Versunkene Welt: Erinnerungen an eine Kindheit in Siebenbürgen
Von Elisabeth Hering
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Buchvorschau
Versunkene Welt - Elisabeth Hering
Elisabeth Hering
Versunkene Welt
Erinnerungen an eine Kindheit in Siebenbürgen
Meinen Kindern gewidmet,
die auch veranlasst haben,
dieses Buch zu schreiben.
Ich bin die älteste Tochter der einzigen Tochter der ältesten Tochter. Und auch die älteste Tochter des ältesten Sohnes der ältesten Tochter. Und alle diese meine Vorfahren heirateten jung. So gab es eine dichte Geschlechterfolge und es lebten, als ich geboren wurde, noch alle meine Großeltern und von den acht Urgroßeltern, die den Menschen zustehen, noch fünf. Erinnern kann ich mich an vier von ihnen.
Meine aller früheste Erinnerung überhaupt knüpft sich an meine Bacon-Urgroßmutter. Und zwar ist sie derart, dass eine Verwechslung mit einer mir möglicherweise später erzählten Begebenheit undenkbar ist. Denn es ist keine erzählbare Begebenheit, vielmehr ein Bild.
Ich sitze oder hocke in der unteren Veranda unseres Hauses, einem Raum, der bis in den Herbst hinein als Wohnraum diente, da er nach allen Seiten geschlossen war, dem Hof zu mit einer Glaswand, durch die man den ganzen Hof überblicken konnte. Hier wurden in der warmen Jahreszeit die Mahlzeiten eingenommen, und wenn sich Gäste unerwartet einstellten, was besonders zur Jause, dem Nachmittagskaffee, sehr häufig vorkam, lag das Gedeck für sie bereit, noch ehe sich die Türen auftaten.
Hier also saß ich, und zwar im Vorderteil, wo keine Möbel standen, und baute einen Turm aus Kukuruzgrotzen, aus diesen Maiskolbenstrünken, aus denen die Maiskörner schon abgerebbelt
waren, herausgelöst waren, so dass mir dieses prächtige Baumaterial, das ich offenbar dem gekauften Ankersteinbaukasten vorzog, zur Verfügung stand. Es muss also Herbst gewesen sein.
Da tat sich die Türe des Eingangs mit dem ihr eigentümlichen Gequietsche auf, und meine Urgroßmutter trat herein — eine nicht sehr große, dunkel gekleidete, etwas vornübergebeugte Gestalt, die eine schwarze Barbe auf dem Kopf trug, ging an mir vorüber.
Sie starb im Februar des Jahres 1911. Ich bin im Januar 1909 geboren. Ihr Bild muss sich also im Herbst 1910 in mein Gedächtnis eingegraben haben. Und zwar in doppelter Variante: Ich sehe mich auf dem Rande des marmornen Springbrunnenbeckens sitzen und die Goldfischchen beobachten, die dort herumschwammen, als meine Urgroßmutter (wieder in Schwarz mit Barbe, nur trug sie diesmal auch einen Regenschirm in der Hand) auf mich zustürzte, um mich mit dem Ruf: Lieschen, du fällst ins Wasser!
vom Brunnenrand zu ziehen.
Meine Mutter bestätigte mir später die Richtigkeit des Bildes, das ich mir von meiner Urgroßmutter bewahrt habe. Sie war damals schon über achtzig Jahre alt, trug immer schwarze Kleider und eine Barbe, wie sie für alte Damen sehr kleidsam ist (ich wollte, sie wäre heute noch in Mode), und ging selten ohne Regenschirm aus dem Haus. Auch soll sie sehr ängstlich gewesen sein.
Ich war das einzige Urenkelkind, das sie erlebt hat. Sie muss mir sehr zugetan gewesen sein, denn sie soll geäußert haben: Ich möchte so lange leben, bis ich sehe, was aus diesem Kind einmal wird.
Und da meine früheste Kindheitserinnerung auf sie zurückgeht, will ich den Reigen der Gestalten, den ich hier an euch vorüberziehen lassen werde, auch mit ihr beginnen.
