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Der Schreiberling
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eBook890 Seiten12 Stunden

Der Schreiberling

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Über dieses E-Book

Nach seinem Sturz in ein Energiefeld findet sich der Cowboy im Wilden Westen wieder. Sein Traum vom Leben eines richtigen Westmanns scheint in Erfüllung zu gehen. Doch höhere Mächte wollen, dass er in gefährliche Abenteuer verwickelt wird. Und auch Hekate, die Göttin der Wegkreuzungen, hat noch eine Rechnung mit ihm offen.

Gleichzeitig strandet Jakob Großmüller in einer Welt, die der seinen sehr ähnlich ist. Allerdings muss er erkennen, dass auch diese Welt dazu verurteilt ist, unterzugehen. Ist Jakob dem Tode geweiht? Oder wird ihn auch diesmal der Primus beschützen?
SpracheDeutsch
HerausgeberAtlantis Verlag
Erscheinungsdatum9. Dez. 2023
ISBN9783864029103
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    Buchvorschau

    Der Schreiberling - Patrick J. Grieser

    1

    Aus der Ferne machte Cheops einen stattlichen Eindruck. Die meisten Gebäude waren aus Stein gemauert oder mit getrockneten Lehmziegeln errichtet worden. Es gab Arkaden, auf denen man mit der Dame seines Herzens flanieren konnte. Die alte Mission mit dem Glockenturm hatte erst vor Kurzem einen neuen Anstrich erhalten. Am Stadtrand erhoben sich mehrere Wassertürme, die im Sonnenuntergang wie schlafende Riesen aussahen.

    In Cheops waren die Dürreperioden im Sommer ausgesprochen lang, sodass die Menschen mit dem Trinkwasser haushalten mussten. Doch die Einwohner waren an die harten Zeiten gewöhnt. Im Winter wurden sie von heftigen Blizzards geplagt und im sogenannten Tornado Alley wüteten oft sehr starke Tornados. Hinter der Stadt erstreckte sich die endlose Prärie, in den letzten Sonnenstrahlen ein rot gefärbtes Tuch, besprenkelt mit Farmen und Ranchen.

    Obwohl Kansas relativ flach war, gab es im östlichen Teil ausgeprägte Hügel- und Waldlandschaften. Rainer Mehnert, Bezwinger der mächtigen Göttin Hekate, Cowboy und Vagabund, Revolverheld und Überlebender der Stadt der Nacht, Dionaea muscipula, blickte zufrieden von der Anhöhe auf das idyllische Cheops herab. Er war endlich am Ziel angekommen!

    Er klopfte sich den Staub von seinem Cowboyhut und seiner Fransenlederjacke. Der Weg nach Cheops war hart und entbehrungsreich gewesen. Doch hier wollte er einen Neuanfang wagen! Er war entschlossen, ein legendärer Maverickjäger zu werden. In den weitläufigen Ebenen hatte sich das Vieh auf Teufel komm raus vermehrt. Viehherden so weit das Auge reichte. Da es während des Krieges keinen Absatz für die Rinder gegeben hatte, war der gesamte Viehbestand ungebrändet! Auf diese Rinder – die sogenannten Mavericks – hatte es der Cowboy abgesehen.

    In Kansas gab es riesige Verladebahnhöfe, die das Vieh zu den Schlachthöfen transportierten. Die Maverickjäger fingen die verwilderten ungebrändeten Tiere ein und brachten sie zu den Verladestellen. Und dafür gab es eine Menge Geld! Geld, das der Cowboy für feuchtfröhliche Pokerspiele und heiße Weiber ausgeben wollte. Denn es war schon lange her, dass er die warmen Schenkel einer Frau genossen hatte. Eine Frau mit tollen Brüsten, muskulösen Waden und einem schönen Becken, an dem man sich festhalten konnte! Ja, ein solches Prachtweib wäre jetzt genau das Richtige für ihn, den Westmann.

    Doch solche Fantasien mussten vorerst noch warten, bis er ein Maverickjäger werden würde. Vielleicht reichten die paar Dollars in seiner Westentasche noch, um sich ein Tingeltangel-Girl in einem der zwielichtigen Varietés anzuschauen.

    Der Cowboy ging zurück zu seinem Pferd, das er an einem Baum angebunden hatte. Ächzend schwang er sich auf den alten Gaul. Nur widerwillig setzte sich das Tier in Bewegung. Das Reiten hatte in den Wildwestfilmen immer so mühelos und heldenhaft ausgesehen, aber davon musste er sich verabschieden. Sein Hinterteil schmerzte höllisch von dem harten Ritt, da seine Gesäßknochen gegen den Reitsattel scheuerten, und das, obwohl er eine grobe Baumwollhose mit Ledereinlagen trug. Vielleicht sollte ich es mal mit einer Fellauflage auf dem Sattel probieren, dachte er.

    Während er in das Tal Richtung Cheops trabte, sagte er sich, dass diese Szene etwas von einem Groschenroman an sich habe und schmunzelte. Früher hatte er immer die Wildwestromane vom Kiosk gelesen. Fast jeder Heftroman fing damit an, wie der Protagonist hinunter in die Stadt ritt. Das hatte etwas Heldenhaftes! So könnte es jetzt auch bei ihm sein. Wenn nur nicht sein Hintern so furchtbar brennen würde!

    Hekate hatte ihn in eine Parallelwelt befördert: nach Nordamerika, in eine Zeit nach dem Bürgerkrieg. Es musste eine Parallelwelt oder zumindest ein sehr großes Taschenuniversum sein. Am Anfang war er misstrauisch gewesen, ob die alte Schlampe ihn betrogen und in eine Zeit befördert hatte, in die er nicht hingehörte. Solche Dinge konnten weitreichende Konsequenzen haben. Es könnte eine Anomalie entstehen, die das kosmische Muster veränderte. Und dann würde er Besuch von seinen Freunden, den tollwütigen Seemännern, bekommen. Unheimliche Wesen in archaisch wirkenden Taucheranzügen, ausgestattet mit gewaltigen Flammenwerfern, die eine Welt auslöschten, bevor die Anomalie sich verselbstständigte und ein Ungleichgewicht im gesamten Universum verursachte. Die tollwütigen Seemänner waren sozusagen die Ordnungspolizei der griechischen Götter, die über den Kosmos herrschten.

    Am Anfang schlief er schlecht, legte sich manchmal sogar nachts auf die Lauer, weil er glaubte, jeden Moment könne einer der tollwütigen Seemänner aufkreuzen und ihn vernichten. Manchmal hatte er das Gefühl, dass er die Wesen in der Stille der Nacht hören konnte: ein angestrengtes Schnaufen, das den Atemgeräuschen einer Herz-Lungen-Maschine in nichts nachstand. Doch sie waren nicht gekommen. Vorerst nicht … Sein Blick spähte über das von der Sonne verbrannte Gras. Immer auf der Suche nach verräterischen dunklen, ausgetrockneten Flecken. Es war ein Tic, den er sich in den letzten Wochen angewöhnt hatte, immer auf der Suche nach Nacktschnecken. Doch hier in Kansas schien es keine Schnecken zu geben – jedenfalls hatte er noch keine gesehen. Die toten Schnecken waren die ersten Vorboten der tollwütigen Seemänner. Sie läuteten damals in seiner alten Welt das Ende ein!

    Als er fast die Stadt erreicht hatte, richtete er sich im Sattel auf, denn ein Westmann musste Eindruck schinden, wenn er in eine Stadt ritt.

    Cheops war eine typische Westernstadt. Schon von Weitem konnte man das Gelächter aus dem Saloon hören, die laute Klaviermusik aus den Varietés, in denen die Tingeltangel-Girls sich auf der Bühne herumtummelten, das Wiehern der Pferde. Die Geräusche waren dem Cowboy allesamt vertraut. So ein Leben hatte er sich immer gewünscht. Und jetzt, wo es da war, wollte er es in vollen Zügen genießen. Zum Teufel mit den Nacktschnecken und den tollwütigen Seemännern. Er war hier, um ein waschechter Maverickjäger zu werden! Yeah!

    Er war ein neues Gesicht in der Stadt und die Bürger von Cheops musterten ihn neugierig von den Arkaden aus. Die Stadt bot Platz für drei- bis vierhundert Siedler. Verglichen mit den großen Städten im Osten, war es ein kleines Kaff. Vor dem Saloon standen einige zwielichtige Gestalten, Dollarwölfe, die für Geld alles machten. Aufmerksam musterten sie den Cowboy.

    Er nickte ihnen zu, doch keiner erwiderte den Gruß. »Dann halt nicht, ihr Arschlöcher«, murmelte der Cowboy in seinen Bart, schob den Hut in den Nacken und betrat den Saloon des »Irish Cattlemen«. Als der Cowboy durch die Schwingtür trat, richteten sich alle Gesichter auf ihn, den Fremden. Grinsend schaute er in die Runde. In der Mitte des Saloons befand sich ein runder Pokertisch, an dem mehrere Herren in schwarzen Anzügen saßen und über ihre Karten hinweg in Richtung des Cowboys starrten. Ihre abwertenden Blicke zeigten ihm, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Den Chips nach zu urteilen, die auf dem Tisch lagen, spielten die feinen Herren nur um kleine Beträge. Schade!

    Der Wirt hinter dem lang gezogenen Schanktisch war ein wahrer Brocken von Kerl, vermutlich sechs Fuß groß, mit dem Kampfgewicht von einem ausgewachsenen Ochsen. Seine rotblonden Haare verrieten seine Herkunft und hatten dem Saloon wahrscheinlich auch seinen Namen gegeben. Von dem Rothaarigen ging eine rohe Kraft aus. Jetzt schielte der Wirt auf etwas hinter der Theke – vermutlich auf eine Schrotflinte, die er griffbereit dort liegen hatte, falls es Ärger gab. Die Schrotflinte würde er aber wahrscheinlich gar nicht brauchen. Wenn sich dieser rothaarige Bulle auf den Cowboy werfen würde, dann wäre von ihm nicht mehr viel übrig.

