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In Schwabing speist der Tod vegan
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eBook328 Seiten4 Stunden

In Schwabing speist der Tod vegan

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Über dieses E-Book

Tom Becker kommt nach einem längeren Aufenthalt zurück nach München, wo man ihm eine gehobene Stelle bei dem Fernsehsender TV 1 angeboten hat. Seine Ex-Freundin Lisa, die inzwischen mit Claudia verheiratet ist, hat in Schwabing ein vegetarisches Restaurant eröffnet. Als Tom das Lokal das erste Mal besucht, spürt er, dass er sich wieder zu Lisa hingezogen fühlt. Aber ihn reizt auch die schöne Köchin Jessica.
Als Tom seinen Einstand in Lisas Restaurant »Veggie« gibt, ist Claudia am Ende des Abends tot, offenbar ermordet. Tom ruft die Polizei, aber wer sollte Claudia getötet haben? Lisa wird als Ehefrau verdächtigt, da Claudia vermögend war. Aber auch das Personal gerät ins Visier der Ermittler. Dem Fernsehdirektor von TV 1 passt es gar nicht, dass der Fernsehsender mit kriminellem Geschehen in Verbindung gebracht wird. Muss Tom um seinen Job fürchten? Dann spielen noch eineiige Zwillinge eine große Rolle, und es tauchen eine Reihe von Schuldscheinen auf ...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum30. Okt. 2023
ISBN9783384049810
In Schwabing speist der Tod vegan
Autor

Jörg Lösel

Jörg Lösel, 1948 in Erlangen geboren, lebt seit 50 Jahren in München. Nach dem Studium der Sinologie, Soziologie und Kommunikationswissenschaften führte er Reiseleitungen nach Asien durch und war als freier Mitarbeiter beim Bayer. Rundfunk/Fernsehen tätig. Ab 1983 arbeitete er als Redakteur im Fernsehbereich des Bayerischen Rundfunks, zuletzt als stellvertretender Leiter und Redaktionsleiter der Programmredaktion von BR alpha. Er betreute fiktionale Fernsehserien sowie Sendereihen aus dem Bildungsbereich mit Prof. Harald Lesch, Prof. Manfred Spitzer u. v. a. Als Gegengewicht zum Fernsehgeschäft, das zu wesentlichen Teilen aus Teamarbeit besteht, verlegte er sich privat auf das Schreiben von Geschichten und Romanen. Zu seinen persönlichen Favoriten gehören die Autoren Haruki Murakami, Bret Easton Ellis und Somerset Maugham; im Bereich der Krimis sind das die Klassiker Raymond Chandler, Dashiell Hammett sowie Michael Robotham, vor allem mit den Geschichten um den Psychologen Joe Loughlin. Jörg Lösel ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder, kocht gerne auch exotische Gerichte und reist viel.

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    Buchvorschau

    In Schwabing speist der Tod vegan - Jörg Lösel

    1

    Tom Becker stellte den schwarzen 1er-BMW, den er bei einem Car-Sharing-Anbieter angemietet hatte, auf einem engen, quer zur Straße liegenden Parkplatz ab und zwängte sich aus der Fahrertür. Er holte seine Aktentasche vom Rücksitz, löste seine Krawatte, zog sein längs gestreiftes hellbraunes Sommerjackett aus und legte es sich über den Arm. In der Stadt stand die Hitze auch noch jetzt am Abend.

    Er verschloss den Wagen mit seiner App und ging schnellen Schrittes die wenigen Meter zur Neureutherstraße.

    Dreigängiges Abendmenü mit scharf-saurer Suppe, veganem Mapo Tofu und Kokoseis mit Mangosoße, Preis: 21,90 Euro, hatte jemand mit Kreide auf eine schwarze Schiefertafel vor dem Eingang des Veggie geschrieben. In dem kleinen Garten vor dem Restaurant standen ein paar Tische, an denen gut gelaunte Menschen ihren Feierabend mit vegetarischen und veganen Köstlichkeiten und biologischen Weinen, Bier, Säften oder Tees genossen. Hier in der frischen Luft würde er eigentlich auch am liebsten sitzen, aber die Tische waren alle belegt und drinnen hatte er sich mit Lisa verabredet.