Therese Bacon geborene Wenrich, geboren am 27.6.1824, gestorben am 3.2.1911. Ihr Vater war Webermeister und wurde Bürgermeister von Schäßburg. Ihr Elternhaus stand auf der Burg nicht weit vom Stammhaus der Bacons entfernt, in dem ich aufgewachsen bin. Ein großes, stattliches Eckhaus mit Eingängen von der Schulgasse und vom Burgplatz, eines dieser wundervollen alten Schäßburger Häuser, die so fest gebaut sind, dass ein Spaßvogel von ihnen sagte, sie sähen aus, als ob sie massiv gebaut und nachträglich ausgehöhlt worden wären. (Ja, sie werden vermutlich noch stehen, wenn die heutigen modernen Hochhäuser längst zusammengerumpelt sind.) Man nannte dieses Haus auch das Haus zum Hirschen, weil in der Zeit, ehe es Hausnummern gab, ein steinerner Hirschkopf an seiner Wand angebracht worden war.
Außer jenem Haus besaß der Bürgermeister Wenrich Gärten und Felder, die er von Tagelöhnern bestellen ließ. Und seine Liebe zur Landwirtschaft hat er seiner Tochter Therese und deren Sohn Joseph weitervererbt. Meine Urgroßmutter soll in der Rohrau ein Grundstück besessen und mit Hopfenbau gute Einnahmen erzielt haben, und mein Großvater ließ seine beiden Baumgärten am Siechhofberg und am Knopf von einem Meirer bewirtschaften. Doch ihm wurde nachgesagt, es sei ein Verlustgeschäft gewesen.
Und auch die Ängstlichkeit muss Therese von ihrem Vater geerbt haben, denn folgende Anekdote ist bis zu mir gedrungen:
Der alte Wenrich hatte außer dieser Tochter noch mehrere Söhne, deren einer Universitätsprofessor in Wien wurde und ein anderer Offizier. Als der Letztere, bereits im Hauptmannsrang, einst zu Besuch im Elternhaus weilte und sich am Mittagstisch ein Stück Brot schneiden wollte, rief sein Vater entsetzt: Niet dem Kängd det Messer aus der Hand!
Nehmt dem Kind das Messer aus der Hand!
Auch eine andere Eigenschaft von ihm, die sich fortgeerbt hat, wird berichtet: Er sei mit den Hühnern schlafen gegangen und mit den Hühnern aufgestanden. Und wenn seine Frau im Sommer nach der Jause noch mit ihrer Familie in den Garten habe gehen wollen, habe er sie gefragt: Wor giehst te nea schi wedder mät de Kängden ken de Nocht?
Wohin gehst du nun schon wieder mit den Kindern der Nacht entgegen? Nun, auch sein Enkel (mein Großvater) pflegte sich gegen acht Uhr abends schon niederzulegen, stand vom Abendessen auf, sagte: Ich Überschlag mich jetzt!
Und ging dann am Morgen, wenn alles noch schlief, an die Arbeit. Du könntest doch die Mägde wecken, Tat
, sagte seine Frau, die selber bis spät in die Nacht herumwirtschaftete und dann am Morgen nicht vor neun Uhr aus den Federn fand. Fällt mir ein
, antwortete er, ich bin froh, dass ich meine Ruhe habe.
Nun schweifte ich ab, und das wird mir noch oft passieren. Denn es ist wahrscheinlich ein Irrtum zu meinen, das Leben wäre ein ununterbrochener Entwicklungsstrom, fließend von der Quelle zur Mündung, da dieser Strom doch von so vielen Zuflüssen gespeist wird, dass man gar nicht recht weiß, wo eigentlich seine Quelle ist, und man sich, wenn man seinen Ursprüngen nachgeht, in einem seltsamen Netzwerk gefangen sieht, dessen Fäden wohl ebenso wenig leicht auseinanderzufitzen sind wie die beiden Erinnerungsbilder, die mir hier ineinander übergehen.
