Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Dead End Justice: Ein Fall für Harriet Fox
Dead End Justice: Ein Fall für Harriet Fox
Dead End Justice: Ein Fall für Harriet Fox
eBook331 Seiten4 Stunden

Dead End Justice: Ein Fall für Harriet Fox

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Jahr 1985 verschwindet die Schlagzeugerin der Pop-Gruppe Queens of Noise nach dem Auftritt beim Glastonbury-Festival spurlos. 38 Jahre später taucht deren Schwester bei Harriet Fox, der Leiterin des kleinen Polizeireviers in Wareham/Dorset auf und drängt darauf, dass der Fall endlich geklärt wird.
Zusammen mit John Taylor, einem ehemaligen Commander von Scotland Yard und seiner Lebensgefährtin, Nicki Sterling, taucht Harriet in die Vergangenheit und begibt sich die abgründige Welt von Rock und Pop.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. Aug. 2023
ISBN9783347999848
Dead End Justice: Ein Fall für Harriet Fox
Autor

Ralf Göhrig

Ralf Göhrig wurde 1967 in Eberbach am Neckar geboren. Seit rund dreißig Jahren lebt und arbeitet der anglophile Förster in Jestetten am Hochrhein. Seine literarischen Spuren hat er in forsthistorischen Betrachtungen, sowie vereinsgeschichtlichen Rückblicken hinterlassen. Seit 1995 ist er Autor für die Jestetter Ortschronik, seit 2019 hauptverantwortlicher Chronist der Gemeinde. Daneben arbeitet Göhrig als freier Mitarbeiter beim Südkurier. Im Jahre 2011 legte er mit "Kopflos in Cornwall" seinen ersten Kriminalroman vor. Es folgten "Mörderischer Sturm", "Jerusalem", "Schatten folgen dem Licht", "Der Cornwall-Ripper", "Sendeschluss in Edinburgh", "Verlorene Seelen", "Dämonen", die Erzählungen "Geschenk des Himmels" und "Lotty" sowie der Gedichtband "Purpurne Zeit". Ralf Göhrig ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Mehr von Ralf Göhrig lesen

Ähnlich wie Dead End Justice

Ähnliche E-Books

Mystery für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Dead End Justice

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Dead End Justice - Ralf Göhrig

    Kapitel 1

    Corfe Castle, im Süden der Grafschaft Dorset gelegen, ist mit seiner gleichnamigen Burgruine, die sich auf einem Hügel bizarr drohend über das kleine Dorf erhebt, der Inbegriff des romantischverschrobenen Englands. Mehr als 2.000 Jahre, teils blutige Geschichte prägen den Ort. Die ersten Siedler kamen bereits vor 8.000 Jahren auf die Halbinsel am Ärmelkanal. Heute bestimmen Rentner und Touristen das Bild der Gegend. Und während sich Autoschlangen auf der engen Hauptstraße zwischen den pittoresken Steinhäusern hindurch gen Südwesten zur Hafenstadt Swanage drängten, lag Harriet Fox noch in ihrem Bett, wälzte sich zwar von der einen Seite auf die andere, aber verspürte noch überhaupt keinen Drang aufzustehen. Die Sonne stand längst hoch am Himmel, es war sicherlich schon fast Mittagszeit, doch der Morgen war bereits angebrochen, als sie nach Hause gekommen war.

    Harriet fragte sich, wie lange sie sich noch die Nächte um die Ohren schlagen wollte, während normale Menschen schliefen. Gesund war diese Lebensweise sicherlich nicht, auf der anderen Seite war der zusätzliche Verdienst nicht schlecht und es gab auch niemanden, der sich daran störte oder am Abend auf sie wartete. Der Drang, auf die Toilette zu gehen, zwang sie dann aber doch, das Bett zu verlassen. Schlurfend suchte sie das Badezimmer auf und ein kurzer Blick in den Spiegel ließ sie kurz zusammenzucken. Sie erkannte das Gesicht ihrer eigenen Großmutter – grau mit tiefen Falten, nur mit dem Unterschied, dass diese niemals ein Mickey- Maus Nachthemd getragen hätte. Also war sie sich sicher, dass sie keinen Geist gesehen hatte, sondern lediglich dem Lebenswandel Tribut zollen musste.

