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Kopflos in Cornwall
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eBook380 Seiten4 Stunden

Kopflos in Cornwall

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Über dieses E-Book

Im Polizeirevier von South Molton hält man den Notruf zunächst für einen dummen Witz. Constable Rachel Ward geht der Sache trotzdem nach. Sie ahnt noch nicht, dass in dem Wäldchen von Whitechapel der Schlüssel zur Aufklärung eines grausigen Dreifachmordes versteckt liegt. Doch damit nicht genug: Ein junges, politisch engagiertes Mädchen wird tot in einer Hecke in North Molton aufgefunden.Der gerade erst in den Südwesten versetzte Chief Superintendent Bob Hamilton ermittelt in alle Richtungen: von Nobelinternaten zu mafiösen Bauunternehmern, von nicht ganz jugendfreien Singleportalen zu einem umschwärmten Lehrer, der sich sehr eigenartig benimmt ... Ähnlich spektakulär wie seine Entdeckungen, die nach und nach zu einer höchst überraschenden Aufklärung der Morde führen, ist übrigens die Pressesprecherin Rebecca. Da lässt sich die goldene Regel ?Kein Team im Team? nicht immer durchhalten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Sept. 2013
ISBN9783849568832
Kopflos in Cornwall
Autor

Ralf Göhrig

Ralf Göhrig wurde 1967 in Eberbach am Neckar geboren. Seit rund dreißig Jahren lebt und arbeitet der anglophile Förster in Jestetten am Hochrhein. Seine literarischen Spuren hat er in forsthistorischen Betrachtungen, sowie vereinsgeschichtlichen Rückblicken hinterlassen. Seit 1995 ist er Autor für die Jestetter Ortschronik, seit 2019 hauptverantwortlicher Chronist der Gemeinde. Daneben arbeitet Göhrig als freier Mitarbeiter beim Südkurier. Im Jahre 2011 legte er mit "Kopflos in Cornwall" seinen ersten Kriminalroman vor. Es folgten "Mörderischer Sturm", "Jerusalem", "Schatten folgen dem Licht", "Der Cornwall-Ripper", "Sendeschluss in Edinburgh", "Verlorene Seelen", "Dämonen", die Erzählungen "Geschenk des Himmels" und "Lotty" sowie der Gedichtband "Purpurne Zeit". Ralf Göhrig ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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    Buchvorschau

    Kopflos in Cornwall - Ralf Göhrig

    ERSTER TEIL

    4. JULI 2007, Mittwoch

    Diesen Tag würde Ruby Horne nie mehr in ihrem Leben vergessen. Wie aus dem Nichts tat sich an diesem 4. Juli 2007 ein endlos tiefes Loch auf, in dem sie hoffnungslos zu versinken schien. Die 23-jährige Studentin an der Universität Plymouth war früh aufgestanden. In den Semesterferien jobbte sie als Verkäuferin in einer Bäckerei. Das war ihr lieber als in irgendeiner Kneipe bis spät in die Nacht zu bedienen. Ruby Horne war Frühaufsteherin, und so kam ihr das Angebot des Bäckers in ihrem Wohnort Mill-brook gelegen, der für die Ferienzeit eine Aushilfe an der Theke suchte. Millbrook, südwestlich von Plymouth gelegen, jenseits des River Tamar, war schon Teil von Cornwall. Von ihrer Wohnung in der Lower Anderton Road hatte sie nur rund fünf Kilometer bis zur Uni. Mit dem Fahrrad fuhr sie dann die Uferstraße entlang nach Cremyll zur Personenfähre hinüber nach Plymouth. Die Bäckerei lag gleich um die Ecke. Doch auf die gewohnte morgendliche Bewegung wollte Ruby auch jetzt nicht verzichten, und daher joggte sie durch den Park von Mount Edgcumbe, einem riesigen Anwesen mit Herrenhaus aus der Tudorzeit, bevor sie sich auf den Weg zu ihrer Arbeit machte. Da die Sonne schon um fünf Uhr aufging, brauchte sie nicht im Dunkel der Nacht zu laufen, sondern konnte das Tageslicht ausnutzen und dennoch rechtzeitig um halb sieben beim Bäcker sein. Ruby verließ ihre Wohnung um kurz vor fünf und lief durch die menschenleeren Straßen nach Osten bis zur Mündung des Tamar. Ein Rundweg führte an der Küste entlang um den Golfplatz auf dem Parkgelände. Ruby sah Drake’s Island vor der Silhouette der großen Stadt liegen. Der Weg führte in ein Wäldchen und dann zurück nach Westen.

