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Rembrandt to Go: Spannender Geheimnis-Krimi im mysteriösen London - basierend auf wahren Begebenheiten
Rembrandt to Go: Spannender Geheimnis-Krimi im mysteriösen London - basierend auf wahren Begebenheiten
Rembrandt to Go: Spannender Geheimnis-Krimi im mysteriösen London - basierend auf wahren Begebenheiten
eBook641 Seiten7 Stunden

Rembrandt to Go: Spannender Geheimnis-Krimi im mysteriösen London - basierend auf wahren Begebenheiten

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Über dieses E-Book

Ein mysteriöses Gemälde.
Zwei verzweifelte Ermittler.
Und drei Fälle, in denen sich alles zu wiederholen scheint...

Es gibt wohl keinen rätselhafteren Rembrandt als Jacob de Gheyn III. Ganze vier Mal wird er aus der Dulwich Picture Gallery in London gestohlen – und viermal wieder aufgefunden: auf einem Friedhof, in einem vollen Taxi oder sogar auf einem Fahrradgepäckträger. Der Fall ist von 1966 bis 1986 überall in den Medien und Scotland Yard steht mächtig unter Druck. Doch selbst nach Jahrzehnten können weder die Motive noch die Täter je ausfindig gemacht werden.

Als 2019 auch noch drei Nachahmungen in Nordengland entdeckt werden, bleibt dem berühmten Inspektoren-Duo Robert Horley und Merylin Huff nichts anderes übrig, als ihre Ermittlungen wieder aufzunehmen. Aber auf ihrer Jagd nach der Wahrheit sind sie nicht die Einzigen: zwei Verbrecher treiben ihr Unwesen in der Stadt, dicht gefolgt von einem erst kürzlich verhafteten Jugendlichen, der versucht endlich seine wahre Bestimmung zu finden...
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Feb. 2024
ISBN9783384084163
Rembrandt to Go: Spannender Geheimnis-Krimi im mysteriösen London - basierend auf wahren Begebenheiten
Autor

J. L. Suhr

Josephine Suhr (geboren 1997) ist gelernte Publizistin und Kommunikationswissenschaftlerin aus Berlin. Momentan arbeitet sie als professionelle Volleyballspielerin im Ausland. Schon seit ihrer Kindheit schreibt sie gern, unter anderem in Schreibcamps oder für private Zwecke. Ihr Roman „Rembrandt to Go“ ist ihr erstes Werk, das ihre Begeisterung für Kunst, Mystery und London vereint. Später einmal wäre sie gern hauptberuflich Schriftstellerin.

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    Buchvorschau

    Rembrandt to Go - J. L. Suhr

    Teil I

    »Wenn du etwas planst, das niemand wissen soll,

    dann plane zweifach; einmal für die Unwissenden …

    und einmal für die Wissenden.«

    1. Kapitel

    London, 3. Oktober 2019

    Sergeant Merilyn Huff saß mit zerfurchter Miene am Schreibtisch. Vor ihr türmte sich ein gewaltiger Stapel Papiere auf, blütenweiß und so hoch, dass sie gerade noch darüber hinweg schauen konnte. Mit übereinander gekreuzten Armen stützte sie sich auf die Holztischkante und blickte hilflos auf das aufgeschlagene Papier vor sich.

    Wie konnte man denn so blöd sein und sich sieben Mal das Fahrrad klauen lassen?

    Es war noch früh am Nachmittag, gerade einmal vierzehn Uhr. Merylin hatte vor fünf Stunden angefangen zu arbeiten. Es kam ihr allerdings bereits wie eine Ewigkeit vor, die sie an ihrem Schreibtisch saß und über nicht gelösten Fällen brütete.

    Ein Mann in Farringdon macht wie gewohnt sein Bike an einem Metallständer in seinem Garten fest: Er schlingt eine Kette darum, schließt das Schloss ab und begibt sich in sein Haus. Einen Tag später fällt ihm dann auf, dass es verschwunden ist.

    Mal wieder. Zum Siebten Mal.