    Der Saloon war um diese Uhrzeit schon gut gefüllt. Viele Leute standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich über die Tagesgeschäfte, während sie ihren Durst mit frisch gezapftem Bier stillten. Nachdem sich die meisten Leute an dem Cowboy sattgesehen hatten, war ihr Interesse erloschen und sie kümmerten sich nicht mehr um ihn.

    Der Cowboy ließ sich auf einem der Barhocker nieder und verzog dabei das Gesicht. Er musste heute Abend seinen wunden Hintern mit einer Salbe einreiben.

    »Was darf es sein, Fremder?«

    »Mach mir einen Jacky-Cola«, erwiderte der Cowboy, während er ein paar Dollarnoten aus seiner Tasche fischte.

    »Einen was?«

    »Jacky-Cola!«

    »Noch nie gehört!« Der Wirt verschränkte seine gewaltigen Arme vor der Brust.

    »Ach verdammt, wir haben das falsche Jahr! Falsches Jahr! Hehehe … Sorry, mein Fehler!«

    »Was willst du? Wenn du hierbleiben möchtest, dann musst du was trinken!«

    »Mach mir ein Bier!«

    Doch der Wirt streckte seine Pranke nach vorne und hielt sie dem Cowboy ungeniert vor die Nase. Seufzend legte der Cowboy den Dollarschein in die Tatze des Mannes, die sich sofort schloss.

    »Wo kommst du her? Du hast einen schrecklichen Akzent! Reden alle da, wo du herkommst, so beschissen?«, wollte der Wirt wissen, während er das Bier für seinen Gast zapfte.

    Laut lachte der Cowboy auf und schlug sich dabei auf die Knie. »Junge, du gefällst mir, du Prachtkerl von einem Mann!«

    Auch der rothaarige Wirt lachte und entblößte dabei eine Reihe brauner Zähne, die mit zu viel Kautabak in Berührung gekommen waren. »Ein Franzose bist du nicht …«

    »My Goodness! Ein Franzmann? Nein!«

    Er stellte dem Cowboy das Bier auf die Theke. Das Glas war verschmutzt, doch das kümmerte den Cowboy nicht, denn er war nur an dem köstlichen Inhalt interessiert.

    »Ich bin Deutscher. Ein Allemann!«

    »Wirklich? Ha, dann hast du einen weiten Weg hinter dir!«

    »Das kannst du laut sagen! Aber halleluja, jetzt bin ich endlich hier und das alleine zählt!« Er setzte das Bierglas an und leerte es in einem Zug, wobei ein Teil des würzigen Gesöffs an seinen Barthaaren herunterfloss. »Gib mir noch eins!«, teilte er dem Wirt mit und schob dabei das Glas in dessen Richtung.

    Erneut streckte der Wirt ihm seine Pranke entgegen.

    »C’mon, dein Ernst?«, fragte der Cowboy erstaunt.

    »Fremde bezahlen hier im Voraus!«

    Der Cowboy stieß einen Seufzer aus; ein weiterer Schein wechselte den Besitzer.

    »Wie lebt es sich in der Alten Welt?« Der Ire schien ein verdammt neugieriger Kerl zu sein. Wahrscheinlich arbeitete er für einen der Dollar- oder Townwölfe, die hier in dieser Stadt das Sagen hatten und versorgte diese gegen das nötige Kleingeld mit Informationen.

    »Ich komme aus dem Odenwood. Schon mal davon gehört?«

    »Odenwood? Nicht, dass ich wüsste.«

    Der Cowboy starrte auf das frisch gezapfte Bier und wurde rührselig. »Dort gibt es ein Bier, mein Freund, das schmeckt besser als das köstlichste und klarste Quellwasser, das du einem verdurstenden Menschen an die Kehle hältst.«

    »Du übertreibst!«

    »Well, schon mal was von Schmucker-Bier gehört?«

    »Schmucker?«

    »Ja, das Bier der Götter.«

    »Du bist verrückt, Fremder!«, antwortete der Wirt und schüttelte den Kopf.

    Doch der Cowboy deutete auf das Glas vor sich. »Im Odenwood würden wir mit so einem Gesöff nicht einmal unsere Autos … äh, ich meine, Postkutschen reinigen.«

    Nach dieser Aussage verfinsterte sich das Gesicht des Iren. »Willst du damit sagen, dass mein Bier Pisse ist?«

    »Ne, es schmeckt nach Kotze! Ihr Yankees müsst noch viel lernen, was die hohe Kunst des Bierbrauens betrifft.«

    Der Wirt starrte seinen Gast an, wobei sich in seinen Gesichtszügen ein wahres Gewitter zusammenbraute. Die Zornesröte stieg in ihm auf, und der Cowboy merkte, dass er langsam aber sicher den Bogen überspannte.

    »Aber Kumpel, ich bin nicht den weiten Weg gekommen, um mich an deinem Bier zu ergötzen, sondern ich brauche Informationen«, sagte er deshalb eilig und klopfte dem Bären hinter der Theke kumpelhaft auf die Schulter.

    »Informationen?« So schnell wie der Ärger hochgekommen war, war er auch schon wieder verflogen. »Ich handle mit Informationen! Ich bin Barkeeper und Herr über den größten Saloon in Cheops! Wenn jemand etwas weiß, dann ich!«

    Aha, man konnte den Riesen offensichtlich leicht besänftigen, wenn es ums Geschäft ging. Es erhärtete den Verdacht des Cowboys, dass dieser Mann mit den Dollar- und Townwölfen in Verbindung stand. Wissen ist Macht!

    »Ich will ein Maverickjäger werden!«, sagte der Cowboy selbstbewusst. »Ich brauche einen Namen und eine Adresse!«

    »Du ein Maverickjäger?«, fragte der Wirt ungläubig.

    »Gibt es da ein Problem, Kumpel?«, konterte der Cowboy und ließ seine rechte Hand ganz zufällig über sein Pistolenhalfter gleiten.

    »Keine gute Idee! Nicht in diesen Zeiten. Vielleicht solltest du lieber dein Glück in Texas versuchen. Das ganze Land dort ist bis zum Pecos voller Rinder!«

    »Warum sollte ich es nicht hier versuchen? Ich habe gesehen, dass eure Rinder sich wie die Karnickel vermehrt haben.«

    »Desmond Pickett wird etwas dagegen haben.«

    »Wer ist der Pisser?«, erkundigte sich der Cowboy völlig ungeniert.

    Schlagartig verfinsterte sich die Miene des Barkeepers wieder. Doch es war nicht nur Wut, die sich in dem kantigen Gesicht widerspiegelte, sondern seine Augen zeigten auch einen Anflug von Furcht.

    »Desmond Pickett ist jemand, mit dem du dich nicht anlegen solltest!«

    »Klingt nach einem richtig sympathischen Burschen, wenn du mich fragst.«

    »Ihm gehören mehrere Ranchen außerhalb der Stadt. Das ganze Land da draußen ist Pickett-Land. Er behauptet, dass dort alle ungebrannten Rinder zu seiner gottverdammten Stammherde gehören. Für ihn sind die Maverickjäger Gesetzlose, die sich an seiner Herde vergehen. Er hängt jeden, den er erwischt.«

    »Ich bin noch nicht lange in dieser Gegend, aber ungebrändete Rinder sind laut Gesetz frei.«

    »Erzähl das mal Desmond Pickett!« Der Ire nahm eines der Biergläser von einem seiner Gäste zurück und begann es zu spülen. Sauberkeit schien für ihn ein Fremdwort zu sein, denn er tauchte das Glas in eine braune Brühe hinter dem Tresen.

    »Und selbst wenn er niemanden erwischt, warten seine Dollarwölfe vor den Toren von Kansas auf die Herdenbosse, um ihnen dann zehn Dollar für jedes Tier abzuknöpfen, bevor es in die Stadt darf. Wer nicht zahlt, dessen Herde wird in alle vier Himmelsrichtungen verjagt.«

    »Verfluchte Bastarde!«, murmelte der Cowboy und begann zu begreifen, dass sein Plan gar nicht so leicht in die Tat umzusetzen war.

    »Das kannst du laut sagen!«

    Lautes Fluchen drang vom Pokertisch zu ihnen herüber; anscheinend hatte jemand die Partie verloren. Der Wirt blickte kurz zu den Spielern, um sich zu vergewissern, dass kein Ärger bevorstand. Dann wandte er sich wieder dem Cowboy zu.

    »Ich werde trotzdem ein Maverickjäger«, sagte der Cowboy trotzig und leerte sein zweites Bier.

    »Du bist ein hartnäckiger Bursche, was?« Der Barkeeper beugte sich nach vorne, sodass sein Gesicht von dem seines Gegenübers nur noch wenige Zoll entfernt war. »Siehst du den Revolverhelden hinter dem Pokertisch?« Der Cowboy ließ seinen Bick über die Saloonbesucher wandern. »Den Mann mit der Kalbfelljacke und dem Colt im Schulterholster!« Jetzt sah er ihn. Für einen Revolverhelden war der Kerl mit seinen mindestens vierzig Wintern schon ziemlich alt, denn diese Burschen starben meistens früh. Es war ein Mann, wie ihn der Cowboy aus den Wildwestromanen kannte. Das Gesicht voller Ecken und Kanten verlieh ihm eine gewisse Härte. Mit seinen blonden Haaren, die ihm ins Gesicht fielen, erinnerte er mehr an einen Löwen, der erhaben von seinem Felsen auf sein Rudel blickt.

