi. »Hörst du mir überhaupt zu?«

    »Ja, ja, Kind. Mir ist nur etwas eingefallen.«

    »Bitte, Mama, nenn mich nicht Kind! Wie oft soll ich es noch sagen.« Evi schüttelt den Kopf, als hätte ihre Mutter sie aus dem Konzept gebracht. »Was wollte ich noch sagen? Ach ja. Alles gepasst. Ihr habt gedacht, der Theo passt, und der Stefan passt nicht. Ihr habt mich zur Ehe mit Theo überredet, obwohl ich damals schon in Stefan verliebt war. Aber Theo war angehender Zahnarzt und Stefan bloß ein Schreiner. Und jetzt ist Stefans Frau vor zwei Jahren gestorben, und wir haben uns getroffen, und er hat gesagt, dass er nie aufgehört hat, mich zu lieben, und bei mir ist es auch so, und die Chance lasse ich mir nicht noch einmal nehmen. Ich will nicht so enden wie du.«

    Eine Frage drängt sich Lore auf, und sie stellt sie, bevor sie nachdenken kann, bevor Evis Worte wirken. »Schneidet Stefan auch bei uns die Hecke?«

    Evi hält den Kopf ganz still und schaut Lore mit geweiteten Augen an. »Ist das wieder deine berühmte Ironie?«

    »Was? Nein.« Mit Ironie hatte Lore niemals etwas am Hut, sie erkennt sie meistens nicht einmal, aber sie ist oft in ihre durchaus ernst gemeinten Aussagen und Fragen von Gesprächspartnern und Familie hineininterpretiert worden.

    »Als ob das jetzt wichtig wäre.« Evi spricht betont ebenmäßig.

    »Du machst es wieder«, sagt Lore.

    »Was mache ich wieder?«, fragt Evi.

    »Du rollst mit den Augen.«

    »Ich rolle überhaupt nicht mit den Augen!«, antwortet Evi entrüstet. »Extra nicht!«

    »Du rollst innerlich mit den Augen.«

    In der Pubertät hatte Evi begonnen, Aussagen ihrer Mutter, die sie für unsinnig hielt, mit Augenrollen und Kopfwackeln zu begegnen. Lore hatte sich das verbeten. Seitdem hat sich Evi diese Kopfhaltung, diesen Blick und diesen Ton angewöhnt.

    »Immer wenn du denkst, dass ich dumme Sachen sage, rollst du innerlich mit den Augen«, sagt Lore. »Das merke ich genau.«

    »Also gut, ich rolle innerlich mit den Augen. Ich erzähle dir, dass ich mich von meinem Mann nach fast vierzig Jahren trenne, und du fragst, ob mein neuer Mann auch eure Hecke schneidet.«

    »Franz schafft es ja nimmer.«

    »Gut, ich kann Stefan mal fragen«, sagt Evi. »So.« Sie spricht zu ihren Händen hinunter, die inzwischen auf ihren Knien liegen. Sie heben sich, wie in Zustimmung, und klatschen wieder auf ihre Oberschenkel. »Das wollte ich dir sagen.« Jetzt schaut sie Lore wieder in die Augen, aber ihr Blick ist warm. »Es tut mir leid, Mama. Es ist nicht gegen dich. Ich hab dich doch lieb. Du hast immer dein Bestes für uns gegeben, das weiß ich. Und an der Ehe mit Theo war ich auch selber schuld. Ich hätte halt nicht auf euch hören sollen.« Sie steht wieder auf.

    Lore deutet nach oben, zum Schlafzimmer über ihnen. »Willst du nicht den Papa begrüßen, bevor du gehst? Ich glaube, heute hat er einen guten Tag.«

    Evi schüttelt den Kopf. »Nächstes Mal, versprochen, ja? Ich muss noch schnell nach Hause, was abholen, bevor Theo zur Mittagspause heimkommt. Nicht, dass er Ärger macht, aber dann geht wieder eine Riesendiskussion los, und heute hab ich keine Zeit.«

    »Du bist wohl schon ausgezogen?«

    »Ich wohne beim Klaus. Vorübergehend. Bis ich was finde.«

    Klaus ist ihr älterer Bruder, der mittlere.

    »Mir sagt hier ja keiner was«, meint Lore.