    Ruby ließ das vergangene Semester an sich vorbeiziehen. Sie hatte ihre Ziele erreicht, sowohl im Studium als auch im Privatleben. Seit einigen Wochen war sie mit Jason Miller liiert, mit ihrer Familie hatte sie sich nach dem großen Streit zu Weihnachten versöhnt – alles war im Lot. Bis zu diesem 4. Juli 2007, zwischen fünf und sechs Uhr.

    2. JULI 2007, Montag;

    Exeter – Polizeihauptquartier Middlemoor

    Bob Hamilton setzte sich in den Sessel am Schreibtisch seines neuen Büros. Gerade hatte der Chief Constable die Tür hinter sich geschlossen, und nun saß er alleine da. Die weiß verputzten Wände verbreiteten bis auf eine Landkarte von Devon und Cornwall eine ziemlich trostlose Leere. Der Schreibtisch war in die Ecke am Fenster gerückt. Außerdem waren da noch zwei Besucherstühle, die den Eindruck erweckten, als stammten sie aus der Zeit, bevor Elizabeth den Thron bestiegen hatte. Der schäbige PVC-Boden machte das Zimmer auch nicht gerade freundlicher.

    Na ja, das passt dann auch zu diesem hässlichen Betonbunker, dachte Hamilton, als er die Schubladen seines Schreibtisches aufzog. Bis auf ein paar vergessene Büroklammern leer. Immerhin stand ein funktionstüchtiger Computer auf der dicken Eichenplatte.

    Vor Jahren schon hatte er kurz vor der Rückkehr aufs Land gestanden, aber seine Exfrau wollte nichts vom Lake Distrikt in verregneten Nordwesten Englands wissen. Also stürzte er sich in die Arbeit bei der Greater Manchester Police, und ehe er sich versah, war seine Frau abhanden gekommen, und er hatte es zum Detective Superintendent geschafft.

    Und dann gab es für Bob Hamilton, das Landei, noch einmal eine Chance: Die Polizei von Devon und Cornwall wollte die Kriminalpolizei umstrukturieren und suchte für die Leitung der Kriminalabteilung einen erfahrenen Polizisten. Er bewarb sich, und jetzt saß er hier im Polizeihauptquartier Middlemoor in seinem eintönigen Büro zwischen Eisenbahnlinie und Hill Barton Road in Exeter.

    „Detective Chief Superintendent Robert Hamilton", hatte er vorhin beim Eintreten in sein neues Reich lesen können. Aber fassen konnte er es noch immer nicht: Chef der Kriminalpolizei von Devon und Cornwall im Alter von vierzig Jahren!

    In Gedanken verloren, die vergessenen Büroklammern aufbiegend und schließlich zerbrechend, hörte Hamilton das Klopfen an der Türe nicht sofort. Nach einem geknurrten Herein öffnete sich langsam die Tür, und eine junge Frau mit blonden, kurzen Haaren und tiefseeblauen Augen trat schüchtern ins Büro.

    „Constable Hughes, wie kann ich Ihnen helfen?"

    „Sir, eh, Detective Inspector Steer schickt mich. Sie lässt fragen, ob Sie zur Lagebesprechung kommen wollen."

