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Dream On China: Auf einem Klapprad dem chinesischen Traum auf der Spur
Dream On China: Auf einem Klapprad dem chinesischen Traum auf der Spur
Dream On China: Auf einem Klapprad dem chinesischen Traum auf der Spur
eBook263 Seiten3 Stunden

Dream On China: Auf einem Klapprad dem chinesischen Traum auf der Spur

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Über dieses E-Book

Ein Klapprad. Ein Traum. 5800 Kilometer.

Die kommunistische Partei hat den chinesischen Traum ausgerufen, aber nur wenige können eine greifbare Antwort geben, was sich dahinter verbirgt. Jörg Höfer, Sinologiestudent, begibt sich auf eine verrückte Radreise quer durch die Volksrepublik, um zu verstehen, wovon der Otto-Normal-Chinese träumt. Auf einem Klapprad besucht er Schnaps trinkende Burjaten in der Inneren Mongolei, Taiji-Lehrer nahe des Shaolin Klosters und Kioskbesitzer auf der Insel Hainan, die aus dem Nähkästchen plaudern, was sie sich wirklich wünschen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum26. Jan. 2024
ISBN9783758352218
Dream On China: Auf einem Klapprad dem chinesischen Traum auf der Spur
Autor

Jörg Höfer

Jörg Höfer, Jahrgang 1989, ist ursprünglich Wirtschaftswissenschaftler aus Berlin, den es bereits seit 2011 für Auslandssemester und Praktika regelmäßig nach China zieht. Von 2015-2017 studierte er an einer chinesischen Eliteuniversität Chinawissenschaften. Fließende Chinesischkenntnisse zusammen mit einem Hang zu ungewöhnlichen Reisen führten ihn bereits vor Jahren per Anhalter, Bus und Bummelzug durchs Perlflussdelta, die tibetischen Grenzgebiete sowie die Taklamakan Wüste in Xinjiang. In seinem ersten Reisebericht verbindet er die Erkenntnisse zur Bedeutung des chinesischen Traums mit Anekdoten einer abgefahrenen Klappradreise durch die Volksrepublik China.

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    Buchvorschau

    Dream On China - Jörg Höfer

    Für alle Träumer

    Inhalt

    Erlaubnis von ganz oben

    Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

    Russisches Mah-Jongg

    Die guten Seelen des Nordpols

    Ein Russe auf ’nem Fahrrad

    Fleischkuchen vom Himmel

    Der Lingdao von Alongshan

    In Hirseschnaps veritas

    Herzen aus Feuer und Eis

    Die letzten Nomaden

    Unsere kleine (kommunistische) Farm

    Mischen possible

    Boxenstopp bei Burjaten

    Die Bruderschaft von Ulanhot

    Der letzte Drachenkaiser

    Gebrochene Herzen

    Lost

    Aufgerüttelt

    Klee im Handgepäck

    Verfluchte Früchte

    Nebel der Erleuchtung

    Kung-Fu & Hustle

    Die Kraft der roten Scheine

    Der zänkische Bruder

    Cash Crops

    Land unter

    Ama(o)zing Hunan

    Streik im Paradies

    The Legend of Zelda

    Hi-Tiger

    Ein Hauch von Heimweh

    Ausgeträumt

    Schlusswort

    Danksagung

    Erlaubnis von ganz oben

    Zhejiang Universität

    »Eine großartige Idee«, triumphiert Studienleiter Professor Wang in seinem Büro, als ich ihm das Thema meiner Masterarbeit vorstelle. Ich bin hier, um mir seinen Segen für ein Projekt zu holen, das in drei Wochen starten soll. Denn den Campus für mehrere Wochen ohne Genehmigung zu verlassen, ist gegen die chinesische Universitätsordnung. Diese habe ich wie jeder Student zu Anfang des Studiums unterschrieben.

