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Die Fremde im Haus: Überleben mit der Borderline-Mutter
Die Fremde im Haus: Überleben mit der Borderline-Mutter
Die Fremde im Haus: Überleben mit der Borderline-Mutter
eBook482 Seiten6 Stunden

Die Fremde im Haus: Überleben mit der Borderline-Mutter

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Über dieses E-Book

Eine Mutter ist schwer psychisch krank - sie hat Borderline und ist narzisstisch persönlichkeitsgestört. Was bedeutet das aber für das Kind, das in dieser Familie heranwächst? Wie geht man mit einer Bezugsperson um, die nicht gesund ist? Das Buch "Die Fremde im Haus - Überleben mit der Borderline-Mutter" schildert anschaulich den Alltag der jungen Tochter einer Borderlinerin und wie sie es geschafft hat, ohne fremde Hilfe ein eigenständiges Leben aufzubauen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Jan. 2024
ISBN9783347900578
Die Fremde im Haus: Überleben mit der Borderline-Mutter
Autor

Lea Steinberg

Erwachsenes Kind einer Borderline-kranken und alkoholkranken Mutter. Überlebenskünstlerin. Designerin. Autorin. Botschafterin für ein aufmerksameres Miteinander in unserer Gesellschaft und für eine Zukunft, in der Kinder und Heranwachsende in ihren Familien und außerhalb sicherer sein können.

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    Buchvorschau

    Die Fremde im Haus - Lea Steinberg

    Nach dem Grauen

    „Eine Wahrheit, die verschwiegen wird, wird giftig."

    Alice Miller

    Wenn ich das schreibe, bin ich endlich in Sicherheit. Ich bin erwachsen, und sie ist tot. Nur erwachsen zu sein reichte noch nicht, um endlich in Sicherheit zu kommen – sie musste auch tot sein, damit ihre Nachstellungen aufhörten, damit ich nicht immer zu flüchten brauchte, und ich bin meinem Glücksstern dankbar, dass nicht ich sie in den Tod befördern musste, sondern der Dämon Alkohol das seinige getan hat. Es war ein Glück, dass sie sich selbst hinrichtete, wenn auch viel zu spät, und dass nicht ich in einem Aufflackern der Verzweiflung einen schweren Gegenstand auf ihren Kopf habe fallen lassen müssen, um ihren Terror zu beenden, gerade weil sie mich oft in Situationen gebracht hat, die lebensgefährlich für mich waren und in denen es hieß: sie oder ich, Gegenwehr oder Tod, ihr Wahn gegen mein Leben.

    Sie – das war eine Borderlinerin und kontrollsüchtige, maligne Narzisstin, die „Mutter" zu nennen grundfalsch gewesen wäre als Ehrentitel für eine, die versucht hat, ihrem Kind nach dem Leben zu trachten und sich daran zu ergötzen. Sie hörte nicht auf, mir zu schaden, solange sie lebte, es war wie eine Sucht für sie, mir wehzutun, sie war wie besessen davon: sie liebte es, mich zu schlagen, zu beleidigen, zu bedrohen, zu täuschen, Leute gegen mich aufzuwiegeln – sie versuchte, mich zu verstümmeln, ja, sie ging so weit, Beweise zu fälschen und Urkunden zu manipulieren, um mir Nachteile zuzufügen und bewusst meine Zukunft zu ruinieren.

    Wenn ich in diesem Moment die folgenden Seiten lese, die ich schon vor einigen Jahren geschrieben habe als Dokument gegen das Vergessen, überfällt es mich wie ein Alpdruck, dass ich all das wirklich erlebt habe – es ist mir, wie einen Schauerfilm zu sehen, und doch ist mir völlig bewusst, es ist wahr. Ich bin wie eine Überlebende eines Kriegs oder einer Geiselhaft. Mein Körper erinnert sich, und mein Bewusstsein wirft Bildsequenzen aus im Traum und am Tag an das Horrorhaus und ihre unablässigen Attacken auf mich. Die feigen Zeugen, die den Mund gehalten haben, obwohl sie es wussten, erinnern sich insgeheim auch und werden sich vielleicht irgendwann vor einem Richter verantworten müssen, der nicht so befangen ist wie die irdischen.

    Ich habe dieses Buch geschrieben, um dem Kind Lea die Würde zurückzugeben im Wissen, dass das Aufwachsen mit einer schwer persönlichkeitsgestörten Mutter wie der meinigen zwar schlimm, aber leider kein Einzelfall ist. Damit andere Überlebende sich auch gesehen fühlen und das Schweigen aufhören kann, das uns erstickt.

    Lea Steinberg, im Oktober 2023

    Hinweis zum Sprachgebrauch:

    Dieses Buch verwendet wiederholt den Begriff „psychisch kranke Eltern. Auf die heute gängige Bezeichnung „psychisch erkrankte Eltern wurde hier verzichtet, da es sich beim Typus Borderline – dem klinischen Störungsbild von Leas Mutter – um eine sehr schwere Persönlichkeitsstörung handelt, die nicht vorübergehender Natur ist, sondern dauerhaft.