    Harriet ging in die Küche, machte sich eine Tasse Tee und begab sich zurück zu ihrem Nachtlager, nicht ohne jedoch vorher den Vorhang und das Fenster zu öffnen. Die kühle Herbstluft strömte herein und sie bildete sich ein, die salzige Luft des nahen Meeres wahrzunehmen. Da sie erst wieder in zwei Tagen arbeiten musste, beschloss sie, am heutigen Tag das Bett lediglich für das Unvermeidliche zu verlassen. Sie hatte eine große Auswahl an Büchern rund um ihren Schlafplatz positioniert und das Ipad mit der unendlichen Fülle von Literatur aller Art, die heruntergeladen werden konnte, würde sogar gewährleisten, dass sie den Rest ihres Lebens – das hoffentlich noch recht lange währte, schließlich war sie erst 33 – lesend im Bett verbringen könnte.

    Harriet stammte aus einem kleinen Kaff in Yorkshire – Reeth im malerischen Swaledale – und lebte seit rund fünf Jahren in Dorset. Dies hatte genaugenommen drei Gründe. Der vielleicht Wichtigste war, dass sie eine toxische Beziehung zu dem unglaublich gutaussehenden Rob Miller beenden musste, bevor sie sich total von ihm abhängig machte. Rob war aber auch ein wahnsinnig toller Mann – wenn man auf ausgefallenen Sex, schnelle Autos, gefährliche Abenteuer und exotische Reisen stand. In genau dieser Reihenfolge. Dass er weder treu noch ehrlich war und ihr hart verdientes Geld als sein eigenes ansah, waren die negativen Punkte dieses Verhältnisses. Der zweite Grund war der Job, der ihr in Dorset angeboten wurde – und wer würde nicht gerne aus den regnerischen Yorkshire Dales in die Sonnenstube Englands ziehen? Der dritte Grund schließlich war eine praktische Familienangelegenheit gewesen. Auntie Helen, die Schwester ihres Vaters war mit ihrem kauzigen Gatten in ein Seniorenheim auf der Isle of Wright gezogen, und so stand ihr Haus leer. Da die beiden keine Kinder hatten und das Haus in Corfe Castle, wo die beiden mehr als drei Jahrzehnte lang als Lehrer arbeiteten, nicht verkaufen wollten, sondern lieber an ein Familienmitglied vermieteten, war dies für Harriet ein eindeutiges Zeichen, den Norden zu verlassen und das Glück im Süden zu suchen.

    Hatte sie dieses Glück inzwischen gefunden? Immerhin war sie beruflich aufgestiegen und das Wetter im Süden zeigte sich tatsächlich von der Sonnenseite. Und Touristen gab es hier, wie da. Einen neuen Partner aufzugabeln indessen schien schwerer zu sein, als sie sich das zunächst erhofft hatte. Nicht dass ihr Hauptinteresse einem neuen Mann gegolten hätte, doch die vernünftigen Männer – Harriets Ansicht nach – waren im Süden genau so selten anzutreffen, wie im Norden. Mit einem Arbeitskollegen wollte sie sich nicht einlassen – zu kompliziert – auch wenn der eine oder andere sicherlich Interesse zeigte; Harriet blieb standhaft, was ihr sicherlich unter Kollegenkreisen einen wenig schmeichelhaften Ruf einbrachte. Sie wusste, wie das lief. Wer sich schnell bezirzen ließ, galt als leichtes Opfer, wer standhaft blieb, wurde im besten Fall mit den Attributen kühl und unnahbar versehen. Harriet war egal, was die Kollegen über sie dachten, egal ob männlich oder weiblich. Sie wollte einen guten Job machen, und das tat sie. Und überhaupt war sie zufrieden mit dem hier und jetzt und wollte sich keine Gedanken über vage Optionen machen. Sie lebte im Heute und nicht im ungewissen Morgen. Dass sie eher den Ruf einer Außenseiterin hatte, als Einzelgängerin galt und auch mit den Nachbarn nur das absolut Notwendige redete, beunruhigte sie in keiner Weise.