    Gespannt lauscht er meiner Idee, unserem Studiengang der Chinastudien durch eine Feldstudie mit dem Namen ›Der chinesische Traum der Otto Normalchinesen‹ mehr Praxisbezug zu verleihen. Vielleicht sieht er in diesem Moment schon die erste Schlagzeile vor sich ›Sinologiestudent erforscht den chinesischen Traum der Bevölkerung‹ und rechnet sich insgeheim den Imagegewinn für den Studiengang aus. Im Rahmen des Studiengangs sei es »von großem Wert, Erfahrungen aus erster Hand zu sammeln.«

    »Wie bist du darauf gekommen?«, fragt er neugierig.

    Das wäre der Moment, in dem ich Professor Wang die ganze Geschichte unseres vorangegangenen Radausfluges zum Qiandao-See, den See der tausend Inseln, erzählen könnte.

    Es war Spätherbst. In einer Nebenstraße hinter dem Universitätskrankenhaus mieteten Freunde und ich ein paar klapprige Mountainbikes für eine Handvoll Euro. Gemeinsam wollten wir den See mit dem Rad erkunden. Vom Fahrgefühl her zu urteilen, waren die Drahtesel schon zum Potala-Palast in Tibet und zurück gefahren worden. 130 Kilometer und gemeine Knieschmerzen später düste ein drahtiger Radler mit uns eine Anhöhe hinauf. Auf einem Klapprad. Ich muss geschaut haben wie manche Dorfbewohner, die zum ersten Mal einen Ausländer Chinesisch sprechen hören.

    Am höchsten Punkt angekommen baten wir ihn, für einen kurzen Plausch stehen zu bleiben. Als wir auf sein Rad zu sprechen kommen, berichtet der chinesische Lance Armstrong stolz, dass er bereits über 3500 Kilometer auf diesem Kinderfahrrad zurückgelegt habe. Tibet im Herbst könne er nur empfehlen. Sprachlos schaute ich ihm zu, wie er mit einem Winken davonradelte.

    »Ich brauch auch so eine Zwergentretmühle!«, verkündete ich meinen deutschen Kommilitonen. »Und dann fahre ich einmal durch ganz China.« Triumphierend streckte ich die Faust in die Luft und schaute dem Horizont mit glitzernden Augen einer Donghua-Figur, dem chinesischen Anime, entgegen. Vermutlich dachten die anderen, ich hätte den Verstand verloren. Aber wenige Wochen später und um das gesamte Monatsstipendium von vierhundert Euro leichter, war ich stolzer Besitzer eines Klapprades. Auf achtzehn Zoll und mattschwarzem Aluminiumrahmen wollte ich mir nun meinen persönlichen chinesischen Traum erfüllen.

    All das hätte ich Professor Wang erzählen können. Aber mit Rücksicht auf seine wertvolle Zeit erspare ich ihm all diese Nebensächlichkeiten und mir unangenehme Rückfragen zu eigenmächtigen Radausflügen in andere Provinzen. Ich setze also erst bei den letzten Worten ein, dem chinesischen Traum. Ich rezitiere den ersten Absatz meines Research Proposals: »Der chinesische Traum ist das Schlagwort der Regierung unter Präsident Xi Jinping. Das unterstreichen die mit Plakaten vollgepflasterten Straßenzüge, Bauzäune und öffentlichen Plätze.

    Tradition und Moderne vereinende Poster, die den Slogan ›Chinesischer Traum - Mein Traum‹ ausrufen. Mir drängt sich während der Studienzeit im Reich der Mitte wiederholt die Frage auf, wie die Einwohner Chinas zu dem Slogan stehen. Auf diese Fragen möchte ich in meiner Abschlussarbeit Antworten suchen. In einem Land, das sich in der Entwicklung zur mächtigsten Industrienation der Welt befindet. Wo unterscheiden sich die Denkweisen zwischen den Jungen und Alten, den Reichen und Armen. Ich will dem chinesischen Traum auf die Spur gehen!«