    In diesem Buch wird ferner häufig die Bezeichnung „Borderline-Hexe statt „Borderline-Kranke oder „Borderlinerin verwendet. Diese Bezeichnung ist nicht als Beleidigung gedacht, sondern schildert den Terror, den eine solche Person im Leben ihres Kindes anrichten kann. Wer Probleme damit hat, den Begriff „Borderline-Hexe zu lesen und Lea dafür verurteilen will, sollte nicht weiterlesen. Lea bezieht sich auf Christine Ann Lawsons Buch „Die Borderline-Mutter und ihre Kinder (2000) und versteht sich als Anwältin von Kindern, die von einem schwer gestörten Elternteil missbraucht werden. Wie Lawson klassifiziert sie Typen von Borderline-Müttern, und die Bezeichnungen „Borderline-Königin und „Borderline-Hexe beziehen sich auf den Umgang solcher Mütter mit ihren Kindern. Die Borderline-Mutter in ihrem Subtypus „Königin ist herrschsüchtig und dominant, oft auch narzisstisch persönlichkeitsgestört, die Borderline-Mutter vom Subtypus „Hexe hasst das Kind, sie projiziert ihre Wut und Aggression auf es und versucht es im Extremfall sogar zu töten. Insofern sei die Bezeichnung „Hexe auch hier statthaft, weil sie das authentische kindliche Entsetzen und den kindlichen Vorstellungshorizont spiegelt angesichts eines klinisch motivierten Verhaltens der Aggression und Niedertracht, das noch Erwachsene ängstigen kann.

    Die Borderline-Mutter, von der hier die Rede ist, litt an einer antisozialen Ausprägung der Borderline-Störung mit narzisstischen Zügen und Sucht, welche dazu führten, dass sie sowohl das eigene Kind, als auch andere Kinder wiederholt misshandelt hat, dass sie jahrelang Behörden betrog, Urkunden manipulierte, Rufmordkampagnen gegen das eigene Kind startete und nie ein Unrechtsbewusstsein entwickelte. Diese massive Störung im Sozialverhalten entspricht sicherlich dem, was Gesellschaft und Moral als „hexenhaft, antisozial und böse" definieren. Manch einer mag sich nun fragen, ob eine diagnostiziert persönlichkeitsgestörte Mutter schuldfähig ist für das, was sie ihrem Kind antut, wobei die Frage nach der Schuldfähigkeit des Täters aber nicht über dem Schutzrecht der Opfer stehen sollte.

    Eine Krankheit, auch eine Persönlichkeitsstörung in gefährlicher Ausprägung kombiniert mit einer Suchtmittelabhängigkeit, entbindet den Erkrankten und ersatzweise den Staat nicht von seiner Verantwortung.

    „Schweigen sollst du, böses Kind":

    Interview mit Anima Sola über Borderline-Mütter und die gesellschaftliche Verdrängung der Wahrheit

    Lea: „Mein Buch wurde schon im Vorfeld von mehreren Seiten unterdrückt, weil die Wahrheit über Borderline-Mütter und ihre Kinder, und deren Kindheit, offenbar gesellschaftlich unerwünscht ist."

    Anima Sola: „Der stereotype „Nestbeschmutzer-Vorwurf wird immer gern hervorgeholt, um kindliche Opfer mundtot zu machen. Das sehen wir bei Opfern von sexuellem Kindesmissbrauch, aber auch bei Kindern psychisch kranker Eltern, die schonungslos berichten, was die massive Krankheit der Eltern bei ihnen, in ihrer eigenen Kindheit und Jugend, angerichtet hat.

    Lea: „Es wird immer gefordert, dass Kinder Rücksicht nehmen auf psychisch kranke Eltern, die sich selbst doch oft völlig rücksichtslos zugemutet haben.

    Es werden sogar Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Kinder geäußert, weil „nicht sein kann, was nicht sein darf.

    Anima Sola: „Diese Täterentlastung einerseits („die „gute Mutter, auch wenn sie alles andere als das war) und die Opferdiffamierung andererseits (das „böse Kind) ist typisch dafür, wie heuchlerisch unsere Gesellschaft auch heute noch mit dem Thema „psychisch kranke Eltern" umgeht.

    Der Befehl einer heuchlerischen Gesellschaft, die sich nicht der unbequemen Einsicht stellen will, dass psychisch kranke Eltern dem Kind tatsächlich schaden, lautet dann oft, in völliger Verkennung der Tatsachen: „böses Kind, du sollst schweigen.

    Lea: „Und dieses Schweigen bringt sie um. Durch dieses gesellschaftlich auferlegte Schweigen werden die Kinder psychisch kranker Eltern erst recht in die Defensive, und oft sogar selbst in die Sucht oder Psychose gedrängt.

    Die Heuchelei von der angeblich heilen Familie, die auch noch von Außenstehenden getragen wird, verhindert jeden klaren Dialog, der heilsam sein könnte. Ich denke jedoch auch, diese Heuchelei kommt daher, dass die Täter-Opfer-Rollen in solchen Familien nicht durchschaut werden wollen."

    Anima Sola: „Die Kinder solcher Eltern sind fast immer auch Opfer, wie Statistiken belegen: Vernachlässigung und Misshandlungen aller Art kommen in Familien mit psychisch kranken Eltern viel häufiger vor. Es mangelt gesellschaftlich aber oft schon an der Einsicht in diese grundlegende Tatsache, dass psychisch kranke Eltern auch Täter sein können und es in vielen Fällen sind. Dann werden Mechanismen der Verdrängung und Schuldprojektion eingesetzt, um diese Einsicht wegzuschieben, indem man den Kindern suggeriert, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimme, und dass die Eltern schon irgendwie ok seien."

    Lea: „Das heißt im Klartext, die Misshandlung der Kinder durch die Eltern setzt sich fort durch eine Gesellschaft, die den Kindern zusätzlich auch noch die Verantwortung für ihre eigene Misshandlung zuschieben will und die Täter stereotyp weißwäscht.

    Diese Praxis der Verdrängung muss aufhören – wir Kinder psychisch kranker Eltern brauchen Mut, um die Wahrheit zu sagen über das, was wir erlebt haben, und die Öffentlichkeit braucht Mut, um hinzuhören."

    Anima Sola: „Dazu soll dieses Buch beitragen."