    Nachdem sie den Tee getrunken hatte, ging sie abermals ins Badezimmer und warf einen weiteren Blick auf ihr Spiegelbild. War sie etwa eitel? Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und das Spiegelbild lächelte zurück. Offenbar hatte der Tee das Hautgewebe vitalisiert, die tiefen Falten waren verschwunden. Harriet Fox hatte dunkelbraune Augen, die jedoch von den dicken, dunklen Brauen dominiert wurden; langes, schwarzes, schulterlanges Haar, volle Lippen und einen – für britische Verhältnisse – breiten Mund, hohe Wangenknochen und eine etwas zu breite Nase – weshalb sie als Teenager über eine chirurgische Maßnahme nachgedacht hatte – heute fand sie ihre Nase ganz in Ordnung.

    Sie stand eine ganze Weile vor dem Spiegel und setzte die Begutachtung ihres Körpers fort und bis auf ihren – ihrer Meinung nach – zu üppigen Busen, war sie ganz zufrieden. Unzufrieden hingegen war Harriet mit der Sauberkeit ihres Badezimmers. Kein Wunder, entweder sie ging ihrem Beruf nach oder sie schlief aus oder saß lesend im Bett. Von allein wurde eine Wohnung nicht sauber. Doch eine Putzkraft zu engagieren, erschien ihr dann doch übertrieben. Ganz abgesehen davon, hätte sie auch niemanden gefunden, der das Haus in Ordnung bringen würde – legal jedenfalls nicht. Die Alternative einer illegalen Migrantin kam aus verständlichen Gründen nicht in Frage. So änderte sie ihren Plan für den heutigen Tag und beschloss, die alte Jeans und das noch ältere T-Shirt anzulegen und Putzeimer und Lappen zu schnappen. Vorher wollte sie dann aber doch noch etwas essen.

    Der Blick in den Kühlschrank war ernüchternd: Milch, Butter, welker Salat und etwas Joghurt. Immerhin war noch etwas Müsli im Glas auf dem Regal. Harriet musste dringend einkaufen. Auch das noch. Zum Glück gab es im Dorf einen kleinen Laden, wo man sich mit dem Notwendigen eindecken konnte, ohne sich ins Auto setzen zu müssen. Doch meistens führte Harriets Weg nicht in ein Lebensmittelgeschäft, sondern sie ging in einen der zahlreichen Pubs, wo es immer eine reichhaltige Auswahl an einfachen Mahlzeiten gab. Wieso sollte sie einkaufen, wenn sie sowieso meist nicht zu Hause war? Und da Harriet keine geübte Köchin war, stellte der Besuch im Pub meist die bessere Option dar. Und Bier aus dem Fass war der Plörre aus Flasche oder Dose ohnehin überlegen.

    Sie mampfte das Müsli, beobachtete dabei eine Fliege am Fenster, die einen hoffnungslosen Versuch startete, nach draußen zu gelangen. Waren die Menschen nicht wie diese Fliege?, dachte Harriet. Die weite Welt vor Augen, doch keine Möglichkeit, aus dem eigenen Gefängnis zu entkommen. Die Welt als Illusion, als Abbild. Oder vielleicht doch eine andere Realität als die eigene? Jedenfalls war der Weg zum Ziel immer nur durch Umwege zu erreichen. Man musste sich vom Offensichtlichen lösen und das Ungefähre, Ungewisse in Angriff nehmen.