    Kaum hatte er die Eingangstür hinter sich gelassen, liefen ihm kleine Bäche von Schweiß über das Gesicht und den Oberkörper. Offenbar war im Inneren des Restaurants die Klimaanlage ausgefallen. Ein paar große Ventilatoren bliesen Frischluft in den Raum, und die Gäste wedelten sich mit Servietten, Taschenkalendern und einige Damen mit Fächern Kühlung zu. Tom konnte Lisa nicht entdecken, fragte einen Kellner nach ihr und wurde ins Büro geschickt.

    Er wunderte sich ein wenig, denn das Büro war Claudias Herrschaftsbereich, und der Laden platzte aus allen Fugen. Er schlängelte sich an den dicht stehenden Tischen vorbei, und als er vor der Bürotür stand, nahm er eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen zwei Frauen wahr – die Liebe zwischen Lisa und Claudia hatte offenbar seit ihrer Heirat gelitten. Er klopfte, aber innen reagierte niemand.

    Vor ein paar Jahren wäre Tom wieder abgezogen und hätte an der Bar auf Lisa gewartet, aber nun drückte er den Türgriff herunter und sah eine Claudia mit zerwühltem kurzem Blondhaar und mahlendem Kiefer auf ihrem Bürostuhl sitzen und wütend zu der vor ihr stehenden Lisa blicken, die gerade gestenreich von sich gab: »… behandle unsere Mitarbeiter nicht wie abgefuckte Scheißhaufen! Jessica heult da hinten wie ein Schlosshund, und warum? Sie hat mit Thorsten ein wenig geflirtet, und du hast sie zusammengeschissen, als hätte sie die gesamte Küche zur Hauptgeschäftszeit abgefackelt!«

    Claudia hatte während Lisas Tirade Tom ihren Kopf zugedreht. »Was machst du denn hier? Kannst du nicht anklopfen?«

    Lisa bemerkte ihn erst jetzt. »Hey, Tom!«, sagte sie überrascht, aber mit einem freundlichen Augenaufschlag.

    Tom unterdrückte ein Lächeln. »Ich lass euch lieber in Ruhe, aber ich habe geklopft!«

    Claudia sah einen Moment lang aus, als würde sie ihm am liebsten an die Gurgel springen, hielt sich aber zurück und wandte sich mit einem mürrischen Blick den Abrechnungen zu, die vor ihr auf dem Schreibtisch lagen.

    »Ich komme gleich!«, sagte Lisa zu Tom.

    Er ging zu der kleinen Bar, vor der nur sechs Hocker standen, und bestellte beim Barmann einen Campari Orange. Tom drehte sich zum Restaurant und ließ seinen Blick über die gut besetzten Tische schweifen. Das Alter des Publikums schätzte er im Schnitt auf weit unter vierzig, und die Damen stellten den eindeutig größeren Anteil der Gäste dar. Einige Tische waren nur mit Frauen besetzt, bei denen er allerdings den Eindruck hatte, als würde eine die andere im Aussehen übertrumpfen wollen.

    Er hatte seinen Cocktail schon ausgetrunken, als Lisa sich neben ihn auf einen Barhocker schwang. Tom checkte seine ehemalige Liebschaft mit schnellen Blicken ab: Ihre schwarzen Haare trug sie nun halb lang, eine leichte gelbe Bluse verdeckten ihr Drachentattoo, das sie sich auf den Rücken hatte stechen lassen, und ein schwarzer Rock umhüllte ihre schlanken Beine bis zum Knie. Um die Hüften hatte sie sich eine weiße Servierschürze gebunden.

    »Toll, was du hier erreicht hast. Der Laden brummt und das nach nicht mal einem halben Jahr … oder?«

    Lisa nickte. »Magst du noch einen Cocktail?«

    Tom schüttelte den Kopf, roch Lisas exotisches Parfüm und lächelte sie an. »Da bin ich gleich besoffen. Ein Mineralwasser mit Kohlensäure und einer Scheibe Zitrone.«

    Lisa bestellte beim Barmann für sich das Gleiche, und sie prosteten sich gegenseitig zu.

    »Es geht mich ja nichts an, aber habt ihr öfter solche Auseinandersetzungen?«, fragte Tom.