    Laut offizieller Schätzung sind derzeit in Deutschland 2,65 Millionen Kinder von der Suchtkrankheit eines Elternteils betroffen. Zwei bis drei Millionen Kinder leben mit einem Elternteil zusammen, der psychisch krank ist.¹ Oftmals sind psychisch kranke Eltern zudem auch suchtkrank oder umgekehrt. Das Elend dieser Kinder wird erst allmählich von Forschung und Gesellschaft erkannt und zum Thema gemacht.

    Unterwegs zum Horrorhaus

    „Wappne dich, denn niemand hier wird dich schützen."

    Chris Cornell, „You know my name"

    Es ist Allerheiligen. Zarte Nebelschwaden ziehen am kühlen Morgenhimmel über fast entlaubten Bäumen vor meinem Fenster vorbei, einige orangerote Blätter hängen noch an den Zweigen. Im Zimmer stehen Kerzen, wie man sie in den Geschäften kurz vor Allerheiligen überall kaufen kann – rote und weiße Kerzen mit bronzenem Metalldeckel für den Friedhof. Doch ich weiß bereits jetzt, ich werde keine Kerze für sie anzünden, ich werde nicht zum verödeten Grab gehen, in dem sie bestattet liegt, und er daneben, der alles wusste und nicht eingriff. Geschichte wird von den Siegern geschrieben; im Fall einer Familientragödie gibt es jedoch in Wahrheit keine Sieger, nur Überlebende. Die traurige Geschichte, die ich jetzt erzählen will, ist zu wichtig, um in Vergessenheit zu geraten, wie es alle die wünschten, die sie kannten und totschwiegen, als sie sich ereignete, und die erst recht nichts von ihr wissen wollten, als Schweigen Geld brachte. Es ist die Geschichte einer Wahnsinnigen, die ihr eigenes Kind opfern wollte auf dem Altar ihrer perversen Lust und Geisteskrankheit. Es ist auch ein Krimi – zwei Leichen und ein Betrug. Er dauerte 25 Jahre, und die habgierigen Mitwisser haben zuletzt ein falsches Zeugnis abgelegt, um sich schamlos an den Hinterlassenschaften der Wahnsinnigen zu bereichern.

    Die Leichen meiner Peinigerin und ihres Beihelfers liegen heute auf der lichten Anhöhe unter Kiefern auf einem Waldfriedhof, anonym verscharrt, denn die Mitwisser, die von der skrupellosen Täterin noch auf dem Sterbebett zur Grabsorge eingesetzt wurden, hatten es sehr eilig, alles, was an die Identität ihrer Gönnerin erinnerte, zu vertuschen. Übrig bin ich. Ich habe überlebt, um die Geschichte zu erzählen; vielleicht nur deshalb, damit die Nachwelt die Wahrheit erfährt. Ich bin die Letzte, die noch die Stellen kannte, an denen die Gräber waren, ich bin die Letzte, die die Toten so kannte, wie sie wirklich waren, und ich bin die Letzte mit dieser DNA der Täterin und ihres Beihelfers, einer Genetik, die irgendwann im Blau des Morgenhimmels versickern wird, wenn auch ich tot bin. Vielleicht kann bis dahin mein Leben als ein Leben, das durch ein Vierteljahrhundert ihres Betrugs gewaltsam niedergedrückt wurde, durch die Wahrheit wieder aufgerichtet werden. Ich erzähle jetzt die Wahrheit, die keiner wissen wollte.

    Ich nenne mich hier Lea. Alle Namen und Orte in diesem Buch sind geändert, damit ich nicht noch mehr Nachteile erfahre, als ich es zu Lebzeiten meiner Peinigerin bereits hatte, aber es ist mir ein tiefes Bedürfnis, mich mitzuteilen, da ich weiß, dass meine Geschichte zwar sehr extrem ist, aber nicht einzigartig. Es ist mir bewusst, dass es sehr viele Betroffene gibt, die noch immer schweigen, und dieses Schweigen tut nicht gut – ihnen selbst nicht und der Gesellschaft nicht.

    Mein Thema, unser Thema unter uns Angehörigen, ist ein sehr wichtiges Anliegen, das nicht durch Schweigen verdrängt werden kann, und das leider bestehen bleibt durch alle gesellschaftliche Vertuschung hindurch. Es ist ein Thema, das uns alle angeht.

    Ich bin ein erwachsenes Kind von zwei psychisch kranken und suchtkranken, teils gewalttätigen und kriminellen Eltern.

    Mein schöner und gebildeter, charmanter, aber eiskalter Vater Herrmann war spielsüchtig. Er hatte außerdem eine vom Neurologen diagnostizierte narzisstische Persönlichkeitsstörung, was sich herausstellte, als er mit Mitte 50 eine Frühform von Alzheimer bekam und neurologisch untersucht wurde. Damals kam ich in den Semesterferien nach Hause und sah auf dem Frühstückstisch unverhofft einen mehrseitigen Diagnose-Bericht vom Neurologen über den komplizierten Befund meines Vaters, unter anderem stand da auch „narzisstische Persönlichkeitsstörung". Da hatte ich es schwarz auf weiß – die Gewissheit, wenn auch spät. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die er aufwies, hatte bereits meine Kindheit und Jugend geprägt: er war ein zynischer Vater, der kaum Anteil an mir, seinem einzigen Kind, nahm und mich wie Luft behandelte.

    Meine wenig attraktive und hysterische Erzeugerin Judith war – außer während ihrer Schwangerschaft mit mir – meines Wissens immer alkohol- und tablettenabhängig und eine Kettenraucherin. Ich glaubte als Kind, „Judith" sei die weibliche Form von Judas. Judas hatte Jesus mit einem Kuss verraten – Judith hatte mich zwar nie geküsst, aber ein Leben lang verraten. Sie war psychisch krank, wobei ihre klinische Diagnose auf eine Borderline-Schizophrenie und ebenfalls auf Narzissmus lautete. Ihre seelische Störung hat sich, ihren eigenen Aussagen nach, schon im Kindesalter bei ihr gezeigt, als es ihr einfiel, Nachbarskinder sadistisch zu quälen, und sie ihren besorgten Eltern Rätsel aufgab, welche die damaligen Anlaufstellen nicht lösen konnten. Sucht kam in der Jugend hinzu und blieb eine Lebensgewohnheit.