    »Das ist Jeremy Slater«, sagte der Wirt, nachdem der Cowboy die richtige Person im Blickfeld hatte. Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Flüstern. »Ihm gehört die Blue-Lodge-Ranch außerhalb der Stadt.«

    »Einer von Desmond Picketts Männern?«, erkundigte sich der Cowboy.

    Doch der rothaarige Wirt schüttelte den Kopf. »Nein, Slater ist ein Rebell. Die Blue-Lodge-Ranch führt seit Jahren Krieg gegen Pickett und seine Männer. Er ist der Einzige, der ihm Paroli bietet. Wenn du unbedingt ein Maverickjäger werden willst, dann sprich mit ihm.«

    Mit der Faust klopfte der Cowboy auf den Tresen. »Danke, Kumpel! Das werde ich gleich machen!« Bevor er sich jedoch von ihm abwenden konnte, hielt dieser ihn mit seiner fleischigen Pranke an seiner Lederjacke fest. »Nicht so schnell! Informationen kosten Geld!« Der Cowboy rollte mit den Augen, dann zog er eine weitere Dollarnote aus seiner Tasche und ließ sie in der ausgestreckten Hand des Iren verschwinden. »Danke, mein Freund! Du bist zwar verrückt, aber ich mag dich! Viel Glück, denn das wirst du brauchen!«

    Der Cowboy rutschte vom Barhocker und ging zielstrebig auf jenen Mann zu, den der Wirt als Jeremy Slater bezeichnet hatte und der inmitten der anderen Gäste wie ein Fels in der Brandung wirkte. Als der Cowboy nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, richtete Slater seinen Blick auf den Fremden. Seine Augen waren so grau wie ein kalter Gletscherfluss im Winter. Seine schiefe Nase schien mehrere Male gebrochen worden zu sein, was ihm aber einen männlichen, selbstbewussten und kühnen Anblick verlieh. Ja, dieser Mann war durch und durch ein Revolverheld!

    »Greetings, ich habe gehört, dass Sie auf der Suche nach fähigen Männern sind? Nun, ein solcher Kerl steht jetzt vor Ihnen!«, eröffnete der Cowboy das Gespräch und streckte dem Mann seine Hand zur Begrüßung entgegen.

    Die grauen Augen blicken kurz in Richtung des Tresens, wo der Ire stand und das Gespräch neugierig verfolgte. Dann musterte er den Cowboy stillschweigend, ohne den Händedruck zu erwidern.

    »Gefällt Ihnen, was Sie sehen?«, wollte der Cowboy wissen und verschränkte die Arme vor der Brust.

    »Ich habe dich in dieser Gegend noch nie gesehen? Woher kommst du?«

    »Odenwood!«

    »Nie gehört.«

    »Wie sieht es aus? Brauchen Sie eine starke Hand oder nicht?«

    »Ich habe genug Männer. Tut mir leid, aber ich brauche deine Hilfe nicht!«, antwortete Jeremy Slater und blickte wieder in sein Whiskeyglas, um zu zeigen, dass die Sache für ihn erledigt war.

    »Schade, sehr schade!« Der Cowboy fasste zum Abschied an seine Hutkrempe, kehrte Slater den Rücken zu und trat durch die hölzerne Schwingtür ins Freie. Es war bereits dunkel geworden; überall brannten Öllampen oder Laternen in den Fenstern. Bei Nacht wirkte die Stadt mit ihren Arkaden richtig heimelig. Der Cowboy begann »Jezebel« von Frankie Laine zu pfeifen, während er zu der Haltestange ging, an der er sein Pferd angebunden hatte. Kurz überlegte er, ob er einem der schäbigen Varietés einen Besuch abstatten sollte, doch die Müdigkeit von dem harten Ritt steckte ihm schwer in den Knochen. Er sehnte sich nur noch nach einer Matratze. Außerdem hatte er Angst, dass er seine letzten Dollars einem der Tingeltangel-Girls zustecken würde. Seine Geldreserven waren fast aufgebraucht.

    »Einen Moment, Mister!«, erklang es hinter dem Cowboy, als er gerade dabei war, sein Pferd loszubinden. Langsam drehte er sich um. Hinter dem Handlauf des Gehsteiges stand ein Mann mit einem langen Schnurrbart. Sofort stach ihm der silberne Stern ins Auge, der die staubige Weste des Mannes zierte. Dies ist also der Deputy-Sheriff von Cheops!, dachte der Cowboy und erwiderte den Blick des anderen.

    Der Deputy-Sheriff fuhr sich mit der Hand über die Enden seines Schnurbartes, die spitz nach oben standen, um diese zu zwirbeln. Es war wohl eine alte Angewohnheit, die so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass es fast unmöglich war, sie sich wieder abzugewöhnen.

    »Wer bist du?«, wollte der Deputy-Sheriff wissen.

    »Ein Besucher dieser Stadt!«

    »Und was willst du hier?«

    »Ehrlich gesagt, will ich nur noch ein weiches Bett und schlafen. Ich habe einen harten und weiten Ritt hinter mir«, antwortete der Cowboy grinsend.

    »Du kommst erst einmal mit in mein Office!«

    »Und, was will ich da?«

    »Ich werde nachschauen, ob deine Visage sich nicht auf einem Steckbrief wiederfindet. In meiner Stadt haben Satteltramps nichts verloren, verstanden?«

    »Und wenn ich mich weigere? Ich bin ein Reisender und außer Alkohol und geilen Weibern habe ich keine Laster!«

    »Du weigerst dich?«, zischte der Ordnungshüter böse, und seine Hand fuhr über den Griff seines Colts, der in einem Lederhalfter an seinem Gürtel hing.

    »Sheridan, lass den Fremden in Ruhe!«, ertönte es auf einmal hinter dem Deputy-Sheriff. Es war Jeremy Slaters Stimme, der gerade aus dem Saloon getreten war.

    »Misch dich nicht in Angelegenheiten ein, die dich nichts angehen, Slater!«, erwiderte der Deputy-Sheriff trotzig.

    »Und ich sage es dir noch einmal: Lass den Mann in Ruhe! Sonst …«

    »Sonst was?«

    Jeremy Slater machte einen Schritt auf den Deputy-Sheriff zu. Er überragte diesen um mindestens einen Kopf. In der Dunkelheit ließ sich Slaters kantiges Gesicht nur erahnen, trotzdem spürte man Bedrohung und mitleidlose Härte, die von ihm ausgingen. Instinktiv wich der Deputy-Sheriff einen Schritt zurück. Er glich in diesem Moment einer verängstigten Bergkatze, die vor einem mächtigen Löwen zurückweicht. Dann spürte der Cowboy, wie Slater den Blick auf ihn richtete. Die Konturen des mächtigen Mannes waren nun vom Licht des Saloons, das nach draußen fiel, klar umrissen.

    »Das hier ist Sheridan Webster, der sich für den Ordnungshüter dieser Stadt hält«, begann Slater mit knirschender Stimme – eine Stimme, die zu seiner rauen Gestalt wie die Faust aufs Auge passte. »Er ist Desmond Picketts Knecht, der Sklave eines verabscheuungswürdigen Kerls, der meint, mit Angst und Schrecken könne man alles kaufen. Solange Webster macht, was Pickett will, darf er diesen Stern tragen.«

    Sheridan Webster, der Deputy-Sheriff, blieb still. Trotz der Geräusche, die aus dem Saloon drangen, lag so etwas wie eine angespannte Stille über dem Gehsteig. Eine unsichtbare Glasglocke, die alle Geräusche von draußen dämpfte. »Pass auf, Sheridan! Irgendwann wirst du für diese Banditen nichts mehr wert sein und dann werden sie dich zum Teufel jagen!«

    »Wir werden sehen, wer zum Teufel gejagt wird, Slater!« antwortete der Deputy-Sheriff, doch in seiner Stimme klang ein unsicherer Ton mit. Deshalb zog er seinen Hut tief ins Gesicht und würdigte die beiden Männer keines Blickes mehr. Es war ihm sichtlich unangenehm, dass seine innere Unruhe in seiner Stimme mitgeschwungen war. Wie ein Schemen verschwand er in den dunklen Gassen von Cheops.

    »So ein Arschloch!«, murmelte der Cowboy und spuckte auf den Boden.

    Slater bückte seine massige Gestalt unter den Handlauf des hölzernen Laufstegs und trat dem Cowboy direkt gegenüber. Und diesmal streckte er ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Jeremy Slater, aber das weißt du bestimmt schon – sonst hättest du nicht nach einem Job gefragt!«

    Der Cowboy ergriff die Hand und musste sich sichtlich anstrengen, vor lauter Schmerz keine Grimasse zu schneiden. Der Händedruck seines Gegenübers war so stark, dass er das Gefühl hatte, Slater würde ihm alle Knochen brechen.

    »Mein Name ist …«, er stockte für einen Moment, denn seinen alten Namen hatte er schon lange abgelegt. »Ich bin Rainer.«

    »Du siehst aus, als hättest du einen langen Ritt hinter dir! Es sind noch ein paar Meilen bis zur Blue-Lodge-Ranch, aber wenn du die Zähne zusammenbeißt, dann kannst du in einem warmen Bett bei mir auf der Ranch schlafen und eine heiße Bohnensuppe am Lagerfeuer genießen!«

    Slater mochte zwar ein hartes Äußeres haben, das in der Vergangenheit schon viele Prüfungen zu überstehen hatte und ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war, aber in seinem Inneren gab es etwas Gutes, Reines, das Ungerechtigkeiten verabscheute und zu bekämpfen versuchte, wo immer es auftrat. Ihm war sofort klar, dass der Fremde nach dem Verlassen des Saloons Webster in die Arme laufen würde und danach verhaftet, ausgeraubt und womöglich auf Desmond Picketts Ranch verschleppt werden würde.