    22. Juni 1985

    Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und es schien, als würde er sie niemals mehr schließen. Der Regen prasselte seit Stunden auf die grüne Wiese, die sich inzwischen in eine Schlammwüste verwandelt hatte. Die 40.000, überwiegend jungen Menschen, teils in Gummistiefeln, teilweise in Turnschuhen und manche auch ganz ohne Schuhe, allesamt jedenfalls bis zu den Knöcheln im Matsch versunken, störte das Wetter in keiner Weise. An diesem Wochenende waren Joe Cocker, Midnight Oil, Clannad und die Boomtown Rats auf die Worthy Farm zum Glastonbury Festival gekommen. Wer hielt sich da schon mit Nebensächlichkeiten, wie dem Wetter auf? Immerhin trotzten auch die Zelte, die sich auf dem Farmland hügelaufwärts erstreckten, den Unbilden der Naturgewalten. Die große ungelöste Frage war, wie all die Autos, die jetzt im Schlamm feststeckten, spätestens am Montag wieder von hier wegkommen würden. Doch an Zukünftiges dachte hier kaum jemand – allenfalls an die mögliche Zerstörung der Welt durch Atomraketen. Diese würden zumindest die hohe Jugendarbeitslosigkeit beenden, die durch die Politik der verhassten Premierministerin, Maggie Thatcher, verursacht wurde. Eine Thatcher-Puppe an einem Galgen demonstrierte die Verachtung, die die Jugendlichen der Eisernen Lady entgegenbrachten.

    Die Hauptbühne glich einer Pyramide mit Vorzelt an deren Spitze das „Peace-Symbol prangte. Davor, dicht gedrängt, ein buntes Mosaik aus Regenjacken, eine geballte Ladung Energie frustrierter Mittelstandskids, die den Alltag vergessen wollten und dabei in der dunklen Welt des Dark Waves versanken. Die hoffnungsfrohe Utopie der Hippiezeit war endgültig Vergangenheit. Die Welt und das Leben waren grau – wie der tiefhängende Himmel. Selten erschien das Leben einer jungen Generation trostloser, als jenes derer, die vierzig Jahre später despektierlich in die Gruppe der Boomer geworfen wurden, obwohl sie eigentlich erst nach dem großen Baby-Boom der 1950er Jahre das Licht der Welt erblickten. Doch eigentlich passt das zu dieser traurigen Jugend der 80er Jahre – die Schuld an allem Elend der Welt zu schultern ist kaum eine zusätzliche Bürde. An die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts dachte an diesem 22. Juni 1985 noch niemand, soweit wollte und konnte man nicht in die Zukunft blicken. Schließlich würden Atomkrieg, Waldsterben, Ozonloch und am Ende das Schmelzen der Pole das Leben auf der Erde ohnehin verunmöglichen. Die Apokalypse stand bevor und Filme, wie „Mad Max oder „The day after" dominierten die Kinoleinwände.

    Während die Festivalbesucher draußen im Regen standen, saßen Lauren King und Alisson Butler im Tourbus, der rund 200 Meter hinter den Bühnen stand. Sie waren Sängerin und Keyboarderin der Queens of Noise, einer All-Female-Band, die vor fünf Jahren gegründet wurde, um in die Fußstapfen der Runaways, der ersten reinen Mädchen-Rockband zu treten. Nach anfänglichen Erfolgen zerbrach diese Teenagerband an den Umständen, dass die minderjährigen Mädchen einem kaum zu bewältigenden Stress ausgesetzt waren und das professionelle Umfeld, das diesen hätte kompensieren können, nicht vorhanden war. Die Runaways lösten sich auf, die Musikerinnen kehrten dem Musikbusiness den Rücken oder beschritten eigene Wege, wie Joan Jett die mit den Blackhearts bis heute unterwegs ist oder Micki Steele, die mit den Bangles Erfolge feierte.