    Paranoia, Wutanfälle und Gewalt machten später den Umgang mit ihr zu einer unberechenbaren und grausamen Herausforderung. Erst mit über 50 Jahren, als sie schon berufliche Konsequenzen erlebte wegen ihres gewalttätigen Verhaltens im Dienst, wurde sie psychiatrisch behandelt, ambulant und stationär.

    Wie kam es dazu, dass eine derart kranke Frau und ein Mann, der ihr Diener war, mein Leben missbrauchen durften? Es fing alles damit an, dass ich mich zu Tode ängstigte. Sie machte mir Angst, nicht Furcht – Todesangst. Sie war so völlig anders als gesunde Menschen, doch sie war stark, und – als ich klein war – riesengroß, turmhoch ragte der Wahnsinn vor mir auf, und ich hatte keine Wahl, als mich in die Kissen meines Gitterbetts zu krallen in der Hoffnung, nicht von ihr angepackt zu werden. Wohin sie auch ging, brachte sie eine elektrische Welle der Hochspannung, die ihr vorausging, eine Ladung des Risikos, Wetterleuchten kommender Ereignisse, die von jähem Wahn und Gewaltaufflackern begleitet waren. Ich zitterte. Es fing so früh an! Ich war so klein. Kurz nachdem ich geboren wurde, kam eine unheimliche Person auf mich zu, die mir das ganze Haus fremd machte, und die selbst immer die Fremde im Haus war, die ich nicht verstand und auch nicht einschätzen konnte, von meinen ersten tastenden Wahrnehmungen bis heute nach ihrem Tod, der für mich eine Erlösung war, für die ich dem unbekannten Gott Altäre bauen würde, so erleichtert bin ich.

    Die Fremde im Haus war meine Erzeugerin, ein fratzenschneidendes Wesen mit eckigen Bewegungen, das in seiner eigenen Welt lebte, einer Welt, die mir fremd und unheimlich erschien und die doch mein Leben durchzog wie eine giftige Säure, die unvermittelt in klares Wasser gegossen wird. Sie war eine erschreckende und abweisend kalte Erscheinung, die mir so unendlich fremd war, dass ich nie dachte, wirklich von ihr abstammen zu können, eine Person, die ich mein ganzes Leben lang fassungslos von der Seite anschaute, während ich mich fragte, womit ich das verdient habe, dass dieses Wesen, das so gar keine innere Verbindung mit mir und der Familie zu haben scheint, wie ein Alpdruck durch meinen Alltag geistert. Dämonisch, wechselbalgartig, befremdend – das sind meine intensiven Eindrücke von ihr vom Beginn bis zu ihrem frühen Ende mit Mitte 60, denn sie wirkte in ihrer unheimlichen Abgeschlossenheit und aggressiven Haltung auf mich bizarrer und unvertrauter als die nächste Unbekannte auf der Straße. Ich nenne sie im Folgenden oftmals meine „Erzeugerin, denn sie hat in keiner Kultur der Welt das Prädikat „Mutter verdient, denn sie war kein Quell der Ruhe, sondern unendlicher Anlass zu Unruhe, Unfrieden, Wut, Hass und Gewalt.

    Die Fremde im Haus, die mir so ganz unverständlich war und blieb und meiner Kindheit einen Hauch des Unwirklichen gab, litt unter einer massiven psychischen Persönlichkeitsstörung, die heute von den meisten Psychiatern als „Borderline, eine Form von Schizophrenie, bezeichnet wird. Borderline-Patienten sind laut heutiger psychiatrischer Auffassung im ICD-10 in ihrer Wahrnehmung, ihrem Denken, Fühlen und Sprechen so weit gestört, „dissoziiert, dass ein normaler Kontakt mit ihnen oftmals nicht möglich ist. Was bereits für den Kontakt unter Erwachsenen gilt, gilt in noch stärkerer Weise für den Kontakt eines solchen Erwachsenen mit einem Kind, oder für einen Borderliner in der Elternrolle: es ist ein unnennbares Drama für das Kind, quasi eine lebendige Hölle. Und dennoch sind nicht alle Borderline-Eltern gleich und somit nicht alle Kindheitsgeschichten von den Kindern, die mit einem solchen Erwachsenen, der oft genug die Bezeichnung nicht verdient, ihr frühes Leben verbringen mussten. Bei mir kamen erschwerende Faktoren hinzu: ich hatte keine Großeltern mehr, und nur für sehr kurze Zeit Pflegeeltern, die mir Schutz gaben. Es gab also keinen Helfer in der Not: meine Welt war gefährlich eng mit ihrem Wahnsinn verschmolzen, und ich brachte eine Herkuleskraft auf, um mich aus der Umschlingung zu retten, die mich Verstand und vielleicht das Leben gekostet hätte. Extrem war das, aber nicht selten.