    Devon and Cornwall Constabulary – Criminal Investigation Departement

    Protokoll vom 02.07.2007

    Teilnehmer: Detective Chief Superintendent Bob Hamilton, Detective Inspector Debbie Steer, Detective Inspector Gordon Douglas, Detective Sergeant Susan McCoy, Detective Sergeant John Clark und Detective Constable Emma Hughes

    Noch keine Spur im Kreditkartenbetrugsfall von Plymouth. Die Kreditkartenorganisationen

    haben die betroffenen Karten gesperrt, der bereits entstandene Schaden beträgt rund

    500.000 £. Die Kollegen in Plymouth haben die Ermittlungen aufgenommen und benötigen momentan keine Unterstützung aus Middlemoor.

    Die Kirchenglocken der Methodistischen Kirche in Tavistock bleiben verschwunden. In der Nacht zum vergangenen Mittwoch sind Unbekannte in die Kirche eingedrungen und haben die Kirchenglocken entwendet. Es ist unklar, was die Täter mit den drei gestohlenen Glocken beabsichtigen. Sie stammen aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts und sind weder von kunsthistorischer Bedeutung noch von hohem monetären Wert. Die Kriminalpolizei geht davon aus, dass es sich bei der Tat eher um einen üblen Scherz denn ein Verbrechen handelt.

    DS McCoy wird Kontakt zur örtlichen Polizei aufnehmen und gegebenenfalls logistische Unterstützung leisten.

    Debbie Steer, DI

    Bob Hamilton war gelangweilt, fast sogar enttäuscht. Hatte er als Sonderermittler in Manchester täglich mit Mord, Drogendelikten und ähnlich schweren Straftaten zu tun gehabt, sah es nun so aus, als ob er sich fortan mit kriminalistischer Hausmannskost begnügen müsste. Für einen kurzen Moment zweifelte er daran, dass seine Entscheidung in den Südwesten zu kommen, richtig gewesen war.

    2. JULI 2007, Montag;

    South Molton – Polizeirevier

    Zur gleichen Zeit, als Hamilton bei der Besprechung in Exeter saß, thronte Police Sergeant Paul Winter fünfzig Kilometer weiter nördlich im Polizeirevier von South Molton hinter seinem Schreibtisch und versuchte, unfallfrei einen Hamburger zu essen. Er ärgerte sich gerade über einen großen Soßenfleck auf einer Anzeige, die er am Morgen aufgenommen hatte, als das Telefon klingelte. Mürrisch legte er den Hamburger aus der Hand, kaute hastig, schluckte den Bissen der Pampe – einer Mischung aus Sägemehl und Styropor – und griff zum Hörer.

    „Polizeirevier South Molton, PS Winter am Apparat, was kann ich für Sie tun?", meldete er sich vorschriftsmäßig.

    Die ängstliche Stimme einer jungen Frau war am anderen Ende der Leitung zu vernehmen:

    „Sir, im Wäldchen bei Whitechapel ist was passiert. Ich hörte Schreie …"

    „Nennen Sie bitte Ihren Namen und erzählen mir dann ganz in Ruhe, was Sie gesehen haben", unterbrach sie Winter.

    „Da ist was passiert, ich habe es gehört. Ich war mit dem Hund spazieren, im Wald und da habe ich es gehört."

    „Was haben Sie gehört, Miss …?"

    „Komische Geräusche, ein Keuchen, Rascheln, ich bin sofort weggerannt. Da ist was passiert. Bitte schauen Sie nach."

    Rascheln im Wald, die tickt wohl nicht richtig, dachte sich Winter und begutachtete den Fleck auf den Unterlagen.

    „Dürfte ich nochmals nach Ihrem Namen fragen, Miss?"

    „Susan Johnson. Bitte schauen Sie nach."

    Doch bevor Winter weiter nachfragen konnte, hatte die Frau den Hörer aufgelegt.

    Nachdenklich kratzte sich Winter auf seiner ausladenden Glatze. Natürlich raschelte es im Wald. Winter machte sich kurz Notizen über den eingegangenen Anruf, doch wollte er die Sache nicht weiter verfolgen.

    „Da hat eine angerufen, weil es im Wald geraschelt hat", sagte er zu seinem Kollegen Ian Harte, der gerade von der Mittagspause zurück ins Büro gekommen war und sich mit hochgezogenen Augenbrauen das Chaos auf Winters Schreibtisch ansah.