    Lisa richtete sich nachdenklich auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. »Das passiert halt manchmal, wenn alle unter Strom stehen. Claudia hat es auch schwer, sie muss sich um die Bestellungen kümmern, und das ist nicht immer einfach, wenn du bestimmte Mengen von Tofuhaut, Malabarspinat oder chinesische Jujubedatteln brauchst. Da gibt es schon mal Reibereien, wenn die Küche nicht bekommt, was sie für ihre Gerichte benötigt.«

    Tom ließ das erst einmal so stehen, auch wenn er dachte, dass nach seiner Einschätzung nicht unbedingt die Angestellten in der Küche für die Reibereien zuständig waren. Er hatte Claudia schon als eine sehr schroffe Person erlebt, und er verstand letztlich auch nicht, warum sich Lisa ausgerechnet in diese Frau verliebt hatte. »Aber schön, dass wir uns endlich mal wiedersehen«, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln.

    »Willst du was essen, ich glaube, der Tisch dahinten, neben dem Weg zur Küche, wird gleich frei?«

    »Ich habe an euer Tagesmenü gedacht, bin heute bis auf eine Breze noch nicht zum Essen gekommen.«

    In diesem Moment drangen laute Schreie durch das Restaurant, Claudia rannte mit angstvollem Gesicht aus der Küche zu ihrem Büro, und eine Köchin, die einen großen Kochlöffel schwang, sowie ein Koch mit einer hohen weißen Mütze und einem großen Messer in der Hand liefen ihr hinterher.

    Lisa traten die Augen aus den Höhlen, und sie hielt sich die Hand vor den Mund, als wollte sie einen lauten Schrei unterdrücken. Auch Tom war erschrocken, die meisten Gäste reckten die Hälse, einige standen auf und flüchteten sich in Richtung Eingangstür.

    Nach dem ersten Schrecken raffte sich Lisa auf und eilte den Streithähnen hinterher. Toms Hals war staubtrocken geworden, und er ließ das Mineralwasser in einem Zug durch die Kehle laufen.

    Von der Mannschaft des Veggie war noch ein Kellner im Raum, doch auch der versuchte, sich zurückzuziehen. Tom wusste, jetzt sollte jemand eine Ansage machen, und da niemand aus der Crew dazu in der Lage war, müsste er wohl einspringen.

    Er klopfte mit einem Messer an sein Glas.

    »Bleiben Sie bitte ruhig, und setzen Sie sich. Ich werde mich gleich darum kümmern, was hier los ist. Ich würde auf eine moderne Variante von Theater-Diner tippen. Warten Sie einen Moment, Sie werden gleich Bescheid bekommen.«

    Die meisten Gäste waren ruhig geworden, schauten aber noch verwirrter als bei der Verfolgungsjagd.

    Tom lief zu Claudias Büro und fand dort vor der Tür die Unruhestifter, die Lisa mühevoll zu beruhigen versuchte.

    »Was ist denn bei euch los?«, fragte Tom.

    »Claudia hat die beiden fristlos entlassen, dabei hat sie dazu gar keine Befugnis«, antwortete Lisa ein wenig atemlos.

    »Du musst die Leute im Restaurant beruhigen, da waren schon einige auf dem Absprung. Sag ihnen, dass alles geregelt ist, und ihr wieder auf Normalbetrieb umschalten könnt.«

    »Also, wir reden heute Abend nach der Sperrstunde darüber«, sagte Lisa mit Nachdruck zu den drei anderen, »bis dahin geht jeder seinen Aufgaben nach … wie immer.«

    Claudia lief in ihr Büro und schlug die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu.

    Jessica stand der Zorn noch immer ins Gesicht geschrieben.

    »Diese blöde Zicke! Führt sich auf wie die Axt im Walde und hat nichts zu sagen.«

    Thorsten, der sein Messer weggesteckt hatte, stimmte ihr zu, und die beiden verzogen sich wieder in die Küche.

    Der Tisch, den Lisa für Tom angedacht hatte, war inzwischen frei geworden. Er setzte sich und konnte eine toughe Lisa in Hochform erleben. Sie stand vor der Bar und beschwichtigte die Gäste mehr mit ihrer souveränen Art als mit den Inhalten ihrer Worte. Als sie dann noch verkündete, dass »zur Linderung des erlebten Schreckens ein Getränk je Gast auf Kosten des Hauses gehen« würde, hatte sie alle Gäste auf ihrer Seite.

    Tom war es so warm geworden, dass ihm der Schweiß vom Hinterkopf in den Kragen lief, seine Hände wischte er sich an einer Stoffserviette ab. Das war die schnittige Lisa, in die er sich vor knapp drei Jahren verliebt hatte.