    »Ich sag’s dir doch gerade, Mama. Und was Papa betrifft, bin ich mir gar nicht sicher, ob er mich das letzte Mal überhaupt erkannt hat. Ich nehme an, die Diskussion über das Pflegeheim können wir uns sparen?«

    Und wieder hat Lore das Gefühl, auf dem falschen Fuß erwischt worden zu sein.

    Bevor sie antworten kann, redet Evi weiter. »Das besprechen wir ein anderes Mal, ja? Ruf mich an, wenn du etwas brauchst. Das Handy hast du doch noch, das wir dir Weihnachten geschenkt haben, oder?«

    Lore tätschelt die Handytasche, die an ihrem Bauch baumelt. »Ja.«

    »Und du nimmst deine Medikamente?«

    »Ja.« Lore hatte vor einigen Jahren einen leichten Schlaganfall.

    »Gut. Ach, da war ein Brief im Briefkasten.« Evi legt ihn auf den Küchentisch, und dann ist sie fort.

    Lore sitzt noch ein Weilchen da und sammelt sich für das bevorstehende Aufrichten.

    Nicht so enden wie du. Ja, wie ende ich denn?

    Sie stützt sich mit der rechten Faust auf den Küchentisch und erhebt sich mit einem Ruck. Ha! Geschafft! Man muss die Knochen und die Muskeln einen Augenblick, bevor sie die Anstrengung erwarten, übertölpeln, das ist der ganze Trick. Mehr Gewicht auf das linke Bein, das rechte ist seit damals nie mehr so richtig geworden. Ja, so ist es gut. Sie schiebt sich vom Küchentisch weg, schlurft zum Küchenbüfett und nimmt das Hochzeitsbild in die Hand.

    Zwei Überlebende aus der dunklen Zeit sind da zu sehen, sie klein und zierlich, er groß und breitschultrig, und trotzdem beugt er sich über sie und lehnt sich an sie wie ein Schiffbrüchiger an ein schwimmendes Wrackteil. Er strahlt; in ihrem Gesicht lauert ein Lächeln, ein scheues Tier, das in einer Ecke im Dunklen hockt und sich noch nicht ans wärmende Feuer wagt.

    Sie dreht das Bild um, legt den Rahmen auf das Büfett und macht den Rücken auf. Sie holt das Foto heraus, das seit über siebzig Jahren unter dem Hochzeitsbild liegt. Das macht sie sonst nur einmal im Jahr, am 20. März. Das letzte Mal vor fast einem halben Jahr. Das Foto flattert aus ihrer Hand und landet auf der Arbeitsfläche des Küchenbüfetts. Es ragt ein Stück über den Rand hinaus. »Oh«, sagt Lore. Wenn es auf den Boden fällt, wird sie es nicht aufheben können. Mit zitternder Hand nimmt sie es wieder an sich.

    Es ist sechs Jahre älter als das vordere Foto, aus dem Jahr 1945, und zeigt ebenfalls sie und Franz. Er trägt seine Hitlerjungenuniform, und Lore ihre Bund-Deutscher-Mädel-Kluft. Sie sitzen auf einer Bank, Franz auf der linken Seite, aber er lehnt sich nicht an sie, und sein Lächeln wirkt wie aufgeklebt. Doch Lore hat keine Augen für Franz, nur für den Jungen auf ihrer anderen Seite, mit dem sie auf dem Foto eng umschlungen sitzt. Sie schmiegt sich an ihn, wie sie es nie mit Franz getan hat. Sie strahlt über die gesamte Breite ihres Kiefers, und im offenen Gesicht des Jungen hat sich ein kleines Lächeln eingenistet. Es ist der 10. April 1945, zwei Tage vor der Katastrophe.

    Du hast die Liebe doch nie erlebt.

    Sie dreht das Foto um. Auf der Rückseite hat sie vor vierundsiebzig Jahren einen Brief mit Klebestreifen fixiert, der jetzt nur noch an drei braunen Stellen festhängt.

    Lore liest.

    Weißt Du noch, einmal habe ich mich vor einer Kinovorführung im RAD-Saal von hinten über Dich gebeugt, um Dich zu überraschen, und Dein Gesicht war verkehrt rum. Für mich. Und das hat mich daran erinnert. Die Mandarinenscheiben. Deine Augen hatten den geraden Strich oben und die Rundungen unten. Du hast so schöne Augen. Und ich wollte sagen, daß ich Dich liebe, und Dir alles Liebe und Gute zu Weihnachten wünschen. Ich kann an nichts anderes als an Dich denken. Ich kann das leicht schreiben, es flutscht wie nichts, aber ich weiß nicht, ob ich es sagen könnte.