Kehren wir also zurück zu Therese Wenrich. Sie muss ein sehr begabtes Kind gewesen sein — aber leider
nur ein Mädchen, dem dazumal kaum eine Schulbildung offen stand. Unglaublich, was man mir erzählte: Die Mädchenschule habe nur zwei Klassen gehabt, und als Thesi (wie sie in der Familie genannt wurde) diese absolviert hatte und man sie so früh nicht aus der Schule nehmen wollte, habe sie noch einmal dem Unterricht von vorne beigewohnt. Doch dann, nach vierjähriger Schulzeit also, war damit endgültig Schluß. Es gab noch Privatunterricht in französischer Sprache, es gab eine Reise zu Verwandten nach Hermannstadt, den Unterricht in den weiblichen Handarbeiten wird wohl ihre Mutter ihr erteilt haben (darin erlangte sie große Fertigkeit), und dann gab es eben die Bücher, in denen zu lesen sie nicht müde wurde.
Mit einem Onkel wettete sie, in drei Monaten sämtliche Gedichte von Schiller auswendig zu lernen. Diese Wette gewann sie und damit als Preis Schillers sämtliche Werke.
Man schilderte mir folgendes Bild von ihr: Sie saß und strickte, auf dem Schoß hielt sie dabei ein Buch, in dem sie las, mit dem Fuß schaukelte sie die Wiege ihres jüngsten Geschwisterchens, und ab und zu biss sie in einen Apfel, der vor ihr auf dem Tisch lag.
Im Stricken wurde sie eine große Meisterin. Die Frauen trugen damals weiße Strümpfe, die bis zum Knie gingen, dort mit einem Strumpfband festgehalten wurden und oben einen mindestens zehn Zentimeter langen gemusterten Teil aufwiesen, ehe sie dann glatt hinunter gestrickt wurden. Und einen solchen Strumpf aus feinem Baumwollgarn konnte sie mit dünnen Nadeln an einem Tag zustande bringen.
Ich besitze einen Streifen solch kunstvoll gestrickter Muster von ihr — ein wahres Museumsstück. Und auch gestickt hat sie bis in ihr hohes Alter — immer mit rotem Garn auf weißes Leinen, Kreuzstich, Flachstich und dazwischen Kalötaszeger Durchbrucharbeiten — (Kalötaszeg ist eine Landschaft in Siebenbürgen, westlich von Klausenburg, die durch ihre Handarbeiten berühmt ist). So ein Tischtuch besitze ich.
Und natürlich lernte sie in ihrem Elternhaus von der Hauswirtschaft so viel, wie die Tochter ehrsamer sächsischer Bürgersleute verstehen musste, ehe man sie verheiratete. (Und das war nicht wenig! Wurde damals doch im Hause Brot gebacken, Seife gekocht, Kraut in Fässer eingelegt und dergleichen mehr.) Und sie muss auch darin sehr gelehrig gewesen sein, denn man verheiratete sie schon mit vierzehn Jahren.
Der Mann, dem man sie zur Frau gab, war doppelt so alt wie sie. Was er von Beruf gewesen ist, weiß ich nicht.
Er muss ein sehr gutmütiger Mensch gewesen sein, der sie sehr lieb hatte. Es wird erzählt, dass er einmal als er nach Hause kam, sie im Hof antraf mit Kindern spielend, sie auf den Arm nahm, ins Haus trug und sagte: Thesi, te meßt nea kochen.
Thesi, du musst jetzt kochen. Und als sie sich nach etwa achtjähriger Ehe von ihm scheiden lassen wollte, sagte er: Wißt te wat, Thesi, ich kiefen der nea noch ein Klied.
Weißt du was, Thesi, ich kaufe dir jetzt noch ein Kleid.
Warum aber ließ sie sich dann überhaupt scheiden und eröffnete damit diese Familientradition, die sich bis zu meinen Söhnen fortgesetzt hat? Als Grund wird angegeben, dass sie keine Kinder bekamen, die sich die junge Frau doch so sehr wünschte. Und Hauptgrund dürfte wohl der Landesadvokat Dr. Joseph Bacon gewesen sein, der in ihr Blickfeld geriet.
Sie sind im Guten
auseinandergegangen, wie ein Brief von ihr beweist, den sie ihrem geschiedenen Mann geschrieben hat, und den ich in ihren nachgelassenen Papieren vorfand. Und auch er hat wieder geheiratet und das Erstaunliche ist zu verzeichnen, dass sie beide noch von den anderen Ehegatten Kinder hatten: er zwei und sie neun!