    Diese Lücke wollten ab 1980 fünf englische Mädchen füllen und sie wählten als Bandnamen einen der erfolgreichsten Musiktitel der Vorbilder. Nun waren die 80er Jahren nicht die Zeit des Hardrocks und so mussten die Mädels mit der Zeit gehen, um erfolgreich zu sein. Nach einigen Personalwechseln landete die Gruppe beim Dark Wave und zwei Musikalben später, im Jahre 1985 erfolgte das Engagement beim Glastonbury-Festival. Neben Lauren King und Alisson Butler gehörten damals Katie Clarke (Schlagzeug und Percussion), Tanya Watt (Elektrische und Akustische Gitarre) sowie Tara Green (Bassgitarre, Violine und Queerflöte) zur Band. Von der ursprünglichen Besetzung waren Lauren, die Sängerin und Katie, die Schlagzeugerin, noch an Bord. Und im Live-Programm gab es Mitte der 80er lediglich noch die „Queens of Noise sowie die „Cherry Bomb aus den alten Runaway Zeiten. Immerhin waren zu dieser Zeit noch alle fünf im Teenageralter, auch wenn Katie und Tara im Laufe des Jahres ihren 20. Geburtstag feiern konnten. Lauren war 19, Tanya 17 und Alisson, das Küken, 15 Jahre alt. Letztere war erst kürzlich zur Band gestoßen, nachdem sie keine Lust mehr hatte, als Wunderkind am Klavier von einem Konzertsaal zum nächsten weiter gereicht zu werden, um greise und scheintote Spießer mit Variationen von Bach und Beethoven zu entzücken. Insofern hatte sie die größte Erfahrung in der Musikbranche, denn bereits im Alter von sechs Jahren meinten ihre Eltern, dass aus dem Kind eine große Pianistin werden müsste. Der Wechsel vom seriösen Klavier zum elektrischen Synthesizer war für ihre Familie ein Kulturschock, für Alisson eine Befreiung. Außerdem konnte sie bei der Band auch Klavier spielen, wenn sie wollte. Sie liebte es, zu improvisieren und auf der Konzertbühne die Pannen ihrer Kolleginnen auszubügeln. Schließlich war sie schon lange Zeit ein Profi, während die anderen Mädels im besten Fall an ihren Aufgaben wuchsen. Besonders Tanya musste wohl noch einiges lernen und wäre in einer Punk-Band wohl besser aufgehoben gewesen. Doch Katie sorgte immer für den richtigen Takt und Lauren konnte mit ihrer Stimme kochendes Wasser schockgefrieren.

    „Wie lange noch", fragte diese, die Löwenmähne mit mindestens einer Dose Haarspray in Form gebracht.

    „Fünfzehn Minuten, aber das verzögert sich doch alles. Die Jungs, die vor uns dran sind, spielen immer noch", antwortete Alisson ohne Spur von Nervosität.

    „Bist du immer so entspannt?"

    „Was soll schon schief gehen? Die Kids wollen gute Musik und Spaß haben. Da sitzt kein Kritiker, der aus dem kleinsten Fehler eine Staatsaffäre macht. Und du triffst den Ton immer. Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Sie zwinkerte ihr zu. „Wenn die Leute dich sehen, sind sie doch schon aus dem Häuschen. Blonde Bombshell, was soll schon schief gehen?

    „Manchmal würde ich mir wünschen, dass die Typen in mir die Sängerin sehen und nicht die blonde Sexbombe." Lauren zuckte mit den Schultern.

    „Du kannst ja ins klassische Fach wechseln. Aber ich fürchte, da ist es auch nicht besser. Mir ist es lieber, 20-jährige sind scharf auf mich, als 60-jährige. Also ist es doch besser, hier aufzutreten, als in der Albert Hall."

    Lauren überprüfte ihr Aussehen nochmals in einem Handspiegel. „Vermutlich hast du recht."