    »Das weiß ich sehr zu schätzen, Sir!«, sagte der Cowboy und klopfte dem Rancher anerkennend auf die Schulter, wobei er das Gefühl hatte, dass er gegen ein Stück Stahl schlug. An dem muskulösen Mann war kein Gramm Fett zu viel.

    »Gut, dann lass uns losreiten!«

    Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Prärie nieder, sodass sich feine Schweißperlen auf der Glatze des Reiters bildeten. Eine seltene Erbkrankheit hatte dazu geführt, dass kein einziges Härchen auf seinem Kopf gewachsen war. In der Schule hatte man Desmond Pickett deshalb gehänselt und Skull-Boy genannt; die Mädchen in seiner Klasse kicherten stets, wenn sie ihn sahen. Dieser Spott hatte ihn geschliffen wie einen rohen Diamanten, machte ihn zu dem, was er heute war: zu einem der mächtigsten und gefürchtetsten Männer in ganz Kansas!

    Er stieg von seinem Pferd und musterte die Männer, die vor ihm auf den Knien im Staub lagen und deren Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Sie schwitzten wie die Tiere. Pickett musterte sie kalt. Seine stumpfen ausdruckslosen Augen wirkten in der Mittagssonne fast farblos. Es war, als blickte man in ein Wesen, das keine Seele besaß. Die perfekte Imitation eines Menschen, dessen Bewegungen wie bei einer Marionette von unsichtbaren Fäden eines Puppenspielers gesteuert wurden.

    Pickett zog ein blau-weiß kariertes Tuch aus seiner Tasche und tupfte sich damit seinen glänzenden Schädel ab. »Wen haben wir denn hier, Gary?« Seine Stimme klang weich und sanft wie bei einem Knaben, der noch nicht in den Stimmbruch gekommen ist. Dabei wirkte die Stimme so fremdartig, dass den knienden Männern ein Schauer über den Rücken lief. Sie tauschten verängstigte Blicke aus.

    Der Mann namens Gary trat nach vorne. Seine Hände umklammerten ein altes Sharpgewehr. Sein Narbengesicht weckte Erinnerungen an eine Ratte.

    »Wir haben diese Bande von Viehdieben entdeckt, als sie unsere Rinder stehlen wollten, Boss!«, entgegnete Gary und zog seinen Hut zurecht, damit ihn die Sonne nicht blendete.

    »Viehdiebe also?«

    »Ganz recht, Boss!«

    »Das stimmt nicht!«, wimmerte einer der gefesselten Männer. »Wir sind Maverickjäger und diese Rinder sind Mavericks! Sie werden kein Brandzeichen auf ihnen finden. Wir tun nichts Illegales!«

    »Diese Rinder gehören zu meiner Stammherde«, sagte Desmond Pickett; in seiner kindlichen Stimme schwangen keinerlei Gefühle mit.

    »Mavericks gehören demjenigen, der sie einfängt, Sir!«, protestierte der Mann auf dem Boden.

    Desmond Pickett trat vor den Maverickjäger. Seine hohen schwarzen Reitstiefel glänzten makellos. Weder Staub noch Dreck befand sich auf der glatten Lederoberfläche. Es unterstrich die Andersartigkeit dieses Mannes.

    »Was sollen wir mit ihnen machen, Boss?«, fragte Gary, der den Lauf des Gewehrs auf den Hinterkopf von einem der knienden Männer gerichtet hatte. In seinen Augen funkelte die Mordlust. Er war ein Bursche, der Gefallen am Töten gefunden hatte.

    Einige von Picketts Männern waren von ihren Pferden abgestiegen und bildeten einen Halbkreis um die Gefangenen.

    »Von welcher Ranch kommt ihr?«, erkundigte sich Pickett.

    »Von keiner Ranch, Sir!«, antwortete der Gefangene, der sich zum Sprecher der Gruppe erhoben hatte. »Wir stammen aus San Juan und wollten eine Herde zusammentreiben, um sie nach Kansas zu bringen, wo die Verladebahnhöfe warten. Sir, wir haben wirklich nichts Illegales getan. Die Rinder haben kein Brandzeichen!«

    Gary sah seinen Boss erwartungsvoll an, um von ihm das Zeichen zum Töten zu erhalten. Doch Desmond schüttelte den Kopf.

    »Ricardo!«, rief er einem seiner Handlanger zu, der etwas abseits bei den Pferden stand. Es war ein schmieriger Kerl, vermutlich mexikanischer Herkunft, dem ein gewaltiger Sombrero auf dem Rücken baumelte. »Ich möchte meine Gäste singen hören!« Der Kerl grinste über beide Ohren und holte etwas aus der Satteltasche seines Pferdes, das zunächst wie ein feiner Draht aussah.

    »Wisst ihr, was das ist?«, wollte Pickett von den Gefangenen wissen. Ricardo hielt den Leuten die Drähte vor die Nase, die unsicher den Kopf schüttelten. »Das sind Klaviersaiten!«, erklärte Desmond Pickett und seine feinen Lippen verzogen sich; in seinem Gesicht war so etwas wie eine Gefühlsregung zu erkennen. Das Gesicht dieses mächtigen Mannes erinnerte an einen grinsenden Totenschädel. »Wenn man einen Mann mit dem Draht einer Klaviersaite aufhängt, dann gibt er wunderbare Laute von sich. Ich bekomme jedes Mal einen Orgasmus, wenn wir Abschaum wie euch am nächsten Baum aufknüpfen!« Ein leises Beben durchzog seinen Körper und ein wohliger Schauer überkam ihn. »Ich möchte euch Pisser singen hören!«

    »Bitte, Sir, ich flehe Sie an … wir haben doch Familien in San Juan …«

    Desmond Pickett gab seinen Männern ein Zeichen. »Knüpft sie da hinten an den Bäumen auf. Ich will sie singen hören!« Und diesmal war so etwas wie Lust in seiner Stimme zu hören.

    Die Gefangenen schrien wild durcheinander, einige versuchten sich aufzuraffen, wollten fliehen, doch sie bekamen den Kolben von Garys Sharpgewehr zu spüren. Es dauerte fast zehn Minuten, bis man die Männer zu den Bäumen geschleift hatte. Einer seiner Männer kletterte auf die Bäume, um die Klaviersaiten zu befestigen, denn dies erforderte mehr manuelle Feinarbeit, als ein Seil über den Ast zu werfen. Die Gefangen versuchten sich verzweifelt zu wehren, doch Picketts Handlanger hielten sie in Schach.

    »Ich will euch singen hören«, säuselte Pickett wieder und blickte erwartungsvoll in die Runde.

    »Sir, ich habe einen zwei Jahre alten Sohn. Bitte verschonen Sie mich!«, ertönte es angstvoll aus einer Kehle.

    »Wenn Sie mich losbinden, dann gebe ich Ihnen mein ganzes Geld. Ich habe zu Hause einen ordentlichen Batzen angespart. Bitte!«, flehte ein anderer Mann verzweifelt um sein Leben.

    Zehn Minuten später hingen sie wie Vieh im Schlachthof an den Klaviersaiten und kämpften erfolglos um ihr Leben. Die Klaviersaiten bohrten sich ins Fleisch; Blut rann aus dem Hals. Einer der Gehängten war so schwer, dass sein Gewicht stark nach unten zerrte und die stählerne Schlinge wie Butter durch sein Fleisch und sein Genick schnitt. Hart schlug der kopflose Körper auf dem staubigen Boden auf, während sich aus dem Stumpf eine wahre Blutfontäne ergoss. Die anderen Gehängten hatten nicht dieses Glück. Die Laute, die aus ihren geschundenen Kehlen erklangen, waren eine Mischung aus einem leisen Krächzen und Wimmern, während ihr Mund sich langsam mit Blut füllte und dieses sich über ihre Lippen ergoss. Das war es, was Pickett meinte, als er Ricardo befahl, die Männer zum Singen zu bringen. Die armen Teufel am Baum zappelten wie wild, während langsam alles Leben aus ihrem Körper wich. Es sollte jedoch noch einige Minuten dauern, bis sie endlich von ihren Qualen erlöst wurden.

    Währenddessen stand Desmond Pickett mit heruntergelassener Hose vor den sterbenden Maverickjägern und onanierte. Einige seiner Männer grinsten, während andere ihren Ekel unterdrücken mussten. Sie wussten, dass Pickett ein Irrer war. Aber niemand wagte dies laut auszusprechen, denn sonst wäre er der Nächste, der um sein Leben singen würde.

    Picketts farblose Augen gierten die zappelnden Leiber der Gehängten an; es schien, als wäre doch noch so etwas wie Leben in ihnen. Eine tiefe, niemals enden wollende Lust trieb diesen Irren zum Höhepunkt und brach dann mit einem lauten Schrei ab. Die Gehängten waren tot! Ihre Beine zuckten immer noch unrhythmisch hin und her, als wolle der Körper nicht akzeptieren, dass sich kein Leben mehr darin befand. Ein wohliger Schauer durchlief Pickett, er hatte dieses Schauspiel in vollen Zügen genossen.

    »Mann, war das geil!«, schnurrte er wie eine zufriedene Katze. Während Pickett die Hose wieder hochzog, bemerkte er, dass etwas Weißes auf seinen makellosen Reitstiefeln gelandet war. Hastig fischte er das karierte Tuch aus seiner Tasche und begann, die Stiefel wie ein Wilder zu putzen. Immer und immer wieder. Seine Bewegungen wirkten dabei fahrig und verkrampft.

    Keiner der Männer wagte es, Pickett anzuschauen. Einige starrten in die Weite der Prärie, andere schienen plötzlich ein ungewöhnliches Interesse an ihren eigenen Stiefeln gefunden zu haben.