Von ihren neun Kindern starben ihr fünf. Das Älteste bald nach der Geburt, zwei Töchter als Kinder an Diphterie und der Zwillingsbruder ihrer jüngsten Tochter ebenfalls als Säugling, ein sechzehnjähriger hochbegabter Sohn, Alexander an Hirnhautentzündung. Großgezogen hat sie also vier Kinder: Marie, Joseph, Cornelia und Therese.
Ihr zweiter Mann, mein Urgroßvater Joseph Bacon, stammte aus einer eingewanderten Familie. Drei Brüder Bacon waren als Wundärzte des österreichischen Heeres nach Siebenbürgen gekommen und hatten sich hier niedergelassen. Die Familie war, wie schon der Name besagt, englischen Ursprungs. Die Familiensage berichtet Folgendes: Der Urahn, ein Katholik, hatte während der Katholikenverfolgungen England verlassen und war in die Pfalz ausgewandert. Und hier wurden seine Nachkommen zu Deutschen — aus den Bacons (sprich Beekens) wurden Bacons (sprich Backons). Wie die drei Brüder dazu kamen in österreichische Dienste zu treten, ist nicht überliefert. Jedenfalls kamen sie auf diese Weise nach Siebenbürgen, zwei von ihnen heirateten hier sächsische Frauen, blieben aber katholisch, und der Vater meines Urgroßvaters ist auf dem katholischen Friedhof in Schäßburg begraben worden. Seinen Grabstein habe ich als Kind noch gesehen. Sein Sohn ist nach dem alten siebenbürgischen Rechtsgrundsatz, nach dem die Söhne in der Religion ihres Vaters, die Töchter in der ihrer Mutter erzogen wurden, katholisch getauft worden, trat aber, als er die Tochter des Schäßburger Bürgermeisters heiratete, zum evangelischen Glauben über. Das war eine völlig normale Erscheinung.
Von meinen vier Urgroßvätern waren drei gebürtige Katholiken: Thullner wanderte aus Wieselburg ein, das an der Grenze Ungarns zu Österreich liegt und dessen Einwohner, auch die Deutschen unter ihnen, katholisch waren, Leicht kam aus dem katholischen Bayern. Thullner ließ sich in Birthälm nieder, heiratete eine Sächsin und wurde evangelisch, Leicht ließ sich in Csíkszereda nieder, wurde dort zwar nicht evangelisch, obwohl auch er eine Sächsin geheiratet hatte, sein Sohn jedoch, der die Birthälmerin heiratete, vollzog mit der Eheschließung auch den Übertritt zur evangelischen Kirche. Denn in Siebenbürgen galt seit der Reformation der Begriff sächsisch
und evangelisch
nahezu als Synonym, ried evandjelesch
red evangelisch! — sagt man zu jemandem, wenn man will, dass er nicht hochdeutsch, sondern in unserer Mundart sprechen soll, und ein
evangelisches Hendel wird nach sächsischer Art mit Speck und Zwiebel gefüllt, gebraten, während das
katholische" eine Semmelfälle erhält (nach österreichischem Rezept).
Mein Urgroßvater Bacon war Jurist (Landesadvokat).
Was es mit diesem Titel auf sich hat, weiß ich nicht.
Nach dem sogenannten Ausgleich
zwischen Österreich und Ungarn kam er als Abgeordneter in den ungarischen Reichstag. Er gehörte der Partei der Jungsachsen
an, die sich nach der Zerschlagung des Königsbodens
gebildet hatte (1876) und für ein gutes Verhältnis zum Madjarentum eintrat. Ich komme auf diese geschichtlichen Hintergründe später noch zu sprechen. Er muss ein durchaus liberaler
Mann gewesen sein, der nicht nur für die Madjaren, sondern auch für die Rumänien Verständnis zeigte und ihr Fürsprecher wurde, als sie auf der Burg eine rumänische Schule gründen wollten, was ihnen dann durch seine Vermittlung auch gestattet wurde.
Ich habe diese Tatsache einer Schrift entnommen, die im orthodoxen Pfarramt in Schäßburg aufbewahrt wird. Der dortige Pfarrer zeigte sie mir.