    „Wie geraschelt, Mäuseinvasion?"

    „Vielleicht, im Wäldchen bei Whitechapel. Was hältst du davon?"

    „In welchem Wäldchen? Dem im Norden oder im Süden? Oder dem im Osten?"

    „Gute Frage. Du, ich hatte den Eindruck, die Gute sieht zu viel fern. Klar, dass es im Wald raschelt."

    „Vielleicht hast du recht. Na ja, machen können wir ohnehin nicht mehr viel. Vielleicht sollte sich Rachel dort mal umsehen. Sie ist doch noch mit diesem Hilfssheriff unterwegs."

    „Ich ruf sie mal an."

    Police Constable Rachel Ward stand gerade neben ihrem Polizeiauto, einem Ford Focus, den sie aufgrund seiner Fahreigenschaften „The Snail" nannte, und blickte auf die Einöde des Exmoors, als sie die Funkmeldung hörte.

    „Komm, Ollie, rief sie dem Polizeischüler Oliver North zu, der ihr in noch bis Ende August zugeteilt war. „Wir suchen Gespenster im Wald.

    Über Oakford und Boltreax Mill nach Osten stießen sie auf die A 361. Kurz vor South Molton bog die Schnecke nach rechts ab, in Richtung Whitechapel.

    „Und was sollen wir jetzt hier?"

    „Keine Ahnung, irgendwer hat es im Wald rascheln hören. Vielleicht ist ja wirklich was dahinter. Und da wir gerade nichts Besseres zu tun haben, fahren wir hier mal eben durch den Wald."

    Zunächst nahmen die beiden sich den südlichen Teil vor.

    „Winter hätte auch besser nachfragen können. Das ist ja wie eine Nadel im Heuhaufen zu suchen. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass eine da ist. Nach was sollen wir eigentlich suchen?"

    „Na, hier ist nichts. Fahren wir mal nach Norden."

    Im Norden von Whitechapel erstreckte sich ein schmaler Streifen Wald, etwa 200 Meter breit und einen Kilometer lang.

    „Vom Auto aus sehen wir überhaupt nichts. Komm, Ollie, wir steigen aus."

    Die beiden ließen das Fahrzeug hinter sich und marschierten quer durch den Bestand. Der Bewuchs war ziemlich dicht, und so kamen sie nur langsam vorwärts.

    „Wo willst du eigentlich hin, Rachel?"

    „Einfach der Nase nach. Wenn wir nur einen Hund hätten …"

    Der Waldbestand war durch die Stürme der vergangenen Winter ziemlich zerzaust. Die Baumkronen lagen noch zum großen Teil unaufbereitet dort, wo sie hingefallen waren. Die beiden kletterten fluchend über die Äste und krochen unter oder zwischen ihnen hindurch. Ein starker Brombeerwuchs hinderte sie zusätzlich beim Vorankommen.

    „Jetzt habe ich irgendwo meine Mütze verloren", stöhnte North nach einer Weile.

    „Warum hast du das blöde Ding überhaupt mitgenommen? Wir drehen hier keinen Ausbildungsfilm über praktische Polizeiarbeit."

    „Ich muss zurück, sie suchen."

    „Du weißt doch gar nicht, wo du sie verloren hast, das hat doch keinen Zweck."

    „Meine Jacke ist auch zerrissen."

    „Jetzt hör auf zu jammern, Ollie. Sieh zu, dass du herkommst."

    Sie bewegten sich durch eine leichte Senke und versuchten, das Gelände zu überblicken, kamen aber bald zur Überzeugung, dass sie in diesem Dschungel nichts finden würden. Sie kämpften sich weiter nach Norden.

    Die Sonne glühte unbarmherzig an einem wolkenlosen Himmel. Obwohl die Polizisten erst vor einer halben Stunde ihr Auto verlassen hatten, waren sie schweißdurchnässt.

    „Eine solche Aktion könnten wir mal als Alternative für die dämlichen Sportnachmittage vorschlagen. Bringt sicherlich mehr Kondition und praktische Erfahrung, schlug Oliver North vor, bevor er einen weiteren Fluch durch den grünen Forst schleuderte. „Jetzt hat auch meine Hose ein Loch!