    Jetzt fällt ihr ein, was sie Evi hätte antworten können, ihr aber niemals eröffnen würde. »Ich habe die Liebe erlebt«, flüstert sie ihrer Tochter nach, »aber nicht mit deinem Vater.«

    Erster Teil

    Seilar

    Montag, 3. Juli 1944, 9:37 Uhr

    Der Himmel ist knollig, von dunklen, regengeschwängerten Wolken durchzogen wie ein mit Schmutzwasser vollgesogener Putzlumpen. Lore Mangold, vierzehn, läuft nach Osten auf die letzten Ausläufer des Steigerwalds zu, der sich links am Schwanberg wie eine anbrausende grüne Welle über das tiefer liegende unterfränkische Flachland erhebt. Sie ist gerade mit dem Zug aus Nürnberg in Iphofen angekommen und macht sich auf den Weg. Drei Kilometer muss sie auf der Reichsstraße 8 zu dem Dorf Seilar laufen, das gegenüber dem Schwanberg auf einer kleineren Anhöhe liegt.

    Vorgestern hat sie Bescheid bekommen, dass sie als Ernte- und Haushaltshelferin bei der Familie Waigandt in Seilar aushelfen soll, und diese Aufgabe erfüllt sie mit Stolz und Zuversicht. Jetzt kann auch sie in schwierigen Zeiten dem Vaterland und dem Führer dienen. Vor einem Monat ist der Feind in Frankreich gelandet, und die Wehrmacht kämpft heldenhaft gegen eine vom internationalen Judentum bezahlte Übermacht. Es ist die Stunde der Wahrheit; der überlegene Wille muss siegen, und es muss und wird der deutsche sein. Sie soll sich in der RAD-Baracke in Seilar melden, dort wird man ihr den Weg zum Waigandthof zeigen.

    Lore trägt einen kleinen grünen Koffer in der Hand und ihre BDM-Uniform am Körper. »Mit der BDM-Uniform ist man für jeden Anlass richtig angezogen«, hatte die Gauführerin während ihrer Rede bei der Aufnahmefeier auf der Nürnberger Burg gesagt. Das war im März, kurz nach Lores vierzehntem Geburtstag, als sie vom Jungmädelbund, von den sogenannten Küken, in den Bund Deutscher Mädel aufstieg. Endlich. Und die Gauführerin hatte recht. Lore fühlt sich in der Uniform ganz anders als sonst. Feierlicher, selbstsicherer. Zielstrebiger. Fast, als ob die Uniform sie trägt und nicht umgekehrt. Die Uniform lässt sie den Kopf hochhalten, den Rücken durchdrücken, Arme und Hüfte schwingen. Im Überschwang des Augenblicks strahlt sie plötzlich, und ein vorbeiratternder holzgetriebener Laster, ein grauer Lieferwagen, bremst schlotternd ab. Die Milchkannen, die er auf der Ladefläche hinten transportiert, scheppern metallen aneinander. Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter. Er winkt ihr zu, lächelt sie von unter seiner Patschkappe an, und die zwei Flügel seines schwarzen Schnauzers breiten sich aus wie die Schwingen eines Raben im Schwebeflug. »Heil Hitler und grüß di Gott, schönes Fräulein!«, ruft er laut aus dem Fenster, um den knatternden Motor zu übertönen. »Wo geht’s denn hin?«

    »Zum Waigandthof«, antwortet Lore.

    »Soso, zum Waigandthof. Da komm ich grad her. Hab da grad die Milch abgeholt. So was wie dich hat er doch gar net verdient, der alte Gänskrong.« Er lacht auf und zeigt zwei ineinander verkeilte Vorderzähne. Dann schiebt er blitzschnell seine Zunge von unten darüber, sodass sein Lacher plötzlich gedämpft wirkt.

    »Wie bitte?«, fragt Lore.