    Eine Borderline-Mutter kann im Verhältnis zu ihrem Kind tatsächlich verschiedene sehr dysfunktionale Rollen einnehmen, die von Christine Ann Lawson in vier Typen unterschieden werden: das vernachlässigte Kind, die Einsiedlerin, die Königin und die Hexe.² Bei meiner Erzeugerin hatte ich oft den Eindruck, sie sei alle vier Typen abwechselnd: mal wehleidig wie das vernachlässigte Kind, mal isoliert und abgeschieden wie die Einsiedlerin, mal herrschsüchtig und im Befehlston herumkommandierend wie die Königin, dann wieder heimtückisch, brutal, pervers, gewitterartig umschlagend in ihren jähen Launen und in ihrem schadenfrohen Sadismus geradezu blutrünstig wie die sogenannte „Hexe". Im Grund war sie wirklich die Borderline-Hexe, denn diese Charakteristik war die am stärksten hervortretende, die am beängstigendste und die gefährlichste. Manche Borderline-Hexen können ihre Kinder ermorden, ohne nur mit der Wimper zu zucken, und viele tun es tatsächlich – körperlich oder seelisch.

    Selbst wenn sie ihre Kinder zugrunde gerichtet haben, steht für sie nichts im Mittelpunkt als ihr gestörtes, krankes Ego, das alle Aufmerksamkeit fordert und nie Unrechtsbewusstsein zeigt, egal, wie ihr Opfer leidet.

    Ich habe unter meiner Borderline-Hexe gelitten, abgrundtief, wie nur einer leiden kann, dessen Glück, Ruf, Ansehen, Reputation, Vermögen und in jungen Jahren sogar das Leben selbst von einer Wahnkranken abhing, der es diebischen Spaß machte, Schaden zu stiften, ja, die nicht nur psychisch gestört und süchtig, sondern auch hochgradig kriminell war.

    Lea Steinberg, Allerheiligen 2023

    Brief an die Mutter

    Liebe Mama,

    Du warst keine Mama. Und nicht lieb. Du bist ein Phänomen: spricht man dich mit „liebe Mama" an, hat man gleich zweimal gelogen.

    Ich hatte Angst vor Dir. Ich fragte mich oft „Wer ist diese fremde Frau?", denn Du kamst mir unendlich fremd vor. Du hast Grimassen geschnitten, hast ohne erkennbaren Grund geschrien oder geweint, hast mich urplötzlich für etwas beschuldigt, was ich gar nicht getan hatte, und Du warst so unheimlich eiskalt. Ich wusste nie, was in Dir vorging, es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich benennen konnte, was mit Dir los war: Du warst Borderline-gestört, narzisstisch und Alkoholikerin. Als kleines Mädchen wusste ich nur, dass Du anders warst als andere Mütter, dass Du mir Angst einjagst. Mit dieser Angst war ich allein, und es sollte bis in mein reifes Erwachsenenalter dauern, bis ich den Mut und auch schlicht die richtigen Worte gefunden hatte, um über Dich zu sprechen. Du hast mir so viel Angst gemacht, dass ich sogar nicht über Dich sprechen wollte, aus Furcht vor Deiner Rache – denn Du hast Dich selbst zu der unantastbaren Figur im Haus stilisiert, zur Heiligen, zur launischen Königin, und mein Vater und ich mussten Dir dienen.

    Ich weiß nicht, warum Du so viel Hass auf Dein kleines Mädchen hattest, warum Du Dein einziges Kind nicht lieben konntest, sondern als Fußabtreter benutzt hast. Ich weiß nicht, warum Du nie das Funkeln in den Augen hattest, das andere Mütter hatten, wenn sie stolz von ihren Kindern erzählen, warum Du alles als eine Last empfunden hast, was mit Deiner Tochter zu tun hatte. Warum gab es mit Dir keine einzige nahe, gefühlswarme Mutter-Tochter-Situation in über 30 Jahren? Ich verstehe nicht, warum Du niemals ein emotionales Band zu mir geformt hast, warum Du unaufhörlich Terror verbreiten und mir Angst einjagen musstest durch Dein Verhalten, Deine Wutausbrüche. Ich weiß nicht, warum Du Deinen Alltag praktisch einzig um Dich selbst herum gestaltet hast, warum Du nie etwas Schönes mit Deiner Tochter unternommen hast, ihr nie die Angst vor Dir genommen hast. Vielleicht, weil Du krank warst.

    Du hattest absolut keine Geduld für mich, keine Liebe, keine Rücksicht. Ich war Dein Sündenbock, Dein „schwarz besetztes Kind."

    Und ja, Du hast es irgendwie auch absichtlich gemacht. Du warst nicht „überfordert" und wie andere gängige Ausreden heißen, Du warst erwachsen und Du hattest die Verantwortung, und Du hast Dir nie Hilfe gesucht für Deine Probleme, obwohl Du die Mittel dazu hattest. Statt Dich darum zu kümmern, dass Du seelisch gesund wirst, hast Du Deinen ganzen Ballast auf mich projiziert und mein junges Leben als die Leinwand missbraucht, die Du beschmieren und Dich dahinter verstecken kannst, damit niemand Deine eigenen Defizite sieht. Du warst Akademikerin und Du wusstest genau, dass Du Deinem Kind schadest, wenn Du es brutal schlägst, beschimpfst, bedrohst und ihm den Vater entfremdest. Ich habe das geile Glitzern in Deinen Augen gesehen, wenn Du mir wehgetan hast, die Lust, Deine Macht gegenüber einer viel Schwächeren auszukosten. Es war wie eine Sucht für Dich, mir wehzutun, ja, sogar Dritte gegen mich aufzuwiegeln. Du warst gefährlich für mich.

    Es ist bitter, wenn man als Einzelkind zeitlebens um die Liebe, ja sogar um die Aufmerksamkeit seiner Eltern kämpfen muss. Und es ist noch bitterer, wenn man diesen Kampf verliert, weil ein Elternteil pausenlos um sich selbst kreist und der andere um den, der um sich selbst kreist. Ich wurde in diesem Haushalt übersehen, weil Du rund um die Uhr zwanghaft im „Spotlight" stehen musstest. Und weißt Du was? Du kennst mich überhaupt nicht. Ich bin mir sicher, dass Du nicht drei Fragen über meine Person richtig beantworten könntest, weil es Dich nie interessiert hat, wer ich wirklich bin.