    „Na, immerhin haben wir jetzt die praktische Erfahrung gemacht, dass unsere Polizeiuniformen zum Repräsentieren wohl geeignet sind, nicht aber für den Einsatz im Gelände. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass du dich nicht geschmeidig genug durchs Unterholz bewegst."

    Rachel schwang sich über einen dicken Eichenast und lächelte ihren Kollegen an. Zwar sah ihre Uniform nicht mehr ganz ausgangfähig aus, war aber ansonsten immerhin heil geblieben.

    „Sei mal still, Ollie! Wir suchen ja nach Geräuschen, was auch immer sich dahinter verstecken soll. Vielleicht ist ja noch was zu hören."

    In der brütenden Hitze, vor der der lichte Wald nur wenig Schutz bot, herrschte eine eigentümliche Stille. Das einzig Bemerkenswerte war der süßliche Geruch einiger Stauden, die den beiden unbekannt waren.

    Sie kamen zu einer Lichtung und beschlossen dann, nach rechts zu gehen. Nach etwa 100 Metern kamen sie an einen Weidezaun, hinter dem zahlreiche Schafe friedlich grasten.

    „Vielleicht könnte man die Schafe als Zeugen befragen", meinte North.

    „Vielleicht sind sie auch das Opfer des Verbrechens. Komm, Ollie, gehen wir zum Auto zurück."

    Über die Weide kamen die Polizisten zu einer Farm, und von dort gingen sie über die Whitechapel Lane zurück in südliche Richtung, wo „The Snail" im Schatten unter einer alten Linde stand.

    „Ich weiß nicht …, sagte Rachel Ward beim Einsteigen, „irgendwas gefällt mir an der Sache nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand bei der Polizei nur wegen eines Raschelns anruft. Ist doch eigenartig.

    Sie schüttelte ihren Kopf. Ihr Verstand sagte ihr, dass es sich um einen der Fehlalarme handelte, wie sie täglich bei der Polizei eingehen. Ihr Gefühl tendierte stark in die gegenteilige Richtung. Das hatte mit einer prägenden Erfahrung in den ersten Tagen ihrer Polizeikarriere zu tun. Damals war ein junges Mädchen entführt worden und ein Zeuge gab – zugegebenermaßen wirre –Hinweise über das mutmaßliche Versteck der Entführten. Der Sergeant, der den Anruf entgegengenommen hatte, vermutete einen durchgedrehten Zeitgenossen oder einen der vielen Wichtigtuer, die in solchen Fällen die Telefonleitungen unsicher machen, und so entschied der Polizist, diesen Hinweis nicht weiter ernst zu nehmen. Später hatte sich herausgestellt, dass das Mädchen an dem von dem Zeugen beschriebenen Ort versteckt worden war und noch gelebt hätte, wäre dem Hinweis sofort nachgegangen worden. So fand man nach quälend langen Tagen nur noch ihre Leiche.

    Dieser Vorfall hatte Rachel nachhaltig getroffen und machte sie vielleicht manchmal etwas übervorsichtig. Aber mit der Zeit hatte sie ein Gespür dafür entwickelt, ob ein Hinweis wichtig war.

    Und hier hatte sie das ganz starke Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

    „Du weißt doch, manche Leute geraten schnell in Panik, und dann rufen sie nach der Polizei."

    „Nein, das Problem ist eher, dass sich die Leute zu selten an die Polizei wenden. Und wegen eines undefinierbaren Raschelns wählt niemand die Nummer eines Polizeireviers. Die Leute wollen sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen, und sie wollen sich vor allem nicht lächerlich machen mit Behauptungen, die ziemlich gewagt sind."

    „Aber wenn es jemand war, der sich wichtig machen wollte?"

    „Möglich, aber ich glaube es nicht. Das Problem ist, dass wir zu wenige Anhaltspunkte haben. Es gibt hier drei Wäldchen, eines ist noch im Osten …"

    „Nein danke, fiel ihr North ins Wort. „Ich habe die Schnauze voll.