Auch in einer anderen Hinsicht bewies mein Urgroßvater, dass er über die Vorurteile seiner Zeitgenossen erhaben war. Seine älteste Tochter Marie — ein selten schönes und begabtes Mädchen — hatte die Schäßburger Mädchenschule mit Glanz bestanden, und obwohl diese Schule nun um etliche Klassen mehr aufzuweisen hatte, als zu den Zeiten ihrer Mutter, meinte er doch, dass es seiner begabten Tochter zustehe, ein größeres Wissen zu erwerben, als sie vermitteln konnte. Er ging deshalb zum Direktor des Knabengymnasiums und bat ihn, Marie in diese Schule aufzunehmen. Unerhört! Ein Mädchen im Knabengymnasium! Matura machen und womöglich gar studieren — in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts! Es wurde dann auch glatt abgeschlagen. So etwas konnte selbst ein Abgeordneter für seine Tochter nicht erreichen.
Marie blieb also schön artig zu Hause und lernte der Mutter deren weibliche Künste ab. Doch diese Mutter sorgte für die Weiterbildung ihrer Töchter nicht nur, indem sie ihnen das Kochen und Stricken beibrachte, es fehlte ihrer Bibliothek nicht an Büchern (Schillers sämtliche Werke hatte sie ja schon mit in die Ehe gebracht und seither sicherlich um so manche Werke vermehrt), aber es genügte nicht, die Dramen der Klassiker nur zu lesen — sie wollten doch gespielt sein! Und so veranstaltete Therese Bacon mit ihren heranwachsenden Kindern und deren Altersgenossen Aufführungen, die sich bald allgemeiner Beliebtheit erfreuten. Kein Wunder, dass in Marie der Wunsch aufstieg, Schauspielerin zu werden.
Schauspielerin! Die Tochter eines Abgeordneten, die Enkelin eines Bürgermeisters Schauspielerin! Das verstieß denn doch noch mehr gegen alle guten Sitten als der Wunsch eines Mädchens, Matura zu machen.
Hier war sogar der Vater dagegen. Zwar verbot er Marie nicht geradezu, diese Laufbahn zu ergreifen, doch versagte er ihr jede weitere materielle Unterstützung.
Und es war der Großvater, der alte Bürgermeister Wenrich, der es der Enkelin ermöglichte, in Wien eine Schauspielschule zu besuchen.
Ganz sicher hätte sie Aussicht gehabt, Karriere zu machen. Sie soll schon bei ihrem ersten Engagement in Karlsruhe als Naive schöne Erfolge erzielt haben. Da aber verliebte sie sich in den stattlichen, berühmten Wagnersänger Albert Stritt, heiratete ihn, hatte zwei Kinder und gab ihren Beruf auf.
Unterdessen starb ihr Vater, noch nicht sechzig Jahre alt, an einem Schlagfluss. Und damit nahm auch das Leben seiner Frau, meiner Urgroßmutter, eine andere Wendung.
Ihr Sohn Joseph war unterdessen Arzt und als Stadtphysikus in Schäßburg angestellt worden. Er hatte die Tochter des Bäckermeisters Michael Reinhardt geheiratet, einen eigenen Haushalt gegründet und das Haus, das seinem Vater gehört hatte, übernommen. (Über dieses Haus wird später noch manches zu sagen sein). Seine Mutter bezog ihr Elternhaus, das ihr als Erbe zugefallen war, zusammen mit ihrer Tochter Therese, der einzigen, die beim Tode des Vaters unverheiratet war und es auch blieb. Die Mittlere, Cornelia oder Nelly, wie sie in der Familie hieß, hatte einen reichen Kaufmann. Joseph Kaunz geheiratet, der, obgleich ebenfalls einer Schäßburger Familie entstammend, in Klausenburg lebte, wo er eine Agentur hatte. Mit dieser Heirat verknüpfte sich ein Familiendrama.