    Mein glühender Enthusiasmus schleudert mich fast vom Stuhl. Und auch Professor Wang schaut vergnügt drein. Wie eine chinesische Glückskatze grinse ich ihn an und wedle mit dem Pfötchen, so als würde ich das kleine Detail, dass ich auf einem Klapprad ganz China durchqueren werde, einfach wegwinken. Anscheinend möchte Professor Wang zur genauen Durchführung nicht weiter informiert werden, weswegen er auch keine expliziten Nachfragen stellt, wie sonst für ihn üblich. Wir malen uns die potenziellen Erkenntnisse sowie den Imagegewinn für den Studiengang aus, statt durch die Thematisierung möglicher Gefahren im Straßenverkehr das junge Projekt, oder besser gesagt den Projektleiter, zu Fall zu bringen.

    Am Ende unseres Gesprächs erteilt mir Professor Wang durch ein kurzes »Hao De« seine Genehmigung. Als ich sein Büro verlasse, tätschelt er zum Abschied meine Schulter und bekräftigt mich nochmal in meinem Vorhaben. Auch Professor Wang sieht selbstzufrieden aus. Schließlich ist es ab diesem Zeitpunkt auch sein Projekt.

    Es fährt ein Zug nach Nirgendwo

    Hangzhou

    Bumm! Bumm! Bumm! Ein heftiges Poltern reißt mich aus dem Schlaf. Ich torkle zur Tür. Es sind Mia und Helen, meine chinesischen Kommilitoninnen.

    »Musst du nicht bald los? Es ist fast Mittag! Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt früh schlafen gehen«, sagt Helen in mahnendem Tonfall. Sie und Mia hasten ins Zimmer. Julian liegt regungslos auf dem Bett gegenüber von meinem. Mein Kopf brummt. Er erinnert mich an die gestrige Abschiedsfeier im Kreise meiner Freunde von der Zhejiang-Universität.

    Ein entspanntes Abschiedsessen im schicken Restaurant, so hat der Abend begonnen. Mit einem Gelage in einer Karaokebar mit rassigen Italienern, trinkfesten Chinesen und Koreanern sowie grölenden Deutschen, hat er geendet. Wir ertränkten die Trauer über den bevorstehenden Abschied in Reisschnaps und Bier. Das Feiern, als ob es kein Wiedersehen gäbe, war durchaus berechtigt, denn bei meiner Rückkehr wird ein Großteil meiner Kommilitonen schon wieder nach Hause zurückgekehrt sein. Bis morgens um vier schmetterte die Boyband bestehend aus Julian, Krischan und Rico »It’s my life« ins Mikrofon, dann wollte die Karaokebar schließen. Im Morgengrauen schleppten wir uns torkelnd an den Garküchen vorbei, in deren Bambuskörben bereits die ersten Baozi vor sich hin dampften, gefüllte Hefebrötchen mit Fleisch, Tofu oder Chinakohl. Die ersten Frühaufsteher kamen uns in rosa Plüschschlafanzügen entgegen, während wir zurück zum Wohnheim wankten, um unseren Rausch auszuschlafen.

    Mit nervösen Blicken schauen Helen und Mia abwechselnd auf mich und die überall im Raum verstreute Ausrüstung.

    »Wie willst du den ganzen Kram mitschleppen und was ist das überhaupt?«, seufzt Mia und lässt einen Speichenspanner vor meiner Nase herumbaumeln.

    »Komm jetzt, ich helfe dir und begleite dich zum Bahnhof«, beschließt Helen. »Allein kommst du hier wahrscheinlich nie fort und verpasst den Zug. Los, pack zusammen!«, sagt sie im Tonfall einer besorgten Mutter und beginnt, die im Raum verstreuten Dinge in die Satteltasche zu packen.

    »Hey Mann, lass uns vorher aber was essen gehen«, krächzt Julian heiser vom Bett gegenüber.