    Du hast niemals Verantwortung übernommen für all das, was Du angerichtet hast bei mir, meinem Vater und in unserem Umfeld, hast jederzeit mit dem Finger auf mich, Kind Sündenbock, gezeigt. Du hast Dich nie freiwillig therapieren lassen – erst, als Du auch andere Kinder misshandelt hast, wurdest Du von Amts wegen aus dem Verkehr gezogen. Da war meine Kindheit längst vorbei.

    Deine Krankheit war meine Kindheit.

    Lea

    1 Vgl. Lenz, Albert, Riskante Lebensbedingungen von Kindern psychisch und suchtkranker Eltern - Stärkung ihrer Resilienzressourcen durch Angebote der Jugendhilfe. Expertise zum 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 2009

    2 Christine Ann Lawson, Borderline-Mütter und ihre Kinder, deutsche Übersetzung: Gießen 2013

    I. An der Schwelle: Vision im Himmel

    Ich habe Angst. Todesangst. Schrecken, der mir den Atem nimmt, Schrecken, und der keine Worte findet, verrinnt ins Innere wie eine Blutspur von Grauen, namenlos, denn sprechen kann ich noch nicht, sagen, was mir geschieht, ist unmöglich. Ich bin anderthalb Jahre alt, es ist der zweite Winter meines Lebens, meines jungen Lebens. Mitten im Sommer geboren, war ich im ersten Winter sechs Monate alt, im zweiten ein und ein halbes Jahr, und ich bin mir recht sicher, dass es der zweite Winter war, den ich auf dieser Erde verbrachte und in dem die jähe Angst mich erstmals erfüllte wie ein implodierender Ball im Innern. Draußen ist es kalt, eisiger Schnee liegt ringsum wie eine tödliche Matte, eine Kälte, die mir in die noch weichen Knochen steigt, durchdringt mich. Ich kann noch nicht selbständig laufen, weil mein Körper mir noch nicht richtig gehorcht, und auch obwohl alles in mir schreit „weg von hier!", kann ich mich nicht vom Platz bewegen. Sie ist nicht da, hat mich alleingelassen, vergessen, sie ist irgendwo in dieser weißen unendlichen Kälte, schwirrt in ihrer aufgescheuchten Zerstreutheit irgendwo herum, und ich weiß: sie sieht mich nicht, sie hört mich nicht, sie kommt nicht, ich bin völlig allein. Ich sitze festgezurrt in einem Buggy mitten in der eisigen Kälte des Januars und trage ein gestricktes weißes Mützchen auf dem Kopf, weiß wie die Schneedecke ringsum, die glitzert und mich blendet mit ihrer Helle, so dass ich schmerzvoll die Augen zukneifen muss. Ich bin allein. Allein. Allein.

    Angst steigt in mir hoch, durchzieht meinen kleinen Körper, bis sie zum Kopf, oben, wieder austritt und mich mit einem Gefühl der Schwerelosigkeit erfüllt wie mit einem Betäubungsmittel, das mich bleischwer macht und meine Wahrnehmung verändert. Ich bin plötzlich außerhalb meines Körpers, draußen, oben.

    Von Oben herab sehe ich auf einmal den kleinen verlassenen Kinderkörper im Wagen mit dem weißen Mützchen auf dem dunklen Haar, und ringsum kein Mensch, nur Schnee und grellweiße Wege. Von Oben herab sehe ich mich und verhandle, erbittert, eindringlich, um mein Leben, verhandle, verhandle… Mit wem verhandelte ich eigentlich? Das habe ich mich später natürlich oft gefragt, ohne eine Antwort zu finden. Diese Erinnerung ist so real, sie ist eingebrannt in mein Gedächtnis wie eine tiefe Frostwunde, die nie mehr heilt.

    Ich bin kein religiöser Mensch, aber vielleicht – nur vielleicht – verhandelte ich in diesem Moment mit den Engeln. Ich hatte Angst vor meinem Leben und bat mit aller Kraft, die mir zur Verfügung stand, wieder zurückgehen zu dürfen in den Himmel. Ohne es beschreiben zu können, wie, wusste ich genau, was mir bevorstand, ahnte mein Leben, ohne es zu sehen – es war keine kaleidoskopartige Schau von konkreten Ereignissen und kein chronologisch richtiger Lebensfilm, wie ihn die Sterbenden angeblich sehen, es war mehr ein unnennbares Gefühl, alle Zeiten zugleich zu erleben, also auch alles im Voraus zu wissen, was noch kommen sollte in dieser Existenz, und eine namenlose Angst davor zu haben. Ich wollte nicht dortbleiben, wo sie mich hingestellt hatte und meinem Schicksal überließ, wollte nicht zurück in meinen kleinen frierenden Kinderkörper, der noch zu schwach war, um davonzurennen. Irgendwann, nach einer langen Verhandlung im Himmel, sehe ich mich nicht mehr von außen und Oben, denn plötzlich, ohne wirklich zu wissen wie, bin ich wieder in meinem schwachen Körper, balle die kleinen kalten Fäuste, bin endlich wieder richtig „da". Ich bin beruhigt worden, dort Oben, dass ich dieses Leben überstehe, habe etwas Zuversicht getrunken wie eine Woge warmen Wassers, welche die Eiseskälte in mir fast vertreibt, mir die wohlige Gewissheit einflößt, dass ich groß werden kann, lernen, leben, überleben, überleben lernen.