    „Ich habe fast immer recht. Meine Befürchtungen sind nur, dass der Regen die Elektronik in Mitleidenschaft zieht."

    „Wenn dein Sythie nicht funktioniert, wechseln wir zurück zum Rock’n’Roll."

    „Meinetwegen."

    Lauren kramte eine Zigarette aus einer zerknitterten Schachtel, die vor ihr auf dem Klapptisch lag. „Magst du auch eine?"

    Alisson schüttelte den Kopf. „Schmeckt mir nicht. Außerdem brauche ich kein Aufputsch- oder Beruhigungsmittel vor einem Auftritt."

    „Tara macht mir etwas Sorgen. Ich hoffe, sie hat sich nicht mit der Gin-Flasche in irgendein Loch zurückgezogen."

    „Das bisschen Bass zupfen schafft sie schon."

    Die Ältere lächelte. „Du bist ganz schön abgeklärt für dein Alter."

    „Du glaubst gar nicht, was im klassischen Musikbusiness alles läuft. Alisson strich sich durchs lange, dunkle Haar. „Da gibt es Solisten, die sind nüchtern ein Totalausfall. Ich habe Sachen gesehen, die sind kaum vorstellbar.

    „Ja?" Lauren neigte fragend den Kopf zur Seite.

    „In Hongkong gab es einen Cellisten, der trank vor dem Konzert eine ganze Flasche Bourbon, schlief eine halbe Stunde so tief, dass er nicht zu wecken war, sie machte eine theatralische Handbewegung, „dann wachte er plötzlich auf und war brillant.

    Alisson wollte mit ihrer Erzählung gerade fortfahren, als sich die Tür öffnete. Die ziemlich durchnässte Katie Clarke schlüpfte in den Bus. „Großartiges Wetter, passt zur Musik", sagte sie lapidar.

    „So kannst du aber nicht auf die Bühne", befand Lauren.

    „Halb so schlimm. Katie zog den nassen Pullover über den Kopf, kramte in ihrer Reisetasche und zauberte ein weißes T-Shirt hervor. „Das sollte gut sein.

    Lauren blickte skeptisch. „Wenn du der ganzen Welt deine Titten zeigen willst, ist es schon in Ordnung."

    „Ich sitze hinter einem Schlagzeug, da sieht mich kein Mensch. Außerdem habe ich nichts zu verbergen."

    „Wie du meinst. Lauren schaute auf die Uhr, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Wir sollten so langsam gehen.

    „Wo ist der Rest?"

    „Die tauchen schon auf, zeigte sich Alisson überzeugt. „Sonst fangen wir halt ohne die beiden an zu spielen. Gitarren werden sowieso überschätzt. Synthie, Schlagzeug und Laurens Stimme reichen zur Not auch.

    Der Regen hatte nachgelassen und die Reggea Klänge von Misty in Roots waren verklungen. Dafür hing eine dichte Cannabiswolke über dem Veranstaltungsgelände. Offensichtlich war Dauerregen kein Grund, auf einen Joint zu verzichten. In diesem Augenblick wirkte Glastonbury tatsächlich wie das Vorbild in Amerika – und Joe Cocker sollte auch noch seinen Auftritt haben. Die Jugendlichen auf der, zum Sumpf mutierten Wiese vor der großen Bühne, waren offensichtlich bester Stimmung. Wie sie den Wechsel von Reggea zum Dark Wave aufnehmen würden, würde sich zeigen.

    Leichter Wind hatte den Regen endgültig vertrieben und Maggie Thatcher baumelte weiter am Galgen. Mit etwas Glück würde in Kürze sogar die Sonne über ihr und dem Glastonbury Tor auftauchen. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass dieser Hügel vor 1.500 Jahren das mystische Avalon hätte sein können. Aber in diesem Moment dachte wohl niemand der Anwesenden an Morgaine Le Fay oder König Artus. Man war gespannt auf den Auftritt der Überfliegerinnen des Jahres, den Queens of Noise, die jeden Moment auf der Bühne erscheinen sollten.