    Ich schiebe das Fahrrad aus dem Studentenwohnheim und spüre zum ersten Mal das volle Gewicht der Ausrüstung. Das wenigste davon sind Klamotten. Den Löwenanteil meines Gepäcks machen neben Zelt und Schlafsack diverse Kameras, externe Festplatten und das Reparatur-Equipment fürs Rad aus. Ich fühle mich wie ein voll ausgestatteter Gemischtwarenhändler – ein trauriger. Denn als ich mir meine Fake-Adidas-Jacke überstreife, kullern aus Mias dunklen Knopfaugen die ersten Tränen.

    Die Zeit reicht nur für ein hastiges Frühstück in der Mensa. Mittlerweile weint Mia, als wäre ich schon jetzt von einem der Millionen Lastwagen auf Chinas Straßen überrollt worden.

    »Du musst den Ring ins Feuer werfen! Hier, nun nimm das Lembasbrot und geh endlich!«, scherzt Julian, reicht mir eine Packung trockener Kekse und versucht, damit die Stimmung aufzulockern. Ohne Erfolg.

    Vor der Mensa fährt das bestellte Taxi ein. »Mach’s gut, Sam«, sage ich und umarme meinen guten Freund. Die immer lauter schluchzende Mia schließe ich zum Abschied fest in die Arme. Es ist eine Geste, die wie Händchenhalten oder andere Formen des körperlichen Kontakts in der Öffentlichkeit Chinas lange als verpönt galt. Anscheinend geht man erst seit wenigen Jahrzehnten deutlich offener mit Gefühlsbekundungen um. Mia und ich lösen uns aus der Umarmung, und ich steige zusammen mit Helen ins Taxi.

    Im Auto überreicht mir Helen einen roten Plastikbeutel und einen Brief. »Vielleicht kannst du das auf deiner Reise gebrauchen. Aber erst im Zug öffnen, okay?« Aus Sorge, mir könnte etwas passieren, haben sie und Mia eine Reiseversicherung für mich abgeschlossen. Helens Stimme wird zittrig. Dann laufen auch ihr große Tränen über die Wangen. Auch ich werde von meinen Gefühlen überwältigt. Gerade noch rechtzeitig bitte ich den Taxifahrer, anzuhalten. Ich stürze aus dem Wagen, um mich in eine Hecke zu übergeben. Eine seltsame Abschiedsgeste dieses Deutschen, denkt sich Helen jetzt bestimmt. Alle weinen um den Abenteurer in spe, während jener seinem Abschiedsschmerz durch Erbrechen Ausdruck verleiht. Doch der Abschied von meinen Freunden und die bevorstehende Herausforderung, einmal quer durch China zu radeln, bereitet mir tatsächlich ein flaues Gefühl im Bauch. Aufregung schlägt bei mir eben auf den Magen. Der Reisschnaps tut sein Übriges. Um 13:22 Uhr erreichen wir den Bahnhof. Gerade noch rechtzeitig.

    »Fahrräder sind in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht gestattet«, sagt der Sicherheitsmitarbeiter und zeigt auf eine Tafel neben dem Gepäckscanner. Messer, Schusswaffen, Tiere – alles durchgestrichen. »So lautet die Regel. Mei banfa – nichts zu machen«, fügt er gleichgültig hinzu. Seltsam, ich kann mich noch lebhaft an so manche Busfahrt durch Zentralchina mit quakenden Enten und gackernden Hühnern erinnern. Sogar meckernde Ziegen waren an Bord gewesen. Anscheinend müssen nun auch Drahtesel draußen bleiben. Kopfschüttelnd packe ich das Rad vor seinen Augen in eine übergroße blau-rotweiß karierte Plastiktüte, die mir Helen in einem Kiosk besorgt hat. Ohne weitere Beanstandung lässt mich der Roboter aus Fleisch und Blut nun passieren. Das Rad gilt jetzt als Gepäck. In China ist alles machbar, man muss nur wissen, wie.