    Irgendwann dann taucht sie wieder auf, wild zerstreut, fahrig, hysterisch, wie immer nur mit sich selbst beschäftigt, mich in meinem Wagen anstoßend und grob verfrachtend wie ein Paketstück, wie ein Objekt. Irgendwie komme ich aus der Kälte plötzlich zurück in ein Haus, in dem die Fremde herrscht… ich habe tatsächlich überlebt, nachdem mir der Lebenswille dort, wo es schön und schmerzfrei ist, wiedergegeben worden ist.

    Ein kleines Stück der durchdringend scharfen Kälte dieses Tages mit dem blendend glitzernden Schnee ist jedoch für immer in mir geblieben, wie ein verhärteter Kristall des Schmerzes in meinem Auge, meinem Herz.

    II. Eintritt ins Horrorhaus: Frühe Kindheit

    „Denn die Kindheit ist der Quellenfinder der Trübsal…"

    Walter Benjamin

    Es fing an mit Grauen, Grauen war das Urmotiv. Meine frühesten Erinnerungen an sie sind ein willkürlich Grimassen schneidendes, hektisch mit den Händen fuchtelndes, schwankendes und schreiendes Monster, das mir eine Himmelangst einjagte. Angst, Kälte, nicht wissen, was das ist. Es war der gewaltsame Riss im Bild meiner Kindheit, das niemandem mitteilbare Verbrechen meiner ersten Fühlung mit der Welt, der lastende Alpdruck – unfassbar, verstörend, aber auch unausweichlich real. Ein Verbrechen war es, weil es die Ordnung der Dinge total sprengte, weil es immer wieder, in abrupten Abständen, die unvorhersehbar und zerstörerisch waren wie ein Erdbeben und die ich maßlos fürchtete, mein Leben gewalttätig durcheinanderwirbelte und nichts zurückließ als den namenlosen Schrecken eines Kindes und das um sich greifende Wahn-Gespenst einer Erwachsenen, die sich schwer lastend auslebte wie eine Naturgewalt.

    Ich war zwei Jahre alt und lebte zeitweise im Haus meiner Pflegeeltern auf dem Lande, wo ich fern von ihr war, und mich deshalb sicher fühlte. Meine Pflegeeltern waren liebe, ältere Leute, entfernte Verwandte meines Vaters, die rund zwanzig Jahre älter waren als er: Tante Ingrid und Onkel Ferdinand. Sie war eine dicke und sehr gemütliche Frau mit Goldzähnen und hochtoupierten Haaren, die immer dabei war, irgendwas zu essen zu besorgen oder zu kochen, und er war ein immer sehr laut sprechender, hünenhafter Mann, der mich gern auf seinen Schultern trug. Manchmal spielte er mit mir, setzte mich auf seine Knie und sang:

    „Hoppe, hoppe, Reiter,

    wenn er fällt, dann schreit er"

    Ich fiel aber nicht. Nie. Fühlte mich geborgen bei diesem Hünen von Mann und der runden Frau, in diesem warmen und dämmrigen, immer nach Essen riechendem Haus. Die Zeit verging wie im Traum, wenn ich bei ihnen war; ich fühlte mich geborgen und bewegte mich wie eine Entdeckerin zwischen dem Sofa, massiven Holztischen und bizarren Bodenvasen, in denen hohe Schilfgräser steckten. Das Einzige, was mich in diesen glücklichen Tagen ängstigte, war die Decke: Onkel Ferdinand hielt mich manchmal so hoch, dass ich mit den Händen an die Decke greifen konnte und mir vorkam, als ob das Zimmer unter mir verschwamm. Dann lachte er, und ich lachte nach einem ersten Schreck mit, denn ich hatte unendliches Vertrauen zu diesem großen Mann, der mit mir so spielerisch umgehen konnte. Zwar wusste ich insgeheim, dass Onkel Ferdinand und Tante Ingrid nicht meine leiblichen Eltern waren und ich immer nur auf Zeit dort war, doch ich fühlte mich wohl in ihrer Gegenwart, und genoss ihr friedliches Zuhause und ihre Familie, in der es noch drei Teenager-Jungs gab, die ich aber nur sehr selten sah, weil sie morgens in der Schule und nachmittags mit dem Moped unterwegs waren.

    Tante Ingrid und Onkel Ferdinand hatten Glück: sie besaßen ein kleines Haus auf dem Land, einen großen Obstgarten mit Kirschbäumen und Stachelbeeren, einen Teich mit Forellen im Garten – eine Idylle, die für mich ein verzaubertes Land war. Die Stachelbeeren hatten einen Pelz wie Tiere, und ich ging morgens zur Hecke und kniete mich ins Gras, um sie zu streicheln. Warteten sie schon auf mich? Die Kirschen waren rot oder gelb, und ich dachte, die Kronen wüchsen in den Himmel. Warum gab es rote und gelbe Kirschen? Rätsel! Tante Ingrid und ihr kleiner Hund Bodo begleiteten mich, wenn ich die Stufen zum Garten hinuntertrippelte. Konnte der Hund nur das Deutsch verstehen, das Tanze Ingrid sprach? Mich verstand er nicht. Schmetterlinge schaukelten über den violetten Blütenkugeln von blühendem Schnittlauch – irgendwo flatterte weiße Wäsche an einer Leine im Sommerwind, hoch aufgehängt, viel zu hoch für meine Kinderhände. Stimmen, Gerüche, Farben sagten mir: es ist gut, hier zu sein, du bist in Sicherheit, und doch gibt es viel zu entdecken. Aber diese ländliche Idylle, die fast zu schön schien, um wahr zu sein, wurde oft jäh getrübt, wenn sie vorbeikam, wie ein grell zuckender Blitz im Paradies – und dann war schlagartig alles vorbei.