    Merylin beugte sich über das Papier, so dicht, dass sie beinahe das Gedruckte mit ihrer gebogenen Nasenspitze berührte. Sie suchte nach einer Auffälligkeit, nach etwas Brauchbarem, das die seltsame Menge an Diebstählen erklären konnte. Es war nicht das erste Mal, dass sie den Namen des Mannes las. Erst vor wenigen Monaten hatte sie einen ähnlichen Fall bearbeitet, bei dem ihm an exakt der gleichen Stelle ein Fahrrad abhandengekommen war. So langsam glaubte sie nicht mehr an Zufälle.

    Dabei war es nicht ungewöhnlich, dass in der City of London ab und an mal etwas entwendet wurde. Schließlich bot die Stadt mit seiner kulturellen und wirtschaftlichen Vielfalt den idealen Schauplatz für unzählige Verbrechen. Überall gab es Museen, Banken, Theater, teure Läden – das reinste Sammelbecken für gierige Gesetzesbrecher. Man musste nur einem der gutbetuchten Anzugträger vom gläsernen Tower bis zum Restaurant folgen, und es ergaben sich bestimmt etliche Chancen ihm das Portemonnaie aus der Tasche zu klauen. Da halfen auch die schwarzgekleideten Polizisten nicht viel, die mit ihren aufgetürmten Fellmützen an jeder zweiten Straßenecke standen.

    Vielleicht hatte ja jemand eine Rechnung mit dem Mann offen oder erlaubte sich einen Scherz?

    Erneut überflog Merylin den Bericht, aber nichts deutete darauf hin, dass der Bestohlene Probleme mit seinen Nachbarn oder Bekannten hatte. Es gab keine Vorstrafen, keine sonstigen Meldungen. Nur die Fahrräder, auf die er offenbar nicht besonders gut aufpassen konnte.

    Und mit so etwas muss ich mich am frühen Morgen herumschlagen.

    Seufzend fuhr sich Merylin mit den Fingern durch das leicht ergraute Haar. Seit sie vor wenigen Monaten zur City of London Police (CLP) in der Wood Street gewechselt war, fühlte sie sich um mehrere Jahre gealtert. Ihre Augen schmerzten, ihre Beine waren müde und ihr Kopf dröhnte. Tatsächlich war sie mit ihren siebenundfünfzig Jahren nicht mehr die jüngste, doch mit ihrer kleinen kräftigen Figur und dem wachen Blick strahlte sie eine Tatkraft aus, die mancher Zwanzigjähriger nicht hatte. Hinzu kamen wilde Locken, die ihr in honigblonden Kringeln zu allen Seiten standen. Inzwischen hingen sie jedoch nur noch kraftlos und spröde herunter. Es schien, als hätte sich nicht nur ihr Zuständigkeitsbereich, sondern auch ihr Horizont verkleinert.

    Dabei hätte man meinen können, dass bei der CLP alles besser war.

    Denn wie der Name schon sagte, beschäftigte sich die City Police lediglich mit der »City« von London. Ihr Einsatzgebiet war winzig – gerade einmal drei Quadratkilometer groß. Als modernes Pendant der früheren Stadtwache erstreckte sie sich von der westlichen Temple Church zum Barbican Centre; im Osten wurde es von den Tower Hamlets und im Süden von der Themse begrenzt. Daher galt sie auch als kleinste, städtische Behörde in ganz England. Nur wenige Polizisten gelangten an einen Posten in einer der drei Polizeiwachen. Und wer doch einen bekam, der konnte sich glücklich schätzen, in der kulturell vielfältigen und angesehenen City ermitteln zu dürfen.

    Merylin seufzte erneut.

    Der Stapel auf ihrem Schreibtisch schien seit zwei Wochen nicht kleiner geworden zu sein. Als leitender Sergeant des Special Support Directorate war es ihre Aufgabe sämtliche Fälle zu überprüfen, bevor sie mit dem Wagen ins Archiv gelangten. Es war eine langwierige, zeitintensive Arbeit. Nach Tagen wie heute fragte sie sich immer häufiger, ob der Wechsel zur CLP wirklich die beste Wahl gewesen war.