    »Verfluchte Scheiße!«, brüllte Pickett und es klang, als ob ein kleines Kind einen Wutanfall hatte. Er spie auf seine Stiefel, um mit seiner Spucke die Schlieren zu entfernen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er das Tuch wieder wegsteckte und zufrieden auf seine Stiefelspitze schaute. Neuerliche Schweißperlen hatten sich auf seinem Schädel gebildet.

    Pickett atmete tief ein und sein hagerer Körper schien sich von jetzt auf die nächste Sekunde zu beruhigen. Der Wutanfall war verschwunden und zurück blieb dieses leere ausdruckslose Gesicht mit den fast farblosen Augen.

    »Wir kehren zum Stammhaus zurück!«, sagte er und wandte sich von den Toten ab. Die Männer erwachten aus ihrer Starre und eilten zu ihren Pferden.

    »Ich werde Jenny heute keine Lust mehr bereiten können«, meinte Pickett zu dem Rattengesicht Gary, während sie aufstiegen.

    »Warum nicht, Boss?«

    »Ich muss mich erst erholen. Morgen werde ich es ihr ordentlich besorgen!«

    »Genau, Boss!«, lachte Gary und gab seinem Pferd das Zeichen, sich in Bewegung zu setzen.

    »Jetzt brauche ich etwas Anständiges zum Essen. Der Nigger soll uns ein Festmahl kochen!«, rief Pickett seinen Männern zu. Die Männer grölten ihre Zustimmung, denn sie waren ebenso hungrig wie ihr Boss.

    Und so ritten Desmond Pickett und seine Bande zurück zu ihrem Stammhaus in den Wäldern.

    2

    Fast hundertfünfzig Jahre später in den Tiefen des Odenwaldes …

    Zwischen Reichelsheim und Michelstadt gab es eine Landstraße, die durch ein Feld-, Wald- und Wiesengebiet führte, das die Einheimischen liebevoll die »Hutzwiese« nannten. Woher der Name kam, konnte niemand wirklich erklären. Selbst der Präsident des Odenwälder Trachtenvereins konnte nur mit den Schultern zucken und darauf hinweisen, dass die Hutzwiese schon immer so geheißen hätte. Die Hutzwiese war eben die Hutzwiese! Dort lebten nur vereinzelt Menschen, die ihre Häuser in unmittelbarer Nähe der Landstraße bauten, denn die angrenzenden Areale waren weiträumig Naturschutzgebiete. Die Landstraße führte durch dichtes Waldgebiet, manchmal in engen Serpentinen, aber auch in langen Strecken, die einfach nur geradeaus verliefen. An einem der höchsten Punkte inmitten des Waldes lag das Gasthaus »Die vier Tannen«, ein beliebtes Ziel für alle Odenwälder, aber auch für Leute aus den angrenzenden Städten wie Darmstadt oder Frankfurt, war es doch für seine hervorragenden Wildgerichte bekannt (Wild, das direkt von den grünen Auen der Hutzwiese stammte). In dem Gasthof konnte man sonntags einfach mal die Seele baumeln lassen und die kulinarischen Besonderheiten des Odenwaldes genießen. Vergessen war für wenige Augenblicke der Stress des Alltags, dem die Stadtmenschen ausgesetzt waren. Allerdings hatte es auf der Landstraße schon viele Verkehrstote gegeben, denn die Besucher der Gaststätte achteten nicht auf ihren Alkoholkonsum. Zu verlockend war das Angebot an Rotweinen, insbesondere aus dem angrenzenden Groß-Umstädter Weingebiet. Und so kam es, dass viele Gäste die Heimreise in volltrunkenem Zustand antraten, der manchen unbeteiligten Autofahrer schon das Leben gekostet hatte. Aber auch Motorradfahrer blieben nicht verschont, denn die Serpentinen waren tückisch und der eine oder andere Raser war an einem der massiven Baumstämme mit seiner Maschine im wahrsten Sinne des Wortes zerschellt.

    Unterhalb der Gaststätte gab es in einer Kurve eine Reihe von Häusern, die offiziell zur Gemeinde Reichelsheim zählten. Es waren Bauernhöfe, aber auch Häuser, die im ländlichen Stil errichtet waren.

    In einem dieser einfachen Fachwerkhäuser lebte Hubert Arras, den seine Nachbarn gemeinhin als Sonderling abtaten. Jeder in Reichelsheim kannte den Hubert, denn er fiel auf, wenn man an ihm vorbeifuhr oder ihn in der örtlichen Tanzbar sah. Er selbst hatte sich den Spitznamen »Don Tiki« gegeben und bestand auch darauf, dass man ihn mit diesem Namen ansprach. Der Name stammte von einer weitgehend unbekannten Musikband aus Hawaii, die an eine exotische Welt aus den Fünfzigerjahren erinnerte, als jede amerikanische Stadt eine eigene Tiki-Bar hatte, die den Geist der geheimnisvollen Götter Polynesiens heraufbeschwor. Ähnlich wie »Die vier Tannen« boten diese exotischen Szenebars einen Rückzug aus der stressigen Alltagswelt in ein Paradies aus Harfenklängen, Bongos und anmutigen Hulatänzerinnen.

    Don Tiki war immer in Hawaiihemden gekleidet, wenn er auf den Straßen von Reichelsheim zu sehen war. Sein ganzer Kleiderschrank war voller Hemden, die meisten davon stammten aus den Textilfabriken von Reyn Spooner, die seit 1956 Original-Hawaiihemden in den verschiedensten Farben und Designs herstellten. Egal, welches Wetter herrschte, Don Tiki war auch im Winter mit kurzen Khakihosen anzutreffen. Seine Augen versteckte er hinter einer dieser großen Sonnenbrillen, wie sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren einst modern gewesen waren. Er besaß nur noch einen kleinen schütteren Haarkranz, der seinen kahlen Kopf umsäumte und Erinnerungen an die Tonsur eines Mönches erweckte. Ja, Don Tiki war ein Sonderling und ein Reichelsheimer Original! Die Leute erinnerten sich an den Freak, wo auch immer er auftrat.

    Nicht weniger sonderbar war auch sein altes Fachwerkhaus in der Hutzwiese, das seinen Eltern gehört hatte, die im vergangenen Sommer verstorben waren. Nach dem Tod der Eltern hatte er Haus und Hof nach seinen exotischen Wünschen verändert: Überall standen große Tiki-Masken, lang gezogene Schädel mit mythischen Fratzen, die die polynesischen Götter darstellten. An dem großen Hoftor hingen sogenannte Lei-Kränze aus künstlichen Blumen, wie man sie zur Begrüßung auf Hawaii geschenkt bekommt. Im Hof gab es mehrere Plastikpalmen, die so kitschig aussahen, dass sich den Nachbarn beim Anschauen die Fußnägel hochrollten. Am Abend brannten Ölfackeln vor der Einfahrt, die die Holzmasken der Tiki-Götter zum Leben erweckten. Viele Autofahrer bremsten ab, wenn sie an dem Fachwerkhaus von Hubert Arras vorbeifuhren, weil sie hofften, einen kleinen Einblick in eine kitschige Hinterwälderwelt zu bekommen, die so abnormal war, dass sie schon wieder faszinierte.

    Während des Sommers saß Don Tiki stets in seinem Hof, hatte eine Ukulele in den Händen, zupfte gedankenversunken ein paar Saiten (denn spielen konnte er nicht) und lauschte den hypnotischen Klängen der Tiki-Musik, die aus den Lautsprechern ertönte, die er überall angebracht hatte. Meistens hörte er Lieder von seiner gleichnamigen Lieblingsband, aber auch Stücke vom Godfather of Tiki-Music Martin Denny (dessen Bild natürlich in seinem Wohnzimmer hing). Les Baxter und Arthur Lyman durften auch nicht fehlen. Obwohl das Tiki-Gedudel den Nachbarn tierisch auf den Sack ging, hatten sie es aufgegeben, die Polizei zu rufen. Don Tiki war stur und ließ sich keines Besseren belehren. Sobald die Streife wieder weg war, schaltete er die Musik an und ließ sich von den schwingenden Rhythmen betören.

    In einer heißen Sommernacht kam es durchaus vor, dass er in seinem Liegestuhl mit einem Cocktail in den Händen einschlief und erst am frühen Morgen, wenn es wieder hell wurde, sein Bett aufsuchte.

    Es war eine jener Sommernächte, in denen Don Tiki sich vom Geist des Alkohols benebeln ließ. Zusammen mit seinem Freund Mike aus Beerfurth versuchten sie, ein paar Cocktails, wie etwa den berühmt berüchtigten »Long Island Ice Tea«, zu kreieren. Der viele Rum stieg Don Tiki schon sehr früh zu Kopf. Irgendwann fielen ihm die bleiernen Augenlider zu und er versank in einen traumlosen Schlaf. Er bemerkte nicht einmal, dass sein Kumpel Mike gegangen war, um den Heimweg nach Beerfurth anzutreten.

    Plötzlich riss ihn ein Knall aus seinem alkoholgeschwängerten Schlaf. Augenblicklich war er hellwach. Das halb volle Cocktailglas auf seinem Schoß wurde mit einer fahrigen Bewegung seiner Hand auf den Boden geschleudert und zersplitterte dort. Sein Herz klopfte bis zum Anschlag, und er brauchte einige Augenblicke, um sich zu orientieren. Das unbekannte Geräusch hallte wie ein Echo von den bewaldeten Bergen wider, bevor es ganz verstummte.

    Don Tiki erhob sich aus seinem Liegestuhl. Mit hastigen Schritten überquerte er den Hof seines Hauses und wäre um ein Haar gestolpert, da sein rechter Badeschuh auf dem unebenen Kopfsteinpflaster hängen blieb. Er passierte den Torbogen und blickte hinaus auf die Landstraße. Es war stockdunkel, kein Auto weit und breit. Die Häuser in der Nachbarschaft lagen in kompletter Dunkelheit.