    »Pass auf dich auf, Bruder Jörg«, flüstert mir Helen während einer letzten Umarmung ins Ohr, bevor ich in Wagen 4 des Bummelzugs Nummer Z176 nach Harbin steige. Der Zug nimmt gemächlich Fahrt auf, während ich bepackt wie ein chinesischer Wanderarbeiter zum Frühlingsfest die Satteltasche, meinen Rucksack und die blau-rot-weiß karierte Plastiktüte durch den Waggon zu meinem Platz im Schlafabteil schleife. Meinen Kram stopfe ich unter die Pritsche des Schlafabteils. Dann setzte ich mich auf einen der zwei Klappstühle am Fenster und atme tief durch. Fast hätte ich den Zug in den Norden verpasst. Nun habe ich endlich Zeit, mich von der Hektik des heutigen Morgens zu erholen.

    Es sind sechsundzwanzig Stunden Fahrt in Richtung Norden nach Harbin, danach muss ich umsteigen und mit einem anderen Zug weitere achtzehn Stunden bis an die Grenze Russlands fahren. Durch das Zugfenster sehe ich die Häuser Hangzhous immer schneller vorbeiziehen. In Gedanken an das vergangene halbe Jahr blicke ich auf die Zehn-Millionen-Einwohner-Stadt, die mit dem Schnellzug knapp eine Stunde von Shanghai entfernt ist. Die Stadt, die Marco Polo einst als »die schönste Stadt der Welt« bezeichnete, ist auch aus wirtschaftlicher Sicht eine Augenweide. Alibaba, der chinesische Internetgigant, hat nicht weit von unserem Campus seinen Hauptsitz, der sich hinter den Firmenzentralen amerikanischer Softwareunternehmen nicht verstecken muss. Ich denke an den Westsee mit den von Weiden gesäumten Uferpromenaden, den Teebergen von Longjing und den Pagoden, die über der Stadt thronen. Ich schaue auf die Abschiedsgrüße meiner Kommilitonen im Notizbuch, dessen Einband ein Panda mit Augenklappe schmückt. Hangzhou wird mir fehlen.

    »Was ist in dem großen Beutel?«, werde ich aus meinen Gedanken geholt. Ein Mann in den Fünfzigern, der schräg gegenüber von mir auf der unteren Pritsche sitzt, schaut mich neugierig an. Er muss mich schon beim Einsteigen gesehen haben.

    »Mein Fahrrad. Ich fahre in den Norden, nach Harbin.« Auf dem Gesicht des Mannes erscheint ein breites Grinsen. Wie sich herausstellt, kommt er aus Harbin und ist erheitert über den Enthusiasmus in meiner Stimme. Voller Eifer beginnt er, mir von den fruchtbaren Schwarzerdeböden zu erzählen, die es nur im Nordosten gebe. Wenn Chinesen vom ›Nordosten‹ sprechen, dann meinen sie die drei Provinzen Heilongjiang, Jilin und Liaoning. Jener Teil Chinas sei unterentwickelt, erzählt mir der Mann. Während die ortsansässigen Arbeiter diese Provinzen verlassen, kommen andere aus den benachbarten Provinzen, z. B. aus der Industrieprovinz Shandong, um mit verschiedenen Geschäften ihr Glück zu versuchen.

    »Die einen kommen, die anderen gehen. Um ehrlich zu sein, wollen die meisten aber lieber gehen, vor allem die jungen Leute.«

    Dieser Auffassung scheint auch der junge Kerl auf der Pritsche neben uns zu sein, der unserem Gespräch interessiert lauscht und die Äußerung des älteren Mannes mit einem Nicken quittiert. Er steht auf und schlendert mit einem roten XXL-Becher Instantnudeln der Firma Meister Kang zum Ende des Wagens, um ihn mit heißem Wasser aufzufüllen. Instantnudeln in allen Geschmacksrichtungen sind einfach der Renner in China. Ich kann mich an keine Zugfahrt erinnern, in der im Waggon nicht der Geruch von fleischiger Würzpaste waberte. Nach seiner Rückkehr setzt er sich mit der dampfenden Brühe auf den freien Klappstuhl vor mir.