    Sie schloss die hellgraue Mappe und stand auf, um sie zusammen mit dem Stapel ähnlicher Fälle ins Büro ihres Kollegen Frank Hall zu bringen. Sollte der sich doch mit dem alten Lügner herumschlagen, der zu blöd war, seine Fahrräder ordnungsgemäß anzuschließen.

    Mit einem Arm griff sie die Unterlagen, mit dem anderen hielt sie die breite Tür ihres Büros auf. Sofort kam ihr ein Schwall lauter Stimmen entgegen. Im Großraumbüro des Special Support Directorate herrschte mal wieder das reinste Chaos: Zwischen eng aneinander gewürfelten Schreibtischen glitten Drehstühle mit gehetzt dreinblickenden Gesichtern umher, überall blinkten Monitore, Telefone klingelten im Sekundentakt. Mehr als zwanzig Officer teilten sich den Raum. Sie gingen geschäftig ihrer Arbeit nach, während zwischen den Ablagestapeln und Computerkabeln übereifrige Sekretärinnen umherwuselten. Merylin hätte sich nicht gewundert, wenn von irgendwoher noch ein Papierflieger gesegelt gekommen wäre.

    »Inspector Huff?«, rief eine Stimme aus der hinteren Ecke des Raums, kaum, dass sie eingetreten war. »Hätten Sie kurz Zeit?«

    Sie gehörte zu Peter Lilwood, einem der ganz neuen Officer in Merylins Abteilung. Sein aschblonder Kopf kam hinter einer Trennwand zum Vorschein, gefolgt von einer schmalen Gestalt, die in einem viel zu großen Hemd steckte. Bei seinem Anblick musste Merylin immer unweigerlich lächeln. Sowohl seine aufrechte Haltung als auch der konzentrierte Blick erinnerten sie an den Eifer, mit dem sie selbst vor fünfunddreißig Jahren ihr erstes Dienstjahr absolvierte.

    »Sergeant, lieber Peter, nur Sergeant«, sagte sie und machte einen gemächlichen Schritt auf ihn zu. »Für alles andere fehlt mir das richtige Schulterabzeichen.«

    Sie erntete einen ehrfurchtsvollen Blick. »Aber jeder hier weiß doch, wer Sie einmal waren, Ma’am.«

    Die Gespräche wurden leiser, als auch die übrigen Officer Merylins Anwesenheit bemerkten. Sie nickten ihr in einem Anflug von Scheu zu, einige hielten sogar respektvoll die Hand an die Stirn. Auch wenn Merylin noch nicht lange hier war, schien sich die Geschichte schnell herumgesprochen zu haben: von der berühmten Kunstdiebjägerin, die mehr als dreißig Jahre bei Scotland Yard gewesen war und nun ganz überraschend ihren Job an den Nagel gehängt hatte. Man erzählte Gerüchte über sie; Gerüchte, über ihren plötzlichen Abgang und die Gründe, die sie wohl zum Gehen bewegt hatten. Das ist sie, hörte sie die jungen Officer einmal auf dem Gang tuscheln. Die berühmte Inspektorin. Sie soll mehr als eintausend Fälle pro Jahr aufgeklärt haben. Das war natürlich maßlos übertrieben. Niemand schaffte so viel, nicht einmal mit siebenundfünfzig Jahren Lebenserfahrung. Dennoch registrierte sie mit etwas Stolz, wie einige der Anwesenden einen Blick auf ihre Uniform warfen, an deren Schulter drei V-förmige Streifen prangten, die sich zu einem nach unten zeigendem Pfeil vereinten.

    »Nun, das ist wirklich schön zu hören, Peter. Aber wie Sie bereits richtig sagten: Es war einmal.« Sie hob ihre Stimme ein wenig und drehte sich in die Mitte des Raumes, damit alle sie hören konnten. »Ich weiß, dass seit meiner Ankunft viel über mich erzählt wird. Und ich freue mich auch über Ihre Wertschätzung – wirklich. Aber jetzt würde ich es angemessen finden, wenn Sie mich mit meinem aktuellen Rang ansprechen.«

    »In Ordnung, Sergeant.«

    Officer Lilwood neigte das helle Haupt. Eingängiges Gemurmel erfüllte den Raum. Merylin sah, wie der ein oder andere Officer ihrem Blick auswich.