    Sie verbeugte sich und kam unter halb lauten Bravo-Rufen zu Toms Tisch. Lisa sah, dass Tom schwitzte und nichts zu trinken vor sich stehen hatte. Sie winkte einem Kellner und bestellte zwei Bier.

    »Vielen Dank, dass du eingesprungen bist. Das hätte alles sehr uncool ausgehen können. Lass dich mal ansehen: Du hast dich verändert. Du trägst das Haar kürzer als früher, ein weißes Hemd, Sommeranzug und Schnürschuhe mit Ledersohlen. Und zwei, drei Kilo mehr hast du auch auf den Rippen – das ist nicht mehr der Tom, den ich kenne!«, sagte sie neckisch, während sie ihm in den Bauch stupste.

    Tom hatte einen Ausdruck im Gesicht, als würde er sich schämen. War er nicht mehr der junge, rebellische Typ, in den sich Lisa einst verguckt hatte? Er wusste, dass er in den letzten Jahren Kompromisse eingegangen war – auch in der Art, wie er sich kleidete. Er betrachtete nun auch Lisa genauer.

    »Auch bei dir sind die Haare kürzer, aber sonst schaust du aus wie immer. Du riechst auch noch so wie früher. Rockabella’s Shot. Ich hab mir die Marke gemerkt.«

    Verlegen lächelnd spielte Lisa mit einem silbernen Ring an ihrer Hand. »Ich bestelle dir das Menü, und wenn es hier etwas ruhiger geworden ist, komme ich wieder. Dann können wir reden.« Kaum hatte Tom seine scharf-saure Suppe gegessen, saß Lisa schon wieder bei ihm, obgleich es im Restaurant keine Spur ruhiger geworden war.

    »Bist du jetzt wieder dauerhaft in München?«

    »Ja, ich arbeite bei meinem alten Arbeitgeber TV 1, aber jetzt als Redaktionsleiter in der Aktualität. Heute habe ich meinen Arbeitsvertrag unterschrieben.«

    »Gratuliere! Da bist du ein paar Stufen nach oben gerutscht.« Tom nickte.

    »Hast du schon eine Wohnung gefunden? Das ist in München zurzeit keine einfache Sache?«

    Er schüttelte den Kopf. »Ich lebe im Hotel oder genauer in einer Pension nicht weit weg vom Englischen Garten.«

    »Und wo hast du deine Möbel?«

    »Bett, Schrank, Bücherregale, Schreibtisch und Fernseher sind alle eingelagert. Ich möchte schon gern in Schwabing wohnen, aber es ist wirklich nicht einfach, hier etwas zu finden, was auch bezahlbar ist. Hast du noch die Wohnung in der Düsseldorfer Straße?«

    »Ja, glücklicherweise habe ich sie untervermietet, als ich nach Augsburg ging, und konnte jetzt wieder einziehen.«

    Tom sah Lisa mit einem spitzbübischen Grinsen an. »Ich könnte doch auch wieder bei dir wohnen, oder?«

    Lisa lehnte sich zurück, breitete die Hände aus und zwinkerte ihm zu. »Ich denke, Claudia wäre darüber nicht begeistert. Sorry.«

    Seufzend hob Tom die Schultern. »Dann muss ich wohl in meiner Pension mit der Siebzigerjahre-Ausstattung versauern.«

    »Wenn du mich sehen willst, bist du jederzeit im Veggie willkommen.«

    Bei diesen Worten stand Lisa auf, beugte sich vor, sodass er in den Ausschnitt ihrer gelben Bluse sehen konnte, und gab ihm einen dicken Kuss auf den Mund. »Ich muss jetzt weitermachen – abkassieren, abrechnen und so weiter. Du bist heute eingeladen.« Sie streichelte ihm noch einmal über die Wange, checkte sich am Gastro-Kassensystem ein und stornierte Essen und Getränke an Tisch dreizehn.

    Tom beobachtete Claudia. Sie hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und stand mit zornigem Gesichtsausdruck vor ihrem Büro. Er erhob sich, nahm sein Sakko von der Stuhllehne, warf Lisa eine Kusshand zu und verließ das Lokal.