    „Ja, vielleicht sollten wir Winter hinter seinem Schreibtisch aufscheuchen und in diesen Wald schicken."

    Beide begannen herzhaft zu lachen.

    „Wenn wir im Polizeirevier sind, versuche ich nochmals nachzuhaken. Winter wird ja wohl die Adresse und Telefonnummer der Zeugin aufgeschrieben haben. Vielleicht ergibt sich noch was."

    Sie fuhren in südwestliche Richtung, überquerten die A 361, und über die Folly Lane und die East Street ging es in das Revier an der North Road in South Molton.

    2. JULI 2007, Montag;

    Exeter – Polizeihauptquartier Middlemoor

    Bob Hamilton lief nach der Besprechung zurück zum Parkplatz und stieg in seinen Rover. Er musste weg – zumindest bis zur nächsten Besprechung, die für den Nachmittag angesetzt war. Also fuhr er über die Sidmouth Road zur M 5 in Richtung Süden. Hamilton wollte ans Meer. In den CD-Spieler seines Autos war „Leftoverture von Kansas eingelegt. „What’s on my mind?, sang Steve Walsh, als sänge er für den Chief Superintendent, dem der Kopf ein wenig schwirrte. Hamilton fegte über den Asphalt und hoffte, dass die Kollegen von der Verkehrspolizei keine Geschwindigkeitskontrolle aufgebaut hatten. In Dawlish Warren hatte er den Ärmelkanal erreicht. Er parkte den Wagen auf einem großen Parkplatz und ging zu Fuß an den Strand.

    Das Rauschen des Meeres hatte eine beruhigende Wirkung. Mit geschlossenen Augen lag er im Sand, fühlte den Wind und sog die salzige Luft in seine Lungen. Er genoss es, hier zu liegen und schon bald spürte er eine Wärme durch den Körper fließen, und sie war unabhängig von den Strahlen der heißen Julisonne.

    Eigentlich hatte er immer schon irgendwo im Lake District ein ruhigeres Leben führen wollen. Gerne hätte er Kinder gehabt – Lucy, seine Ex-Frau allerdings wollte weder vom Leben auf dem Lande noch von Kindern etwas wissen. Sie war durch und durch eine Großstadtpflanze – und mittlerweile fragte sich Hamilton, wie es eigentlich dazu hatte kommen können, dass sie geheiratet hatten.

    Nun, sie waren ein vorzeigbares Paar. Der erfolgreiche Polizist und die Tochter eines stadtbekannten Anwaltes, ebenfalls Juristin und sehr sicher auf öffentlicher Bühne. Sie öffnete ihm Türen, die ansonsten verschlossen geblieben wären. Und wenn er ehrlich war, hatte seine Karriere sehr von dieser Verbindung profitiert.

    Doch die hatte nicht von Dauer sein können. Mehr und mehr ging Lucy in ihrer Welt der Reichen, Schönen und juristischen Spitzfindigkeiten auf, während Hamilton von seinem Job aufgezehrt wurde. Sie sahen sich selten, und wenn, dann stritten sie sich. Und als Bob Hamilton überraschenderweise sehr früh nach Hause kam und Lucy mit einem anderen Paragraphenreiter im ehelichen Bett erwischte, setzte er beide vor die Türe und reichte die Scheidung ein. Nach=einem zehntägigen Whiskydelirium stürzte er sich noch mehr in seine Arbeit, war noch verbissener, noch zielstrebiger und zunehmend unausstehlich.

    Vor einem Jahr verbrachte Hamilton einen intensiven Sommerurlaub bei seinem Bruder Neville und dessen Familie auf den äußeren Hebriden, danach kaufte er sich einen Weimaranerwelpen namens Duke, einen der letzten Rover 75 Kombis und wusste, dass er Manchester verlassen wollte.