    »Mein Name ist Li Cheng aus Qiqihar in der Provinz Heilongjiang. Schön, dich kennenzulernen.« Mit seinem markanten Kinn und den breiten Augenbrauen erinnert er mich an den NBA Basketballspieler Yao Ming, einer der bekanntesten Sportler Chinas. Als gebürtiger Nordchinese ist er groß gewachsen und muskulös. Bei einem Land, das im Norden an Russland und im Süden an Myanmar und Vietnam grenzt, wäre es engstirnig zu glauben, dass alle Chinesen gleich aussähen, auch wenn gern von ›dem‹ Chinesen gesprochen wird. Ich mit meinen knapp 1,70 m bediene auch nicht das Stereotyp des großgewachsenen Deutschen. Li Cheng ist gerade von seinem Auslandsstudium aus London zurückgekehrt und befindet sich auf dem Weg zurück zu seiner Familie in Qiqihar.

    Bei einer Zugfahrt von über zwanzig Stunden kommt man auf so einiges zu sprechen. Meiner deutschen Herkunft geschuldet sind das stets Gesprächsthemen wie Fußball, Bier und Automarken. Darauf folgen meist detaillierte Fragen zu Familienplanung, Ausbildung und Einkommensverhältnissen. Im Grunde habe ich mich seit meinem ersten Aufenthalt in China darauf eingestellt, mehr oder weniger dieselben Fragen immer wieder zu beantworten. Mittlerweile habe ich mir schon eine Art Antwortkatalog zurechtgelegt. Wenn die Qualität deutscher Markenprodukte und die Zeit des Dritten Reiches in denselben Instantnudeltopf der Beweihräucherung geworfen werden, verlangt es mir Geduld ab, das Gespräch in eine geordnete Bahn zu lenken, ohne dabei die chinesischen Gesprächspartner zu belehren. Doch das Spielchen lässt sich auch umdrehen. Auch wir, die Langnasen, strapazieren gern die Nerven unseres chinesischen Gegenübers mit sensiblen Themen wie Tibet, Taiwan oder Tigerpenissen. Und so lenke ich unsere Konversation auf das Thema meiner anstehenden Arbeit, den chinesischen Traum. Fluchtversuche sind zwecklos.

    Doch Li Cheng teilt seine Ansichten gern mit mir. Vielleicht liegt das daran, dass wir Englisch miteinander sprechen, was niemand anderes im Zug versteht. Das heißt auch, dass er sich keine Gedanken machen muss, sich für seine Ansichten gegenüber anderen Fahrgästen rechtfertigen zu müssen. Er ist kein Mitglied der Kommunistischen Partei und nicht im Geringsten an Politik interessiert, erzählt er mir.

    »Ich habe mich damals nur bei der Kommunistischen Partei beworben, weil meine Eltern das für eine gute Idee hielten. Wenn man sich dort engagiert, hat man später schon einige Vorteile.« Aber für Li Cheng war das nicht das Richtige und er ist froh, dass er nicht aufgenommen wurde.

    »Ich kann da nicht viel ausrichten. Nur die Parteiführung entscheidet.« Das ist ja ein toller Start für meine Recherche. Wenn alle so antworten, muss ich meine Arbeit wohl doch über ein weniger brisantes Thema schreiben.

    »Hast du vom chinesischen Traum gehört?« Nun lacht Li Cheng herzlich auf. »Zhongguo Meng – der chinesische Traum«, sagt er mit einem süffisanten Grinsen. »Für mich ist das nur so ein Slogan. Jeder Präsident hat seinen eigenen. Der eine hat die ›Drei Repräsentanten‹, der andere die ›Harmonische Gesellschaft‹, und nun gibt es eben den ›Chinesischen Traum‹, was auch immer dahintersteckt.« Damit bezieht er

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