    Von Zeit zu Zeit kam plötzlich eine böse Person zur Tür hereingestürmt, hielt sich wie schwankend im Türrahmen fest, grimassierte und kreischte oder weinte, ohne dass es einen Grund gab. Sie hatte ein widerliches, verquollenes rotes Gesicht und eckige angsteinflößende Bewegungen, und wenn sie abrupt ins Wohnzimmer kam, war der ganze Raum atmosphärisch vollgepackt mit ihrem Wahn, ihrer Bosheit, ihrer Übergriffigkeit. Sie feixte und weinte ohne erkennbaren Grund, lallte dummes Zeug – sogar ich als Kleinkind verstand, dass es dumm war – kurz, sie war völlig unbeherrscht, unkontrolliert und ich hatte unendliche, mich verzehrende Angst vor ihr, fühlte mich bedrängt, brüsk aus der Sicherheitszone gebracht. Einmal presste sie mich so an sich, dass ich kaum Luft holen konnte, und als ich mich aus ihrem Gewaltgriff herauswinden wollte, plärrte sie protestierend auf: „Es ist gar nicht mein Kind! „Es war ich, Neutrum, Objekt. Warum sprach diese Eindringlingin so von mir? Ich war stolz. Ich wollte mich nicht umarmen lassen von einer Person, die mich schlug, denn damals schon hatte ich Gewalterfahrungen mit ihr. Mir dämmerte: entweder bekam ich Gewalt und Erstick-Umarmungen, oder nur Gewalt. Ich wählte, nur Gewalt zu bekommen, und entzog mich wenigstens ihren verhassten Umarmungen. Für einen kurzen Moment war mir klar, dass ich noch mehr Kälte wählte. Ich wollte, dass sie weg ist. Wenn sie endlich verschwand, atmete ich auf und meine Welt war wieder in Ordnung – jedoch nur bis zur nächsten Attacke, von der ich nie wissen konnte, wann sie wieder über mich hereinbrach. Sie machte mir unendliche Angst. Ich verstand nicht, weshalb meine lieben Pflegeeltern mich diesen Überfällen auslieferten, warum sie es zuließen, dass diese Verrückte mich angriff, denn dass sie irgendwie verrückt war, spürte ich. Es gab etwas so Selbstfixiertes an ihr, in ihr, dass es mich schauderte, wenn sie in der Nähe, ich war mir bewusst, dass ich für sie gar nicht zählte, dass überhaupt nichts für sie zählte als ein Wahn, der ihren Körper beherrschte, ihren Blick starr machte und all ihre abrupten Handlungen diktierte. Die Fremde sah durch mich hindurch, irgendwohin in weiter Ferne, wo nur sie sich auskannte. Sie griff mich fest an und packte mir die Krallen ins Fleisch, wie ein Raubvogel, wie eine Maschine. Es gab keine Verbindung zwischen ihr und mir, kein natürliches Band, das man hätte „mütterlich" nennen können. Die Fremde hätte mich skrupellos geopfert und sich selbst dafür bedauert, mich verschlungen und über ihr Bauchweh geklagt. Ihr Herz war eiskalt. Sie war böse – so sehr, wie das Böse für mich Gestalt haben konnte, sie war der Inbegriff des Abgrunds, das alles mitreißt. Tatsächlich riss sie alles an sich, was sie erreichen konnte, wie ein vernichtender Strudel, ein Maelstrom der Grausamkeit, der alles in die Tiefe zieht und vielleicht irgendwann zerfetzt wieder ausspuckt.

    Sie mutete sich einfach zu, penetrant und rücksichtslos, und ich hatte solche Angst vor dieser schreienden und feixenden Gestalt, versteckte mich ängstlich hinter meiner Pflegemutter und wollte, dass die böse Hexe weggeht. Tante Ingrid schaute dann oft milde auf meinen dunklen Kinderkopf, streichelte mich und beschwichtigte mich mit den Worten: "Lea, du musst keine Angst haben, sag doch mal was, das ist doch deine Mutter."

    Eine Borderline-Mutter leidet, klinisch gesehen, an einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung. Der ICD-10, die internationale Klassifizierung von seelischen Störungen mit Krankheitswert, benennt folgende Symptome von Borderline: eine Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit, impulsives Verhalten zu kontrollieren, eine Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und Aggressionen und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden, unbeständige Beziehungen und manchmal auch eine Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen.

    Es mag sein, dass ich als Kleinkind eine andere, feinere und intuitivere Wahrnehmung von dieser Frau hatte als irgendwann später. Ich nahm Menschen noch ohne die Filter der rationalen Beurteilung und der Analyse wahr, erspürte ohne Worte mehr, als ich wissen konnte – und das, was ich bei ihr erspürte, erfüllte mich mit namenloser Angst, einer Angst, die absolut berechtigt war, wie die folgenden Jahre zeigen sollten.

    Die Borderline-Hexe

    „Psycho killer – qu´est-ce que c´est?"

    (Was ist ein Psycho Killer?)

    Talking Heads, „Psycho killer"

    Für mich war diese schwankende Ruine keine Mutter. Sie hatte nichts Mütterliches in ihrem Wesen, in keiner geltenden Definition von „Mütterlichkeit" in den Kulturen der Welt passte sie dazu, sie war vielmehr das genaue Gegenteil. Sie war ein Wrack und mutete sich nur zu, immer wieder, auf Kosten anderer. Sie kam nicht etwa zu meinen Pflegeeltern, um mir etwas zu geben, um eine Beziehung zu mir aufzubauen und mich zu versichern im Sein, sondern vielmehr um sich selbst etwas zu nehmen, ja: um alles brutal an sich zu saugen wie ein überdimensionierter menschlicher Staubsauger, in dessen nimmersatten Schlund das ganze Wohnzimmer, Onkel und Tante und ich verschwand, während ich mich verzweifelt wehrte, mit hineingezogen zu werden. Sie brach nur deshalb ein in unsere Häuslichkeit, um sich selbst penetrant in den Mittelpunkt

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