    Streitende Möwen schreckten ihn aus seinen Gedanken auf. Sie hatten ein altes Brötchen im Sand gefunden, und jetzt stritten sie sich darum und veranstalteten einen ohrenbetäubenden Lärm. Hamilton stand auf und ging zum Auto zurück nachdem er sich den Sand aus seinen Klamotten geklopft hatte.

    Der Rover flog die Strecke nach Exeter zurück, und Hamilton eilte in sein Büro. Er wollte sich für die Besprechung noch umziehen und die allzu legere Kleidung des Vormittags gegen formellere austauschen. Immerhin hatten die Kriminalpolizisten das Privileg, Zivil tragen zu dürfen und mussten sich nicht in die schwarzweißen Uniformen quetschen.

    2. JULI 2007, Montag;

    South Molton – Polizeirevier

    „Wo ist denn der Dicke?", fragte Rachel Ward ihren Kollegen Ian Harte.

    „Schon gegangen, hat irgendwas von Überstunden erzählt und dass doch nichts los sei. Er wollte mit seinen Kindern noch ins Schwimmbad."

    Harte war der stellvertretende Leiter des Polizeireviers in South Molton und das genaue Gegenteil seines Chefs. Groß, schlank, bedächtig, fast sogar zurückhaltend, jedoch sehr gewissenhaft.

    „Diese Freiheiten wollte ich mir mal nehmen. Es ist doch gerade mal halb vier!"

    „Er ist eben erst gegangen, und es ist wirklich nichts los. Ich bin schließlich auch noch da, um das Telefon zu hüten."

    Rachel hob kritisch ihre Augenbrauen und zog die Mundwinkel nach unten.

    „Und, habt ihr was gefunden?", fragte Harte, um das Gespräch in eine weniger konfliktträchtige Richtung zu lenken.

    „Nein! Was sollten wir auch finden, wir wussten ja nicht mal, nach was wir suchen. Aber komisch finde ich die ganze Sache schon."

    Sie ließ sich in einen Stuhl in der Ecke des Büros fallen.

    „Hast du die Aufzeichnungen des Dicken irgendwo?"

    „Mal sehen, Harte durchwühlte einen Papierstapel auf der linken Ecke des Schreibtisches. „Ja, hier.

    Er überflog die Aufzeichnungen seines Chefs und schüttelte langsam den Kopf.

    „Na, das ist ja nicht viel. Eigentlich gar nichts. Hier steht nur der Name: Susan Johnson. Keine Adresse, keine Telefonnummer. Die wäre noch herauszufinden. Aber das ist doch ziemlich dürftig. Immerhin die Uhrzeit: 11:30. Aber wahrscheinlich war es wirklich nur eine Frau, die beim Joggen oder Hundespaziergang etwas erschrocken ist."

    „Das glaube ich jetzt eigentlich nicht mehr. Irgendwas ist hier faul. In diesen Wäldchen kannst du weder joggen noch den Hund Gassi führen. Die Feldwege sind zu weit weg, um wirklich zu hören, was im Wald vor sich geht. Und warum sagt die Frau nicht, wo sie wohnt oder gibt ihre Telefonnummer an? Susan Johnson – Adam Smith, das sind doch die Namen, die in Hotels angegeben werden, wenn man sich heimlich mit der Geliebten trifft."

    „Machst du das so?"

    „Idiot", gab Rachel zurück.

    „Na ja, vielleicht hat er auch nicht alles mitbekommen, was die junge Frau gesagt hat. In der letzten Zeit habe ich das Gefühl, Winter ist lediglich physisch anwesend. Mir ist ohnehin ein Rätsel, wie er die Sergeantprüfung bestehen konnte."

    „Wahrscheinlich wollten sie ihn von der Straße haben, weil er zu blöd war, den Verkehr zu regeln. Ein typischer Fall von: Wegen Unfähigkeit weggelobt", meinte Rachel.