    »Was zum Teufel …«, fluchte er und kratzte sich an seinem Stoppelbart. Sein Kopf schmerzte vom vielen Alkohol; er hörte das Blut in seinem Schädel rauschen. Die Umgebung lag in einer unheimlichen Stille. Don Tiki trat auf die Landstraße, blickte nach links und rechts, doch die Dunkelheit schien die nähere Umgebung förmlich verschluckt zu haben. Die einzige Straßenlampe am Wegrand funktionierte schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wo ist Mike?, fragte er sich. Wahrscheinlich bin ich im Vollrausch eingeschlafen und Mike hat sich auf den Heimweg nach Beerfurth gemacht. Möglicherweise hatte sich sein Kumpel sogar von ihm verabschiedet, aber davon hatte er nichts mehr mitbekommen, da der Long Island Ice Tea seine Sinne benebelt hatte. Er nahm sich einmal mehr vor, das Trinken zu reduzieren. In der letzten Zeit war es eindeutig zu viel geworden. Er war langsam an dem Punkt angelangt, wo er sein Trinkverhalten nicht mehr unter Kontrolle hatte. Das musste jetzt aufhören! In einer Fernsehsendung hatte er einmal gesehen, dass Menschen halluzinierten während des Übergangs vom tiefen Schlaf zum Wachbewusstsein. Wahrscheinlich hatte sein Hirn ihm eine akustische Halluzination vorgetäuscht. Er wollte die ganze Sache schon abtun, als er das Leuchten in der Ferne im Wald sah. Zwei-, nein, dreimal flackerte es kurz auf, als würde man einen Scheinwerfer ein- und ausschalten.

    Don Tiki kniff die Augen zusammen, weil er glaubte, dass er wieder einer Halluzination auf den Leim ginge, doch da tauchte das Leuchten erneut auf und hielt diesmal sogar länger an, tauchte die Bäume in ein fluoreszierendes Licht. Irgendjemand trieb sich in den Wäldern entlang der Landstraße herum.

    Unsicher kratzte er sich am Hinterkopf. Sollte ich nachschauen? Doch zwei unterschiedliche Gefühle kämpften in seiner Brust: Zum einen seine Neugierde, denn er war von Natur aus ein sehr neugieriger Mensch, was bei einem waschechten Odenwälder aber auch kein Wunder war. Und zum anderen das Gefühl von Angst, denn niemand mit einem halbwegs gesunden Menschenverstand trieb sich gerne freiwillig nachts in den Wäldern herum. Erst vor Kurzem war die arme Frau Arras von einem Wildschwein erfasst und getötet worden. Sie war im Wald joggen gewesen und auf ein Rudel Wildschweine gestoßen. Statt wie ihr Partner sich vorsichtig zu entfernen und das Weite zu suchen, war sie auf die Tiere zugegangen und hatte versucht, sie zu verjagen. Dies hatte sie mit ihrem Leben bezahlen müssen. Die Tiere trampelten sie nieder und schlitzten die ungeschützten Beine mit ihren Hauern auf. Frau Arras war binnen weniger Minuten verblutet.

    Ja, Don Tiki hatte Respekt vor diesen Wäldern. Denn neben den Wildschweinen gab es auch immer wieder Gerüchte über Banden aus den Ostblock-Ländern, die im Wald ihr Unwesen trieben und Wanderer überfielen. Doch seine Neugier überwog, auch wenn sie die Angst nicht vollkommen vertreiben konnte. Diese blieb wie ein Residuum in seinem Unterbewusstsein zurück und flammte immer wieder auf.

    Don Tiki ging zurück in den Hof und holte sich eine alte Heugabel aus dem Schuppen. Mit dieser Waffe fühlte er sich gleich sehr viel wohler. Wenn ihm jemand etwas antun wollte, dann würde er die drei spitzen Zinken zu spüren bekommen.

    Die Heugabel mit beiden Händen fest umklammernd, schlich Don Tiki über die Landstraße in Richtung Wald.

    Es gab eine große Wiese, die einem Bauer von den Windhöfen gehörte, die den Bäumen vorgelagert war. Das Gras reichte ihm bis zu den Knien. Seine Badelatschen waren äußerst unpraktisch im hohen Gras, doch er wäre nie auf die Idee gekommen, sich anderes Schuhwerk anzuziehen. Sein Blick war strikt auf die angrenzenden Bäume gerichtet. Immer wieder flackerte für einen kurzen Augenblick dieses seltsame Licht auf. Manchmal leuchtete es aus den Wäldern sogar für mehrere Sekunden. Vielleicht waren es Jugendliche, die dort oben zelteten und sich einen Spaß erlaubten.

    Es dauerte eine gefühlte halbe Stunde, bis er die Wiese überquert hatte. Er musste mehrere Male anhalten, weil er ab und zu im Gras seine Latschen verlor. Dann stand er vor den Bäumen; das Leuchten hüllte ihn in ein unheimliches Licht. Nervös leckte er sich über die Lippen. Und auf einmal war seine Neugierde verschwunden. Zurück war die Angst, die ihn zur Salzsäule erstarren ließ. Vielleicht war es besser, zurück ins Haus zu gehen, sich einen ordentlichen Schluck Rum einzuschenken (da war ja noch eine wunderschöne Flasche »Diplomatico Ambassador«, die ungeöffnet ihr langweiliges Dasein in seiner selbstgebauten Tiki-Bar im Keller fristete) und schlafen zu gehen. Manche Dinge sollten vielleicht besser im Verborgenen bleiben. Während er noch wie erstarrt dastand und nicht wusste, was er machen sollte, drang das Leuchten immer wieder zwischen den Baumstämmen hervor, eine Art Flackerlicht, das einer zufälligen Frequenz folgte.

    »Nur noch ein paar Meter!«, murmelte er und versuchte, sich Mut zuzusprechen. Seine Stimme klang seltsam trocken und heiser. Vielleicht sollte er umkehren und seine Kehle mit dem Diplomatico befeuchten.

    »Nur noch ein paar Meter!«, sagte er erneut, nachdem er immer noch verharrte. Ganz langsam setzte er sich in Bewegung, einen Schritt vor den anderen. Dann tauchte er zwischen den Bäumen hindurch und befand sich im Wald. Es gab keinen Weg, das Terrain war ziemlich schwierig zu meistern, denn überall wucherte Gestrüpp um ihn herum.

    Das Leuchten wurde immer intensiver, je näher er der mysteriösen Lichtquelle kam. Obwohl er sich seine Khaki-Hose an einer Dornenhecke aufriss, kam kein Fluch über seine Lippen. Sein Herz arbeitete in einem wilden Stakkatotakt. Er glaubte, dass man ihn meilenweit hören müsse, denn überall raschelte es, während er sich fortbewegte.

    Bäume und Sträucher machten nun einer hügeligen Lichtung Platz. Und auf einmal wusste Don Tiki, woher das Licht kam. Er schalt sich einen Narren, dass es ihm nicht schon früher eingefallen war. Hier im Wald gab es einen alten Luftschutzbunker aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Dort hatten sein Vater und sein Großvater mit ihren Familien Schutz gesucht, als die Alliierten den Odenwald bombardierten. Nach dem Krieg war der Bunker versiegelt worden und der Pfad dorthin war im Laufe der Zeit von der Natur zurückerobert worden. Die wenigsten Menschen wussten, dass es hier einen Bunker gab.

    Jetzt war die Neugierde wieder da, stärker als zuvor. Er wollte wissen, welcher Vollidiot sich nachts in den Wäldern herumtrieb und an dem Bunker zu schaffen machte. Das war eine Geschichte für Mike und seine Stammtischbrüder! Er wäre in Reichelsheim das Gesprächsthema Nummer 1. Er, der Mann im Hawaiihemd! Vorsichtig näherte er sich der Lichtung und versuchte, so leise wie möglich zu sein. Er biss sich auf die Zunge, als ein trockener Ast unter ihm knackte. Der Geschmack von Blut füllte seinen Mund, und er versuchte, es mit seinem Speichel hinunterzuschlucken.

    Vor ihm tat sich die Lichtung auf, und er konnte direkt auf den höhlenartigen Unterschlupf blicken, den seine Familie während den Bombardierungen aufgesucht hatte. Der Bunker selbst war von Granitfelsen umgeben. Dahinter ragten mächtige Tannen in die Höhe, die in der Finsternis wie übergroße Speerspitzen aussahen.

    Jemand hatte das Gitter aufgerissen, denn das Tor hing in einem schiefen Winkel lose in den Angeln. Und Don Tiki hatte Recht gehabt! Das Leuchten drang aus den Tiefen des Bunkers.

    Don Tiki blieb wie angewurzelt am Rand der Lichtung stehen und blickte in den leuchtenden Schlund. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und er spürte ein penetrantes Ziehen in der Nackengegend, als sich die Muskeln verkrampften.

    Wer in Gottes Namen war so verrückt, in einen Weltkriegsbunker einzudringen? Die Teile waren einsturzgefährdet und konnten bei der kleinsten Unvorsichtigkeit in sich zusammenfallen.

    Ihn beschlich immer mehr das Gefühl, dass sich ein paar betrunkene Jugendliche in dem alten Tunnelsystem aufhielten. Ein normaler Mensch würde nie auf eine solch blöde Idee kommen. Er ärgerte sich, dass er sich wegen ein paar Vollidioten beinahe in die Hose gemacht hätte. Der Mann im Hawaiihemd wollte schon auf die Lichtung treten, als etwas aus dem gähnenden Loch trat. Jetzt war die Panik so übermächtig groß, dass er nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Seine Sinne weigerten sich zu akzeptieren, was er da sah. Dieses Etwas war weder ein Mensch noch ein Tier. Vielleicht ein Konglomerat aus beiden Gattungen, doch sein Gehirn weigerte sich, ihm eine vernünftige Erklärung zu geben.