    Nicht aber Taylor Miller. Er war der Sohn des Abteilungsleiters und saß nur eine Armlänge von ihr entfernt. Mit seinem selbstbewussten Grinsen und der unverblümten Art sah er ihr direkt in die Augen.

    »Ach, kommen Sie«, sprach er, »Sie müssen sich nicht für Ihre Vergangenheit schämen. Wenn Sie wollen, können Sie sich doch einfach ein neues Abzeichen draufkleben.« Er grinste noch breiter und klopfte dann Peter Lilwood neben sich zärtlich auf die Schulter. »Ich bin sicher, unser Peter hier kann ganz toll nähen.«

    Der Angesprochene schob ihn unsanft zur Seite. »Geh dich selbst anfassen, Taylor.«

    Verhaltenes Lachen erklang.

    Es war nicht das erste Mal, dass sich die beiden zankten. Seit ihrem Dienstantritt gab es einen öffentlichen Kampf zwischen den beiden: Lilwood, dem Vorbildlichen, und Miller, dem Vorlauten, der sich Gerüchten nach nur im Amtsstuhl hielt, weil sein Vater die Finger im Spiel hatte.

    Insbesondere Miller schien jedoch Gefallen an seiner Rolle gefunden zu haben. Gerade setzte er zum nächsten Zug an.

    »He, Huff«, rief er beherzt, »Wissen Sie was?« Er tat so, als überlege er, und blickte gespielt an seiner breiten Brust herunter. »Wenn Sie wollen, können Sie einfach mein Abzeichen haben. Ich schenke es Ihnen.«

    Er hielt einen orangefarbenen Button hoch, auf dessen runder Fläche ein grün-roter Kreis leuchtete. In einer geschwungenen Schrift waren darauf mehrere arabische Zeichen abgebildet: etwas, das aussah wie eine Dreißig und daneben ein offenbar orientalischer Name. Während Merylin noch versuchte die Worte zu entziffern, begann der dunkelblonde Mann bereits zu feixen und ergänzte: »Für dreißig Pfund die Woche können Sie Kunde des Monats bei Mr. Falafel werden.«

    Wieder lachten die Umstehenden, diesmal etwas lauter.

    Merylin lächelte nur bedacht. Sie kannte diese Art von Mann: aufmüpfig, aber harmlos. Dass er sie nur beim Nachnamen genannt hatte, ignorierte sie geflissentlich.

    »Es freut mich für Sie, Officer Miller, dass Sie Ihr Geld sinnvoll in einen solch wertvollen Titel investieren«, sagte sie in verständnisvollem Ton. »Vielleicht sollten Sie mal über eine ernsthafte Umschulung nachdenken.«

    Miller blickte sie misstrauisch an. »Was denn für eine Umschulung?«

    »Für den mit der größten Klappe!«, entgegnete Lilwood. Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein triumphierender Ausdruck aus, als sein Gegenüber sichtlich sprachlos reagierte. »Oder für den mit dem dümmsten Gesicht.«

    Diesmal war das Lachen allumfassend und im gesamten Großräumbüro zu vernehmen. Miller klappte verärgert den Mund auf und zu. Es war offensichtlich, dass er das Battle verloren hatte.

    »Jaja«, sagte er. »lacht nur. Irgendwann zeig ich’s euch allen.«

    Aber die anderen Officer wandten sich bereits zurück an ihren Schreibtisch. Nach einer Weile blieb Miller nichts anderes übrig als es ihnen mit zerknautschter Miene gleichzutun.

    Nachdenklich drehte Merylin ihren Kopf zu Lilwood, der nach wie vor auf ihre Aufmerksamkeit wartete. »Nun dann: Was gibt’s denn so Dringendes, Peter?«

    Der junge Mann richtete sich in seinem Drehstuhl auf. »Es gab einen Anruf für Sie, Sergeant. Ein gewisser Chief Inspector Robert Horley von der Arts and Antiques Unit möchte Sie sprechen.«

    »Wer

    »Chief Inspector Horley, Ma’am.«

    Merylin spürte, wie innerhalb von Sekunden sämtliches Blut in ihren Adern gefror. Ihr Lächeln verblasste und das angenehme Hochgefühl, das sie soeben noch verspürt hatte, verschwand.