    Draußen schien der Vollmond auf die Tische im Vorgarten. Nur noch wenige Gäste genossen einen letzten Absacker. Tom setzte sich auf einen Stuhl und versuchte, die laue Nacht für ein paar Minuten in Ruhe zu genießen. Zwei Tische vor ihm hing eine Desigual-Handtasche mit blumiger Bordüre und einer stilisierten, großen Sonne über der Lehne eines Biergartenstuhls, offenbar hatte es eine Dame mit dem Aufbruch sehr eilig gehabt.

    Er roch den Sommer, der sich mit den Resten von vegetarischen Speisen, Bier und Wein verband. Jetzt wäre eine Zigarette recht, ging es ihm durch den Kopf, aber er hatte das Rauchen aufgegeben und wusste um die Gefahren des »Einmal-um-einen-Glimmstängel-Schnorrens«. Er lenkte sich ab, indem er der jungen Frau mit den langen blonden Haaren beim Abräumen der Tische zusah. Es war die Köchin, die vorhin Claudia am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Jetzt hatte sie ihre Kochjacke und Schürze abgelegt, trug ein luftiges T-Shirt und die Haare offen. Er sah ein schönes, ebenmäßiges Gesicht, gepaart mit der Figur eines Models. Sie spürte Toms Blick und sah zu ihm hin. Ein, zwei Sekunden schien für ihn die Erde stillzustehen, doch ein Ruf aus dem Inneren des Restaurants zerstörte den stimmungsvollen Moment: »Jessica, hier steht noch massenhaft Geschirr auf den Tischen! Wo bleibst du denn?«

    »Ich bin hier draußen noch beim Aufräumen. Ich komme gleich.« Dabei zog sie mit einem Blick zu Tom fast entschuldigend die Augenbrauen hoch.

    Er winkte ihr zu und rief: »Da hat jemand eine Handtasche vergessen.«

    Sie eilte mit einem großen Tablett, das mit Geschirr, Besteck und Essensresten voll beladen war, zu dem Tisch, stellte das Tablett ab, hängte sich die Tasche mit der großen gelben Sonne über die Schulter und nahm es wieder auf.

    »Vielen Dank, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben«, sagte Jessica und lief an ihm vorbei zum Hintereingang des Veggie.

    Jetzt hatte er schon zwei Gründe, wieder herzukommen.

    2

    »Ich lass mir das verdammt noch mal nicht weiter bieten!« Claudia saß an ihrem Schreibtisch im Büro und hämmerte mit einer Faust auf die Oberfläche, dass die Stifte in ihrem Behälter in die Höhe hüpften. »Das Restaurant ist knallvoll, die Gäste warten auf ihre Speisen, und ihr turtelt in der Küche herum, anstatt zu arbeiten!« Dabei sah sie Jessica und Thorsten unheilvoll an, die beide mit verkniffenen Gesichtern auf der anderen Seite des Schreibtisches standen. »Wenn ich mich darüber beschwere, geht ihr mit dem Messer auf mich los. Wo gibt es denn so was?! Eigentlich sollte ich die Polizei rufen – das ist schlichtweg ein lebensbedrohliches Verhalten!«

    »Ich bin nicht mit dem Messer auf dich los! Ich hatte es in der Hand, weil ich gerade den Staudensellerie klein geschnitten habe«, sagte Thorsten zornig und mit feuchter Aussprache.

    Lisa beobachtete die Szenerie aus der Distanz von einer Besuchercouch aus: Thorsten wirkte mit dem Haarnetz über seinen langen dünnen Haaren und dem gut gepolsterten Bauch wie ein zweitklassiger Schauspieler, der in einer Gangsterkomödie den leicht debilen Cousin eines sizilianischen Mafia-Bosses spielen musste. Wenn die Sache nicht so emotional aufgeladen gewesen wäre, hätte sie sicher laut herausgelacht.