    »Ach nix. So hübsch, wie du bist, nehm ich dich auf dem Rückweg mit, wennst immer noch auf der Straß bist.«

    »Danke. Ich komme schon zu Fuß hin. Heil Hitler«, antwortet Lore und läuft schnurstracks weiter. Hinter ihr holpert der Laster wieder los. Lore schaut zu ihrer Nase hinunter. Glüht sie rot vor Verlegenheit, wie sie es jetzt öfter tut, wenn Männer ihr Komplimente machen? Sie merkt nichts. Lore sieht gut aus, das weiß sie. Es sind ja nicht nur die Arierinnen, wie man sie immer auf den BDM-Plakaten sieht, die den Männern gefallen, das hat sie in letzter Zeit gemerkt. Schließlich sind auch die ganzen UFA-Stars wie Zarah Leander, Ilse Werner oder Brigitte Horney, um die die Männer so ein Aufhebens machen, nicht blond, und Lore ist außerdem eher klein, aber sie weiß um die Wirkung ihres Lachens in ihrem schönen breiten Unterkiefer. Und einen Busen kriegt sie auch schon. Nur die Frisur; da kommen ihr langsam Zweifel. Wenn Zöpfe, wie Lore und alle anderen BDM-Mädels sie haben, so schön und begehrenswert sind, warum haben dann die UFA-Stars keine? Sobald Lore sechzehn ist, will sie auch eine Bubikopf-Frisur mit Dauerwelle. Zwei Jahre noch. Aber wird sie ihre Mutter davon überzeugen können?

    Das Dorfzentrum von Seilar bildet ein grünes Oval aus Rasen zwischen zwei Zeilen mit Fachwerkhäusern. In der Mitte der Grünfläche liegt ein Weiher, auf dem Enten herumpaddeln, mit einer kleinen Insel mittendrin. Auf der rechten Seite, die etwas tiefer liegt, befindet sich ein Wirtshaus, Gasthof Friedrich Ammon steht darauf. Die Tür ist offen, und ein dickbäuchiger Mann mit einer roten Kartoffelnase ist darin zu sehen. Daran schließt sich eine Schmiede an, aus der dengelnde Geräusche kommen. Am anderen Ende des Ovals, wo die zwei Straßen wieder aufeinandertreffen, steht eine Kirche. Lore nimmt den linken Weg, der etwas höher verläuft und von drei Linden gesäumt ist. Aus einem Garten schiebt sich gerade rückwärts eine Frau mit Kopftuch und Huckelkorb auf dem Buckel. In dem Korb sind lauter Eier. »Komm, Schoggi«, zischt sie in den Garten hinein, »da gibt’s nichts mehr zu holen.« Bevor sie die Gartentür quietschend schließt, wischt ein kleiner schwarzweißer Hund auf die Straße hinaus, bleibt vor Lore stehen und kläfft sie an.

    »Heil Hitler«, grüßt Lore zu dem Rücken der Frau. »Können Sie mir sagen, wo die RAD-Baracke ist?«

    »Er meint’s net so«, sagt die Frau anstelle einer Antwort. Als sie sich umdreht, merkt Lore, dass sie selbst etwas von dem Aussehen eines Huhns hat: die Hakennase, die Knopfaugen und die spitze, nach unten hängende Noppe in der Mitte ihrer Oberlippe. Sogar ihre Stimme krächzt. »Er ist gerade so aufgeregt, weil er einen ganzen Haufen Eier unter dem Bett gefunden hat. Eins hat er schon gefressen. Gell, Schoggi, des hat geschmeckt.« Sie redet weiter zum Hund hinunter. »Gell, Schoggi, die Leut’ meinen immer, sie können ihre Eier vor uns verstecken, netamol ihre Eier wollen s’ dem Führer schenken, aber wir finden sie immer, gell, Schoggi. Wir riechen sie.«

    Schoggi kläfft wie zur Bestätigung und schleckt sich das Maul. Er hat tatsächlich etwas Eigelb um die Nase.

    »Aber bis der Führer in Berlin die Eier bekommt, sind sie doch faul«, sagt Lore.

    Die Frau mahlt mit dem Kiefer und betrachtet sie argwöhnisch. »Die Eier sind doch net direkt für den Führer. Da hätte er ja was zu tun.« Wippt ihr Kopf leicht zur Seite wie bei einem Huhn, oder bildet sich Lore das ein? »Die Bauern müssen sie alle abgeben, und sie werden verteilt.«

    »Ach so.«

    »Bist du die Neue für die Waigandts?«

    »Ja. Und ich soll mich in der RAD-Baracke anmelden.«

    Die Frau zeigt Lore den Weg. Lore muss ein Stückchen zurück und dann nach rechts. Die RAD-Baracke ist am Ortsausgang in Richtung Altmannshausen links. Dort riecht es nach Holz, Staub, Schweiß, Kraut und feuchter

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