    Kapitel 2

    Harriet machte den Fehler, das Telefon abzunehmen, bevor sie auf die Nummer schaute und bereute es sofort. Ihre Mutter war am anderen Ende der Leitung – wobei in Zeiten des Mobilfunks eine solche Bezeichnung vermutlich nicht mehr ganz richtig war. Auf jeden Fall hatte sie jetzt ein Gespräch an der Backe – im wahrsten Sinne, auch wenn hier der Begriff Wange streng genommen richtig wäre. Denn Gespräche mit der Mutter waren eine zeitraubende Angelegenheit. Und darauf hatte sie überhaupt keine Lust. Es interessierte sie nicht, ob die Nachbarin neue Gardinen aufgehängt hatte oder ob Uncle Ernie zum Mittagessen gekommen war. Harriet war weder an dem neuen Kind – dem vierten, um genau zu sein – ihrer alten Schulfreundin Eva, mit der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte und auch nicht wünschte, interessiert, noch an dem unerhörten Kleid, das die Frau des Pfarrers am vergangenen Sonntag getragen hatte. Während ihre Mutter, wie ein Wasserfall redete, versuchte Harriet die Vögel, die sie in ihrem Garten entdeckte zu identifizieren. Rotkehlchen und Kohlmeisen, sogar eine Blaumeise und einen Dompfaff konnte sie in den Büschen entdecken. Sie vermutete, dass Insektenlarven die Vögel anlockten, denn Früchte trugen diese Büsche nicht. Allerdings war Harriet weder Vogelkundlerin noch Fachfrau für Gartengewächse aller Art. Sie freute sich an einer bunten Natur, doch ihre Kompetenzen erstreckten sich auf andere Gebiete.

    Als ihre Mutter gerade dabei war, die Krankengeschichten ihrer Nachbarn auszubreiten, sah Harriet, wie eine Meise eine Raupe unter einem Moosbewuchs hervorzog. Gab es im Herbst Raupen? Sie wusste es nicht, denn über Entomologie wusste sie gleichfalls kaum etwas. Ihr war aus alten Schultagen lediglich hängen geblieben, dass jedes Insekt zunächst als Raupe aus einem Ei schlüpfte, sich dann irgendwann verpuppte und schließlich zum fertigen Insekt wurde, das wiederum Eier legte. Außerdem hatten Insekten sechs Beine, alles, was acht Beine hatte, waren Spinnentiere.

    Die Hoffnung, der Akku würde das Gespräch beenden, erfüllte sich nicht, der Ladestand war viel zu hoch, also suchte Harriet händeringend nach einem Ausweg.

    „Du Mum, ich muss noch einkaufen, ich war gerade dabei, zu gehen", log sie unverfroren. Doch die Mutter ignorierte die Tochter.

    „Ich weiß doch, dass du heute frei hast. Du kannst noch später einkaufen gehen. Jetzt reden wir doch gerade so schön zusammen."

    Du redest, wie ein Wasserfall. Ich habe noch keine drei Sätze gesagt, dachte Harriet, doch sie hätte das niemals ausgesprochen. Die Reaktion wäre verheerend gewesen und ihre Mutter hätte ihr noch wortreicher erklärt, warum sie das jetzt gerade alles erzählen muss, weshalb es essenziell sei, informiert zu sein. Das müsse Harriet als Polizistin doch wissen. Es komme auf jede Kleinigkeit an, um sich ein genaues Bild machen zu können.