    Robert.

    Eigentlich hätte der Name in ihr Freude auslösen müssen. Schließlich hatte sie mit diesem Mann mehr als ihr halbes Leben verbracht. Als erfolgreicher Inspector war er mehr als drei Jahrzehnte lang ihr Mentor gewesen; ihr einziger Partner in Scotland Yard, mit dem sie Tag und Nacht an unzähligen Fällen gesessen hatte. Sie hatten gemeinsam gerätselt, gemeinsam geweint, gestritten und gejubelt. Auch wenn es nicht immer einfach gewesen war, war er stets an ihrer Seite geblieben. Er war, wie man so schön sagte, eine treue Seele. Und zum Ende hin – nach fünfunddreißig Jahren gemeinsamer Arbeit – ihr engster Freund. Es gab wohl kaum einen Menschen, der sie besser kannte.

    Wenn da nur nicht das Problem gewesen wäre, dass sie ihn gebeten hatte, sie nie mehr wieder anzurufen.

    »Ma’am?«, fragte Lilwood vorsichtig. »Was genau soll ich denn jetzt mit dem Anrufer in der Leitung tun?«

    »In der Leitung, sagen Sie?«

    »Ja. Der Chief Inspector ist bereits seit einiger Zeit in der Warteschleife. Er wartet nur auf Ihre Verfügbarkeit.«

    Ihr rutschte das Herz noch etwas weiter in die Hose. Dann ist es also wirklich wichtig.

    »Okay. Geben Sie mir eine Sekunde.«

    Mit leicht klopfendem Herzen wandte sie sich von Lilwood ab und lief zurück in ihr Büro, immer noch die Unterlagen über die Fahrraddiebstähle in der Hand. Sie schienen mit einem Mal wahnsinnig unwichtig geworden, noch unwichtiger als zuvor. Mit einer lieblosen Geste warf sie die Akten auf ein flaches Regal. Dann ließ sie sich tief einatmend auf den Schreibtischstuhl fallen.

    Ein warmer Wind wehte, sachte, wie bei einem Atemzug. Er brachte den Geruch nach Tod und Schweiß mit sich. Merylin sah sich selbst um einen Häusereingang laufen, zitternd und mit bleichem Gesicht, während sich ihr Magen unangenehm verkrampfte. Sie kämpfte gegen die Bilder an, die sie gerade gesehen hatte: die Trage, das blutdurchtränkte Laken, das blasse Gesicht mit den leeren Augen. Übelkeit kam über sie, gefolgt von Scham … Scham, die sie so sehr niederdrückte, als hätte sich der Himmel höchstpersönlich auf sie herabgesenkt. Sie ging in die Knie.

    »Atme, Huffie«, sagte eine nahe Stimme, »du musst atmen.«

    Merylin schüttelte sich, während sie versuchte, die Erinnerung wegzuschieben. Ihr letzter Fall war schon ein Jahr her, doch er war ihr noch so klar im Gedächtnis als wäre es gestern. Und wahrscheinlich würde das für immer so bleiben. Unter Polizisten sagte man, der Tod ließ den Verantwortlichen erst in Frieden, bis auch dieser bei ihm bezahlt hatte.

    Sie griff nach dem Hörer.

    »Police Sergeant Huff, City Police of London. Was kann ich für Sie tun?«

    Die Floskel war lächerlich, das war ihr bewusst. Dennoch kam Merylin nicht umhin, sie von sich zu geben. Ihre Nervosität raubte ihr den Verstand und sie versuchte sich zu beruhigen. Es dauerte ein paar Sekunden, in denen es rauschte. Dann erklang eine tiefe, vertraute Stimme.

    »Sergeant Huff! Schön, dass ich Sie endlich erreiche! Ihre Geschäftsnummer scheint ja besser geschützt zu sein als das Pentagon.«

    Ha!