    Das Wesen besaß einen insektenhaften Hinterleib, der entfernt an eine Wespe erinnerte. Die Beine waren nicht dünn, sondern stämmig und mündeten in klauenartige Gliedmaßen, die sich beim Gehen in die lose Erde gruben. Auf dem Rücken waren zwei übergroße durchsichtige Flügel, die im Mondlicht grünlich schimmerten. Der Oberkörper glich zwar dem eines Menschen, war aber mit einer Schicht aus dunklem Horn überzogen, das die nackte Haut wie einen Plattenpanzer bedeckte. Es gab keinen Kopf, sondern ähnlich wie bei einer Blume eine dichte Fülle von Stielen, die in ovalen Blüten mündeten. Die Kreatur blieb am Eingang des Bunkers stehen, sodass sie vom Mondlicht vollkommen erfasst wurde. Don Tiki erschauderte, als er sah, dass es keine Blüten waren, sondern viele kleine Augen – nicht größer als ein Fingernagel —, die auf den Stielen ruhten und unruhig blinzelten. Die Augen blickten ganz langsam von rechts nach links über den Rand der Lichtung. Don Tiki hielt den Atem an. Dann richteten sich die Augen des Wesens auf den kauernden Mann im Dickicht und verweilten dort. Der Mann im Hawaiihemd blickte auf die Fülle von Augen, die ihn musterten. Am liebsten wäre er auf der Stelle umgekehrt und bis nach Reichelsheim ins Tal oder sogar noch weiter gerannt. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Etwas blockierte sämtliche Muskeln in seinem Körper.

    Die Augen des Wesens blinzelten stetig fort, und es war ihm, als schienen sie ihn in ihren Bann zu ziehen. So muss sich Hypnose anfühlen!, dachte er vollkommen verängstigt. Und dann war da plötzlich eine Stimme in seinem Kopf, als würde man ein Radio aufdrehen. Doch die Stimme war nicht menschlich. Er glaubte, dass ein Computer mit ihm redete, der versuchte, eine menschliche Stimme nachzuahmen.

    Verschwinde von hier, Mensch!

    Langsam drehte sich das Wesen wieder um, zog die Flügel ein und verschwand in den Tiefen des Bunkers. Mit dem Verschwinden der Kreatur brach der Bann. Don Tiki konnte seinen Körper wieder kontrollieren. Doch die künstlichen Worte hallten in seinen Gehirnwindungen wider und schienen nicht aufzuhören. Verschwinde von hier! Verschwinde von hier, Mensch! Verschwinde, Mensch …

    Don Tiki wirbelte herum und rannte so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Bei den Bundesjugendspielen hatte es früher nie für eine Siegerurkunde gereicht. Heute hätte er eine Ehrenurkunde bekommen! Mit einer ungeheuren Energieleistung rannte er durch das Dickicht zurück in Richtung Haus. Es war ihm egal, dass er dabei sein kostbares Reyn-Spooner-Hemd aufriss und seine Badelatschen verlor. Er wollte nur noch weg von diesem Ort. Einfach nur weg und in Sicherheit!

    Verschwinde von hier, Mensch!

    Der Tross von Reitern erreichte das Stammhaus in den Abendstunden. Desmond Pickett ritt auf seinem Pferd voran, seine Männer hielten einen gewissen Abstand zu ihrem Boss. Pickett wischte sich die Schweißperlen von seinem Schädel, während er langsam auf das große Hoftor zuritt.

    Links und rechts erhoben sich braune Erdhügel, die von Weitem wie frisch ausgehobene Gräber aussahen. Doch bei näherem Hinsehen entpuppten sich die vermeintlichen Gräber als riesige Ameisenhügel. In den Hügeln tummelten sich Millionen von gefräßigen Insekten. Als er an den Kolonien vorbeiritt, erblickte er die weißen Knochen, die aus den Hügeln herausragten. Hier und da sah man einen Totenkopf grinsen. Die Ameisen hatten die Knochen so abgenagt, dass nur noch die bleiche Farbe zu sehen war. Dies war Picketts Art, um die leblosen Körper seiner Widersacher loszuwerden. Nachdem die Ameisen ihr gefräßiges Werk vollbracht hatten, wurden die Schädel gereinigt und poliert. Auf die Schädel klebte man mit Leim indianische Türkise und befestigte sie anschließend an dem großen Hoftor der Ranch.

    Sie glänzten blaugrün in der Sonne, als Desmond Pickett durch das Tor ritt. Die Knochen waren ein bizarres Kunstwerk von ganz besonderer Wirkung: Leg dich bloß nicht mit Desmond Pickett an!

    Die Ranch bestand aus drei zweistöckigen Holzhäusern, die u-förmig angeordnet waren, und trug den Namen Three-Pearls-Ranch, in Anlehnung an die drei Gebäude, die Picketts Vater in einer Zeit errichtet hatte, als dieser noch in den Windeln lag. In der Mitte der Holzhäuser befand sich ein großer Hof mit einem Brunnen.

    Ein Diener kam mit einem Handtuch und einem Krug frischen Wassers herbeigeeilt. Pickett stieg von seinem Pferd, nahm wortlos das Handtuch in die Hand und begann, den Staub von seinen Reitstiefeln zu wischen. Ein weiterer Bediensteter trat aus dem Haupthaus, das hinter dem Brunnen lag, und nahm das Pferd entgegen, um es zu striegeln. Pickett gab dem Diener das Handtuch zurück und griff nach dem Krug. Das Wasser stammte aus seinem Brunnen und wurde in Fässern im Keller des Gebäudes gelagert, sodass es während der Hitze des Tages schön kühl blieb. Gierig trank Pickett, wobei das kühle Nass an seinem Mundwinkel herunterfloss.

    Gary, das Rattengesicht, gesellte sich zu seinem Boss, die Hände in die fleckige Westentasche gesteckt. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Boss?«

    »Schnapp dir Ricardo und reite nach Cheops! Wir haben den Fünfzehnten und die Schutzgelder sind fällig. Der Bankier soll euch alles aushändigen.«

    »Sollen wir anschließend wieder zurückreiten?«

    Desmond Pickett überlegte kurz, schüttelt dann aber den Kopf. »Bleibt bis morgen in der Stadt. Bringt in Erfahrung, was es Neues gibt in dem Puff.«

    »In Ordnung, Boss!«

    Pickett klopfte dem schlaksigen Kerl auf die Schulter und spürte, wie Garys Körper sich anspannte. Es schmeichelte ihm, dass seine Männer so großen Respekt vor ihm hatten. »Schnappt euch diese Tingeltangel-Girls und besorgt es ihnen ordentlich. Der Fick geht auf mich! Verstanden?«

    Gary grinste über beide Backen und nickte demütig. »Vielen Dank, Boss!«

    Desmond Pickett schenkte dem Rattengesicht keine weitere Beachtung mehr. Stattdessen rief er: »Hey, du da!«, einem jungen Mann mit pechschwarzem Haar zu, der als Halbblut zu erkennen war.

    »Sir?«

    »Sag dem gottverdammten Nigger, dass er uns was kochen soll!«

    »Aye, Sir!« Der Mann mit den indianischen Wurzeln beeilte sich, aus dem Aufmerksamkeitsbereich von Desmond Pickett zu verschwinden.

    Desmond Pickett schritt über den sandigen Hof und erklomm die hölzernen Stufen des Haupthauses. Augenblicklich wurde die Eingangstür geöffnet und ein groß gewachsener Kerl, der einen teuren schwarzen Anzug trug, den wahrscheinlich ein Schneider aus der Stadt angefertigt hatte, erschien im Türrahmen. Die Messingpatronen in seinem Gürtel bildeten einen deutlichen Kontrast zu seiner schwarzen Kleidung. Seine beiden tief hängenden Colts standen weit vom Körper ab. Obwohl er schon älter war, ging etwas sehr Gefährliches von diesem Mann aus. Man konnte die Gefahr fast körperlich spüren. Sein verwittertes Falkengesicht verriet keinerlei Gefühl. Dieser Kerl war nicht nur ein Revolverheld, sondern auch ein eiskalter Killer.

    Der Mann nickte Pickett zu. »Schon wieder zurück?«, fragte Willard und verschränkte die beiden Daumen in seinem Gürtel neben dem Revolverhalfter.

    Müde winkte Pickett ab. »Wir haben ein paar Maverickjäger in die ewigen Jagdgründe geschickt!«

    »Lass mich raten, die armen Kerle mussten singen, und du hast wie ein kleiner Bub vor ihnen gewichst, bis deine Hand geglüht hat.«

    »Woher weißt du das?«

    »Ich kenne dich besser als deine eigene Mutter, Desmond!«

    »Du bist ja auch mein bester Mann!«

    Die beiden Männer betraten das Haupthaus, in dessen Innerem es angenehm kühl war; die drückende Hitze blieb draußen zurück.

    Desmond Pickett war ein sehr reicher Mann. Das Foyer war geradezu protzig eingerichtet: Auf dem Holzboden lagen kostbare Büffelfelle, über dem offenen Kamin, der aus Steinen erbaut worden war, hing der massige Schädel eines Longhorns. Doch die Mitte des Raumes füllte ein hochwertiges Sofa aus gegerbtem Leder, das ein kleines Vermögen gekostet hatte. Davor stand ein Tisch mit Kristallgläsern sowie mehreren Flaschen Bourbon, denn Desmond Pickett verabscheute anderen Whiskey wie die Pest. Eine geschwungene Treppe führte hinauf in den zweiten Stock. Dieser war als Galerie angelegt und man konnte von dort auf das Foyer herunterblicken. Doch der wahre Blickfang im Foyer war ein riesiger schwarz lackierter Klavierflügel, dessen offener Deckel sich neben dem Sofa wie die Schwinge eines majestätischen Schwans erhob. Es war das legendäre 791 Modell aus dem Hause Steinway, einer der ersten Flügel, die in der Neuen Welt gefertigt wurden. Desmond Pickett hatte den weiten Weg nach New York auf sich genommen und eine fürstliche Summe der Familie Steinway bezahlt. Der Weg hatte sich gelohnt. Kein anderes Klavier hatte einen so schönen Klang wie der 791 er.