Nelly, nicht weniger schön als Marie, nur nicht mit ebenso viel geistigen Gaben ausgestattet, stiller und zurückgezogener, war verlobt mit einem anderen Mann, ebenfalls aus gutbürgerlicher Schäßburger Familie, und dieser wandte sich von ihr ab und heiratete ihre Cousine, die Tochter von der Schwester ihres Vaters. Das konnte mein Urgroßvater nicht verzeihen. Er brach jeden Verkehr mit der Familie seiner Schwester ab und hat bis an sein Lebensende kein Wort mehr mit ihnen gesprochen. Doch scheint dieser Familienzwist nicht an die Öffentlichkeit gedrungen zu sein, denn so klein Schäßburg auch war, wusste doch sein Gegenvater
Reinhardt nichts davon, als er die Hochzeit seiner Tochter Lisi mit dem Stadtphysikus Dr. Joseph Bacon ausrichtete. (Die Siebenbürger Sachsen nennen die Schwiegereltern ihrer Kinder Gegeneltern
); Er lud natürlich die Baconische Verwandtschaft dazu ein, also auch diese Schwester des Landesadvokaten mit Tochter und Schwiegersohn. Sie müssen die Einladung angenommen haben, waren wohl froh, dass sich hier eine Gelegenheit zur Versöhnung bot. Aber der Alte blieb unerbittlich, und der arme Brautvater musste den schweren Gang tun und diese Gäste wieder ausladen. Meine Großmutter hat mir erzählt, wie peinlich das ihrem Vater gewesen ist.
Um nun der armen Nelly über die Enttäuschung hinwegzuhelfen, die ihr die Untreue ihres Bräutigams verursacht hatte, unternahm ihr Vater mit ihr eine längere Reise. Und bei der Gelegenheit kreuzte Joseph Kaunz ihren Weg und verliebte sich leidenschaftlich in das schöne Mädchen. Sie wies seine Werbung nicht ab, obwohl sie seine Leidenschaft wohl nicht erwiderte. Vermutlich wollte sie dem Untreuen zeigen, dass sie ihm nicht nachtrauerte. Und Kaunz verwöhnte sie auf alle Art, bewahrte ihr bis zu seinem Tode seine Verliebtheit und bot ihr mit seinem Reichtum ein angenehmes, mit allem Komfort ausgestattetes Leben.
Sie hatten einen einzigen Sohn. (Da sich bei seiner Geburt eine Eklampsie eingestellt hatte, verzichteten sie auf weitere Kinder). Er erhielt den Namen seines Vaters, wurde in der Familie Joschka genannt und wurde später mein Patenonkel.
Ich erinnere mich noch gut an die Atmosphäre, die im Kaunzischen Hause herrschte: an die bunten Fensterscheiben, mit denen die Eingangstüre geschmückt war, an die schön eingerichteten Räume, an die Beflissenheit, mit der Kaunzonkel seiner Frau Aufmerksamkeiten erwies und an die freundliche Zurückhaltung, mit der sie diese entgegennahm.
Später erzählte mir ihr Enkel, den man ebenfalls Joseph getauft hatte, den wir aber bis an sein Lebensende Öcsi nannten (weil er der jüngere Bruder seiner Schwester Cornelia war, die wir Pusi nannten), später also erzählte mir Öcsi, dass seine Großmutter, wenn ihr Mann und ihr Sohn eine schöne Sommerreise machen wollten, sich daran nicht beteiligte, sondern ihr größtes Vergnügen darin fand, allein in ihrem Hause zu bleiben. Sie gab ihren Dienstboten Urlaub, ließ die Jalousien der nach der Straße zu gelegenen Fenster hinunter, damit alle Welt denken solle, Kaunzens wären verreist, und lebte so still für sich hin, ohne einen Menschen zu sehen, bis ihre Männer zurückkamen. Was muss sie für ein reiches und tiefes Innenleben entwickelt und wie mag sich die vielleicht doch etwas zu aufdringliche Art der Liebe ihres Mannes auf sie ausgewirkt haben, dass sich ein so ungewöhnliches Bedürfnis bei ihr einstellte?
Ihr Ende war tragisch. Sie starb (wie übrigens alle ihre Geschwister) an einem Schlagfluss, nur dass der sie nicht gleich tötete, sondern einseitig lähmte. Sieben Jahre lang — sieben lange Jahre — saß sie tagsüber in einem Rollstuhl, betreut von einer Pflegerin und Gesellschafterin, die sogleich von Kaunzonkel dazu angestellt wurde. Ihr Geist hatte nicht gelitten. Sie konnte sprechen und zuhören, man konnte ihr vorlesen und sich mit ihr unterhalten. Ich sehe sie noch vor mir, in ihrem Rollstuhl sitzend, ihr