    »Ich habe also gearbeitet«, fuhr Thorsten fort, »als du uns angeschrien und uns mitgeteilt hast, dass wir gefeuert wären. Jetzt lass mal bitte die Kirche im Dorf.«

    »Du kannst uns nicht einfach rausschmeißen!«, schaltete sich Jessica ein. »Wir haben schließlich einen Vertrag, und wir arbeiten hier nicht zu wenig – das kannst du mir glauben. Ich kenne auch die Arbeit in anderen Restaurants.«

    Mit einem Achselzucken wischte Claudia die Einwände ihrer Belegschaft vom Tisch. »Und du«, wandte sie sich jetzt an Lisa, »unterhältst dich stundenlang mit einem Gast, anstatt mitzuhelfen, während hier der Bär tobt, und küsst ihn noch auf den Mund. Was fällt dir denn ein? Bist du völlig verrückt geworden?«

    Lisas Wangen hatten sich gerötet, sie richtete sich auf und funkelte Claudia an. »Wenn es dich ärgert, dass ich mit einem alten Freund rede und ihm einmal einen Kuss gebe, dann tut es mir leid, ich wollte nicht respektlos sein. Bist du deshalb so auf hundertachtzig? Ich denke, solche Dinge sollten wir unter vier Augen klären.«

    Feindselig starrte Claudia ihre Lebensgefährtin an, die noch mehr zu sagen hatte.

    »Immerhin hatte meine Unterhaltung auch etwas Positives für unser Veggie. Tom will das gesamte Lokal für eine Redaktionsfeier mieten – da ist die Hütte voll und die Fernsehleute werden auf uns aufmerksam. Das kann sicher nicht schaden.«

    »Wahrscheinlich hast du ihm gleich Sonderkonditionen angeboten!«, konterte Claudia hitzköpfig.

    »Quatsch, ich habe ihm gesagt, dass die Finanzen dein Job sind. Aber ich will noch etwas dazu sagen, was Jessica und Thorsten angesprochen haben. Du kannst nicht einfach die Leute rausschmeißen, die haben Verträge – das kann ich nur bestätigen. So geht das nicht. Ich habe dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden! Du führst dich auf, als wärst du der Vorstand von Apple oder Amazon. Wenn es hier im Veggie Probleme gibt, dann sollten wir das wie normale Menschen in aller Ruhe ausdiskutieren. Ich will hier einen angenehmen Umgang mit der Belegschaft haben!«

    Claudia war aufgesprungen und lief auf Lisa zu. »Du weißt, ich habe dieses Restaurant, das du unbedingt haben wolltest, finanziert. Da habe ich auch das Recht, darauf zu pochen, dass hier kein Schlendrian einzieht.«

    Lisa erhob sich ebenfalls und stand mit den Fäusten in der Hüfte vor Claudia. »Schlendrian? Wo findest du hier Schlendrian? Alle tun ihr Bestes, und das Restaurant läuft hervorragend. Was willst du denn?«

    Thorsten atmete schwer aus und schüttelte den Kopf, Jessica versuchte, sich sachlich zu geben, und fragte: »Sind wir jetzt eigentlich entlassen oder nicht?«

    Lisa ging Claudia, die ihr bedrohlich nähergekommen war und versucht hatte, sie am Arm zu packen, ein paar Schritte aus dem Weg.

    »Keine Sorge, Jessica, alles bleibt, wie es ist!« Mit diesen Worten lief sie zur Tür hinaus. Thorsten und Jessica folgten ihr und ließen Claudia, der noch immer die Wut im Gesicht stand, zurück.

    Jessica hatte sich schnell von ihren Kollegen verabschiedet, und Lisa saß mit einem halb geleerten Bierglas an einem Tisch im Restaurant. Plötzlich drang lautes Gebrüll aus dem Büro an ihre Ohren. »Thorsten, verdammt, wo bist du? Thorsten, komm noch mal!«

    Lisa ließ seufzend ihren Kopf hängen, und der Gerufene brüllte mürrisch zurück, während er gerade seine Kochjacke an eine Garderobe hängte: »Was ist denn jetzt schon wieder los? Ich habe Dienstschluss!«

    »Du hast mir deine Einkaufsliste für morgen noch nicht gegeben, verdammt! Das meine ich mit Schlendrian! Jetzt komm endlich!«

    Thorsten griff in die Jackentasche an der Garderobe und holte einen Zettel hervor, während er vor sich hin nörgelte: »Kein Wunder! Hier wird man ja ganz meschugge.«

    Mit finsterer Miene trottete er zum Büro, wischte sich den Schweiß von der Stirn und drückte die Türklinke herunter.