    Je länger die Mutter ihren Monolog fortsetzte, desto spannender fand Harriet die Geschehnisse in ihrem Garten. Jetzt war auch noch ein Specht dazu gekommen. Da er ein grünes Gefieder hatte, nahm sie richtigerweise an, dass es sich um einen Grünspecht handelte. Dieses Tier stolzierte über die grüne Fläche, die früher mal ein Rasen gewesen war, jetzt allerdings im besten Fall als Wiese mit Moosbewuchs bezeichnet werden konnte. Der Vogel bohrte mit seinem Schnabel im Grün und Harriet konnte seine lange, rötliche Zunge erkennen. Ob er in seiner Nahrungssuche tatsächlich erfolgreich war, blieb für sie unbeantwortet, doch der Specht schien sich wohlzufühlen.

    Die Mutter war derweil bei der defekten Heizung angelangt und der Diskussion, ob Gas auch weiterhin eine Option sei.

    Harriet wollte sich schon in ihr Schicksal fügen, für einen unbestimmten Zeitraum – das Gespräch dauerte bereits jetzt schon mehr als 45 Minuten – von ihrer Mutter paralysiert zu bleiben, als sich jemand auf dem Fußweg durch den Vorgarten zur Haustür begab. Die Erlösung, ein Wink des Himmels. Harriet hoffte, nicht vom Regen in die Traufe zu kommen, denn die Frau, die sich ihrem Eingang näherte, war ihr komplett unbekannt.

    „Sorry Mum, es steht gerade jemand vor der Haustür. Ich muss auflegen."

    „Wer kommt denn jetzt zu dir? Etwa ein Mann?"

    „Bis bald Mum", sagte sie und hoffte, für einige Zeit den Anrufen ihrer Mutter ausweichen zu können. Und das Thema Mann war für Harriet ein komplett vermintes Gebiet.

    Vor der Tür stand eine formell gekleidete Frau, etwa Mitte 50, grüner Blazer, weiße Hose, kurzes, dunkles Haar, dezent geschminkt, die sich als Sara Dyer vorstellte.

    Mit Schrecken bemerkte Harriet, dass sie ihre alten Putzklamotten anhatte. Immerhin besser, als noch immer im Pyjama zu sein. Auf der anderen Seite hatte sie heute frei und konnte sich in ihrem Haus kleiden, wie sie wollte – oder sogar nackt herumlaufen, wenn ihr danach war. War es ihr im Augenblick aber nicht.

    „Mrs. Dyer, wie kann ich Ihnen helfen?"

    „Darf ich Sie kurz stören, Sergeant Fox?"

    „Harriet genügt im Moment, ich bin nicht im Dienst. Harriet versuchte sich zu erinnern, ob sie jemals mit dieser Frau etwas zu tun hatte. Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Oberlippe – eine furchtbare Angewohnheit – und zog sie schnell wieder in den Mund zurück. „Möchten Sie hereinkommen? Tee?

    Sara Dyer nickte. „Sara, in diesem Fall."

    Da das Wohnzimmer nicht vorzeigbar war, führte die Polizistin ihren Gast in die Küche, die zumindest mittleren Ansprüchen genügen sollte. Harriet füllte den Wasserkessel, suchte zwei Tassen, fand noch einen großen Vorrat an Yorkshire Tea und sogar ein Päckchen Shortbread. Die beiden setzten sich an den Küchentisch, ein hölzernes Erbstück eines längst verstorbenen Mitglieds der Foxfamilie.

    „Ein wunderschöner Tisch aus Ahorn, stellte Sara Dyer fest. „Stammt wohl aus dem 19. Jahrhundert.

    „Möglich, ist ein Familienerbstück. Ich denke aber nicht, dass Sie gekommen sind, und über Antiquitäten zu reden?" Oder doch?

    Ein Lächeln huschte über Saras Gesicht. „Nein. Nicht unbedingt. Sie richtete sich auf und Harriet bemerkte, wie sich deren Körper versteifte und das Gesicht hart wurde. „Es geht um meine Schwester. Sie legte die Hände vor ihren Mund und atmete hörbar tief durch. „Sie ist vor

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1