    Pickett beachtete Willard nicht länger, sondern ging zielstrebig auf den Flügel zu. Er nahm auf dem kleinen gepolsterten Lederschemel Platz und ließ seinen Blick über die Elfenbeintasten wandern, als wolle er sich vergewissern, dass alle 88 Tasten noch am rechten Platz waren. Dann verschränkte er die Finger ineinander und begann, diese kräftig zu dehnen, was schließlich in einem hörbaren Knacken der Gelenke endete. Erst jetzt ließ er die Finger über die Tasten gleiten, eine sanfte Liebkosung. Mit geschlossenen Augen begann Pickett zu spielen. Der Flügel hatte einen kräftigen Klang. Die Musik hallte bis in den letzten Winkel des Foyers. Es war ein melancholisches Lied, das dieser kahlköpfige Mann spielte. Die Melodie so zart und gefühlvoll gespielt, dass sie sofort das Herz jedes Zuhörers berührte. Fast andächtig nahm Willard seinen Hut ab und setzte sich auf die Ledercouch.

    Die stählernen Gesichtszüge von Desmond Pickett entspannten sich schlagartig. Hier an seinem Flügel, da konnte er seinen inneren Frieden finden. Für einen Moment vergaß er die ständige Anspannung und seine Zwänge. Hier an diesem Flügel konnte er den Hass und die unbändige Wut hinter sich lassen. An diesem wunderbaren Instrument war er in der Lage, Gefühle zu spüren, die ihm sonst verschlossen blieben. Und so spielte er mit einem Engelsgesicht fast eine ganze Stunde. Willard saß auf der Couch, den Blick auf einen imaginären Punkt an der Wand gerichtet, versunken in seinen eigenen Erinnerungen.

    Es kamen mehrere von Desmonds Männern ins Foyer, doch niemand wagte es, den Boss in seinem Spiel zu unterbrechen. Einige verharrten und lauschten den gefühlvollen Klängen, ehe sie förmlich auf Zehenspitzen in den angrenzenden Räumen verschwanden.

    Die Melodien, die Desmond spielte, waren allesamt sehr melancholisch gefärbt. Aus ihnen sprach eine tiefe Sehnsucht nach etwas, was verloren gegangen war und niemals wiederkommen würde.

    Plötzlich verstummte der Flügel, die letzten Klänge waren nur noch eine schwache Erinnerung. Willard erwachte aus seinen Gedanken und blickte in Richtung Pickett, dessen Gesichtszüge wieder angespannt waren. Sein haarloser Kopf glich einmal mehr einem Totenkopf.

    »Die Männer haben Neuigkeiten von Jeremy Slater.«

    Pickett schwieg, aber sein Gesicht sprach Bände, denn es verfinsterte sich noch mehr.

    »Seine Maverickjäger haben am Yeoman-Canyon fast hundert Rinder gestohlen. Jetzt tragen sie das Brandzeichen der Blue-Lodge-Ranch.«

    Noch immer zeigte Pickett keine Reaktion.

    »Wir müssen diesem Bastard endlich zeigen, dass es in diesem Land nur ein Gesetz gibt. Und zwar unseres!«

    Doch Picketts Gesicht war weiterhin wie versteinert.

    »Desmond?«

    »Hundert Rinder sagst du?«, fragte Pickett plötzlich, als würde er aus einem tiefen Traum erwachen.

    »Yeah.«

    Jetzt endlich erhob sich Pickett von dem kleinen Lederschemel und trat hinter dem Flügel hervor. Seine Gelenke knackten beim Gehen. »Weißt du, wenn das so weitergeht, wird es hier bald keine Rinder mehr geben. Und du weißt, was das heißt?«

    »Die Siedler werden kommen!«, stellte Willard lakonisch fest.

    »Ganz recht. Sie werden dieses Land einnehmen und verseuchen. Sie werden ihre verfluchten Kirchen errichten und stinkende Fabriken eröffnen. Dies ist das Land meiner Väter. Sie haben ihr Leben dafür gegeben. Kein verdammter Siedler wird sich hier niederlassen!«

    »Mach das mal der Regierung klar!«

    »Ich ficke die Regierung in den Arsch, wenn es sein muss!«

    »Slater ist zu einem echten Problem geworden. Wir müssen handeln, Desmond.«

    »Ich habe so eine verdammte Wut im Bauch«, zischte Pickett und sein ganzer Körper verkrampfte. Willard bemerkte, dass Picketts Schläfe pochte. Das war kein gutes Zeichen! Der Boss würde sich gleich abreagieren. Er konnte die Spannung förmlich spüren, die ihm von seinem Gegenüber entgegenschlug.

    Hastig ging Desmond Pickett an dem Revolverheld vorbei, riss die Tür auf und trat auf die Veranda. Im Hof herrschte emsiges Treiben. Ein Leiterwagen wurde von mehreren Männern mit nacktem Oberkörper ausgeladen. Einige Köpfe blickten erwartungsvoll hoch, als sie Pickett sahen.

    Desmond sah aus dem Augenwinkel den jungen Mann mit den indianischen Wurzeln, der gerade dabei war, eine Winchesterbüchse zu reinigen. Als ob das Halbblut Picketts wutentbrannten Blick spüren würde, blickte es von seiner Arbeit auf. Das Mündungsfeuer war das Letzte, was dessen Gehirn registrierte, bevor es in tausend Stücke geblasen wurde.

    Pickett blies die Rauchfahne von seinem Colt und ließ die Waffe wieder in seinem Halfter verschwinden. Niemand sagte etwas. Die Männer starrten nur gebannt auf den zuckenden Körper des jungen Mannes, dessen Beine über den Boden schabten, als wollten sie nicht wahrhaben, dass sämtliches Leben aus dem Körper gewichen war. Die blaue Hose verfärbte sich dunkel, als sich die Blase zu entleeren begann. Auf dem Boden lag ein Teil seines Hirns.

    »Glotzt nicht so blöd! Geht an die Arbeit!«, schrie Pickett seine Männer an. Und diesmal machte er sich nicht die Mühe zu schauen, ob sie seinem Befehl nachkamen. Wie ein Irrer wirbelte er herum und verschwand wieder im Haupthaus der Three-Pearls-Ranch.

    »Geht's dir jetzt besser?«, fragte Willard.

    »Um dieses dreckige Halbblut ist es nicht schade!«, erwiderte Pickett gereizt.

    »Irgendwann wirst du noch den Nigger erschießen und das wäre verdammt schade. Keiner kann so gut kochen wie Earl.«

    »Können wir jetzt essen?«

    »Seit einer halben Stunde!«

    »Warum hast du nichts gesagt?«

    »Niemand stört den Boss beim Klavierspielen! Ist schlecht für die Gesundheit«, antwortete Willard und klopfte Desmond auf die Schultern. »Selbst für einen Mann meines Kalibers!«, ergänzte er trocken.

    »Geh schon mal vor, ich komme gleich nach. Ich möchte noch nach meiner kleinen Raubkatze sehen!«

    »Ich werde Earl sagen, dass er das Essen warm halten soll. Wenn du zu deiner Raubkatze gehst, dann wirst du dich so schnell nicht mehr hier oben blicken lassen!«, meinte Willard mit einem fetten Grinsen im Gesicht.

    »Nein, nein … ich komme gleich! Für heute habe ich mein Pulver schon verschossen!«

    »Aye!«

    Desmond Pickett winkte seinem besten Mann zu und verließ das Foyer durch eine kleine Tür in der Ecke des Raumes. Eine Treppe führte hinunter in den Keller. Das Haupthaus war das einzige Gebäude auf der Three-Pearls-Ranch, das unterkellert war. Der Keller beherbergte mehrere kostbare Weine aus der Alten Welt, für die Desmond Pickett ein halbes Vermögen bezahlt hatte. Die Flaschen waren mit Schiffen aus dem französischen Seehafen Saint Nazaire nach New York gekommen.

    Der Boss der Three-Pearls-Ranch schritt an den Regalen vorbei, blieb hier und da kurz stehen, um eine besonders wertvolle Flasche in die Hand zu nehmen. Die Flaschen waren mit einer dicken Staubschicht überzogen; Desmond Pickett gönnte sich nämlich nur selten ein Glas Wein, denn dafür waren sie ihm zu kostbar. Für ihn war es mehr eine Sammlung an außergewöhnlichen Raritäten, mit denen er wichtige Gäste zu beeindrucken versuchte. Hinter den Regalen gab es eine geräumige Kammer, die durch ein rostiges Gitter verschlossen war. Desmond Pickett fischte einen kleinen Schüssel aus seiner Brusttasche. Im Nu hatte er das Gitter geöffnet und betrat das fensterlose Gewölbe. In früheren Zeiten hatte Pickett senior den Kellerraum als Waffenlager genutzt, doch jetzt befanden sich sämtliche Waffen und Munition in einem angrenzenden Gebäude der Three-Pearls-Ranch.

    Der Geruch von Exkrementen wehte Pickett entgegen. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Am anderen Ende des Gewölbes rührte sich ein Schatten. Ketten klirrten über den Boden.

    »Na, meine süße kleine Raubkatze, hast du mich

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