    Claudias Fäuste lagen geballt auf dem Schreibtisch, und sie hatte das Kinn vorgeschoben. Sie wirkte wie ein Boxer, der sich für die nächste Runde eines Kampfes um den Meistertitel bereit machte. Unerschrocken ging Thorsten auf sie zu und warf den Zettel auf den Tisch. Als er sich schon wieder umwandte und den Raum verlassen wollte, rief Claudia: »Halt! Hiergeblieben! Das kann ja kein Schwein lesen, was du da gekritzelt hast.«

    Genervt drehte sich Thorsten wieder seiner Chefin zu: »Was kannst du denn nicht lesen?«

    »Da hier: Apfelpilz. Was soll denn das sein?«, fragte sie ungeduldig.

    »Ach … Affenkopfpilze. Das bestellen wir doch jede zweite Woche.«

    Leise fügte Thorsten noch hinzu: »Dieser Pilz wird auch in der chinesischen Medizin eingesetzt. Vielleicht würde der auch dir helfen.«

    »Was meinst du damit, er würde auch mir helfen?«, fragte Claudia mit einem warnenden Unterton.

    Thorsten hatte eine Hand lässig in die Hüfte gestemmt und sagte schelmisch: »Ich meine, vielleicht hilft der Pilz auch bei Zickenterror.«

    Claudia sprang von ihrem Stuhl auf, lief um den Schreibtisch herum und pflanzte sich vor Thorsten auf. »Du hältst jetzt dein freches Mundwerk!«, schrie sie ihn an und fuchtelte dabei mit dem Zeigefinger vor seinem Gesicht herum. »Was bildest du dir eigentlich ein, so mit mir zu reden? In einem Jahr wirst du wieder hier vor mir stehen, und dann bin ich mal gespannt, ob du mit erhobener Brust kommst oder ob du vor mir zu Kreuze kriechst, weil du mir das nicht geben kannst, was du in unserer Vereinbarung unterschrieben hast. Du weißt ganz genau, was ich meine. Und jetzt raus, mir reicht’s mit dir!« Claudia ging zur Tür, riss sie auf und komplementierte Thorsten kräftig, mit einer Hand winkend hinaus.

    3

    Der Hausmeister hatte Tom lange vor dem offiziellen Arbeitsbeginn zu seinem künftigen Büro begleitet, ihm die Tür aufgeschlossen und den Schlüssel übergeben. Hier war nun sein persönliches Reich im Fernsehsender TV 1. Es war das Zimmer des launischen bis unausstehlichen Redaktionsleiters Walter Neuwirt, der dem Hospitanten Tom Becker häufig Unverschämtheiten an den Kopf geworfen hatte. Neuwirt war vom Fernsehdirektor aus dem redaktionellen Bereich des Senders herausgenommen und zum Chef der Produktions- und Aufnahmeleiter degradiert worden. Ein Grund für die Versetzung war öffentlich nicht kundgetan worden, aber hinter vorgehaltenen Händen munkelte man, dass er ein paarmal zu oft die Berichterstattung über wichtige landespolitische Ereignisse verschludert hatte. Tom war sein Nachfolger in der Redaktion Aktuelles geworden und durfte in dessen Zimmer residieren.

    In diesem Moment freute er sich über seinen steilen beruflichen Aufstieg, der ihm durch seine Tätigkeit in den Redaktionen von Tagesschau und Tagesthemen in Hamburg bei der ARD ermöglicht worden war. Er öffnete die Fenster, um den Mief, den ihm sein Vorgänger hinterlassen hatte, hinaus in die Natur zu leiten.

    Tom setzte sich an den Schreibtisch, holte ein paar Dokumente und eine Zeitung aus seiner Aktentasche und schaltete den Computer ein, um die neuesten Meldungen der Nachrichtendienste durchzusehen.

    Die rothaarige Redaktionsassistentin, die ihm gegenüber beinahe so unangenehm gewesen war wie Neuwirt selbst, streckte ihren Kopf mit einem übertriebenen Lächeln zur Tür herein.

    »Das ist aber sehr schön, Herr Becker, dass Sie wieder bei uns sind. Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?«

    »Ja, sehr gern. Ich hoffe, wir werden in Zukunft gut und kollegial zusammenarbeiten.«

    »Natürlich, Herr Becker! Das hoffe ich auch.«

    Mit diesen Worten verzog sich die Dame wieder, zu der Tom gerade nicht einmal der Name einfiel. Er musste bei Gelegenheit auf ihr Türschild schauen, um keine Peinlichkeit heraufzubeschwören. Er war keineswegs erfreut, die Altlasten von

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