    Sie war so etwas wie der Traum aller Polizisten in North Devon. Lange, schwarze Haare, blaue Augen, eine markante, aber nicht zu groß geratene Nase und ein dunkler Teint. Rachel war 23 Jahre alt, schlank und knapp 1,80 groß. Sehr viele hatten schon versucht, mit ihr auszugehen – leider alle ohne Erfolg. Von ihrem Privatleben war allgemein nicht viel bekannt. Außer dass sie bei ihrer Großmutter in einem Reihenhaus in Barnstaple lebte. In ihrer Rolle als Polizistin war sie kompetent und sehr zuverlässig, ehrgeizig und gewissenhaft. Umso mehr war ihr Privatleben ein Mysterium.

    „Also, ich glaube, fuhr Rachel fort, „dass sich diese Frau bei der Polizei gemeldet hat, weil sie große Angst vor dem hatte, was sie gesehen oder gehört hat. Vielleicht ist sie sogar in das Ganze involviert. Jedenfalls wollte sie die Polizei informieren. Wäre sie eine Wichtigtuerin, hätte sie Winter die Ohren voll gelabert und natürlich ihre Telefonnummer und Adresse angegeben und vermutlich verlangt, dass sofort eine Streife bei ihr vorbeischaut. Ich bin mir sicher, wir finden keine vernünftige Telefonnummer bei der Rückverfolgung des Gesprächs. Kein Handy, kein Festnetz, vermutlich eine Telefonzelle. Aber das wäre ein Anhaltspunkt?

    „Rachel, wir haben gar nichts. Weder eine Spur noch konkrete Hinweise auf ein Verbrechen. Kein Verbrechen, kein Fall, keine Ermittlungen. Wonach meinst du, sollten wir suchen? Du und der junge North habt doch die Wälder durchsucht. Ich denke, wir haben schon mehr getan, als wir tun müssen."

    „Meine Nase sagt mir etwas anderes."

    „Aber wo willst du anfangen zu suchen?"

    „Bei der Telefonzelle."

    „Na schön, ich veranlasse, das Gespräch zurückzuverfolgen. Vielleicht ergibt sich ja was. Ich denke auch, eine Susan Johnson zu suchen, wäre nicht ganz zielgerichtet."

    „Du bist ein Schatz, Ian. Noch was: Bitte sag dem Dicken nichts. Der stellt alle Ermittlungen sofort ein."

    „Na, so schlimm ist er auch nicht."

    „Doch", erwiderte Rachel knapp, erhob sich von ihrem Stuhl, schwebte durchs Büro und entschwand geräuschlos durch die große Schwenktüre in den Flur, um den Personalraum aufzusuchen, wo Oliver North bei einer Tasse Kaffee schon auf sie wartete.

    2. JULI 2007, Montag;

    Otterton – Hamiltons Cottage

    Duke, der Weimaraner, begrüßte freudig seinen Herrn, als dieser müde und erschöpft von seinem ersten Arbeitstag nach Hause kam. Eigentlich war der Hund sein ständiger Begleiter, aber am ersten Tag hatte er ihn noch nicht mit ins Büro nehmen wollen, und im Auto wäre es zu heiß gewesen. So hatte Hamilton entschieden, den jungen Hund im Cottage zu lassen, um seine Kollegen nicht schon von Anfang an mit all seinen Eigenheiten zu irritieren. Jetzt wollte er aber einen ausgiebigen Spaziergang entlang der Küste unternehmen. Dabei konnte er abschalten und vergessen, dass er leitender Polizist war. Vielleicht würden ihm trotzdem Ideen kommen, wie er seine Arbeit richtig anpacken sollte.

    Hamiltons Cottage stand am Rande von Otterton, und so konnte man rasch ins Grüne entschwinden, was im ländlichen Südwesten ohnehin keine Schwierigkeiten bereitete. Otterton, im Nordosten von Budleigh Salterton gelegen, war genau der Ort, den Hamilton sich als Wohnort erträumt hatte. Klein, umgeben von viel grüner Landschaft aus Weiden, Wiesen und kleinen Wäldchen. Daneben das Meer, das eine endlose Weite versprach und ein Bewusstsein davon vermittelte, dass es irgendwo da draußen noch viel mehr gab als das tägliche Einerlei.

    Das Cottage, reetgedeckt und aus dem 18. Jahrhundert stammend, bestand aus einem großen Raum

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