    Entgegen ihrer Stimmung hätte sie beinahe laut losgelacht. Der Klang der Worte war ihr so vertraut wie die Stimme ihres eigenen Mannes.

    »Offenbar nicht genug«, antwortete sie.

    »Nun, Sie haben es ja auch mit einem hartnäckigen Gegner zu tun. Ich freue mich, Sie nach mehr als einem Jahr endlich wieder zu hören.«

    »Das klingt, als waren Sie ganz schön auf Entzug.«

    »Allerdings. Ich weiß gar nicht, wie ich ohne Ihre ständige Besserwisserei überleben soll.«

    Merylin verkniff sich ein Grinsen. »Die freche Zunge scheint Ihnen jedenfalls noch nicht abhandengekommen zu sein.«

    »Niemals.«

    Beiderseitiges Schmunzeln.

    Sie wusste nicht wie, aber auf irgendeine magische Weise schaffte es ihr alter Partner immer wieder aufs Neue, ihr binnen eines Wimpernschlags sämtliche Aufregung zu nehmen. Seine Stimme war tief und voll, wie die eines Erzählers. Aus ihr sprach so viel Ehrlichkeit, dass es ihr immer wieder die Sprache verschlug. Selbst jetzt, übers Telefon und nach mehr als einem Jahr, spürte sie sofort wieder die Vertrautheit.

    »Wie komme ich zu der Ehre?«, fragte Merylin beiläufig. »Offenbar sind Sie noch immer nicht im Ruhestand.«

    Die Stimme am anderen Ende der Leitung, die zu einem zweiundsiebzigjährigen Mann mit schütterem Haar aber unerschütterlicher Hingabe gehörte, nahm einen bedauernden Klang an. »Leider nicht, meine Liebe. Die Diebe ruhen nicht. Jedes Mal, wenn ich versuche einen Schritt aus der Tür zu machen, klingelt irgendwo anders eine Alarmanlange.«

    »Das kann ich nur zu gut nachvollziehen.«

    Merylin nickte, während vor ihrem geistigen Auge die Unmenge an Fällen aufblitzte, die sie seit Beginn ihrer Karriere als Inspector in Scotland Yard bearbeitet hatte. Es war alles dabei gewesen: Einbrüche in Museen, Antiquitätenraub aus Lagerhallen, Kunstfälschung, bewaffnete Raubüberfälle, illegaler Handel… Die Akten hatten sich in den Jahren so schnell zu häufen begonnen wie die Seiten eines nie enden wollenden Buches.

    »Es gibt immer etwas zu tun«, kommentierte sie.

    »Ja, allerdings.«

    Es war nicht ungewöhnlich in der Polizeiarbeit, dass einige Angestellte ihren Dienst verlängerten. Statt in den Ruhestand zu gehen, der ein wohlverdienter Abschluss einer langen Karriere sein sollte, blieben viele Polizisten auch im hohen Alter noch in ihren Positionen. Sie verstanden es als ihre Berufung, der Kriminalität ein Ende zu bereiten, und schlugen sich bis zu ihrem Lebensende, meist als ehrenamtliche Berater, durch die Untiefen des Verbrechens. Da wurde geschuftet bis zum Umfallen – im wahrsten Sinne des Wortes. So erging es auch Robert, dessen langjährige und innige Liebe zur Kunst den Mann in seinem Job hielten wie das Seil eines Bungee-Jumpers diesen am Leben.

    »Huffie, ich weiß, du wolltest nie zurück«, begann Robert vorsichtig. Er sprach sie mit dem liebevollen Spitznamen an, den er seit Anbeginn gegeben hatte; zu einer Zeit als Merylin fast noch ein Kind gewesen war. »Aber ich muss dich um einen Gefallen bitten.«

    Er ließ die Worte so stehen, unscheinbar und doch eindringlich. Es herrschte Stille, während er geduldig auf Merylins Reaktion wartete. Diese zögerte, zwirbelte mit ihrem Daumen und Zeigefinger die Ecke eines Stück Papieres, das daraufhin hässliche Falten bekam. Irgendwie hatte sie geahnt, dass diese Worte kommen würden.

    »Worum geht es?«, fragte sie tonlos.

    Die tiefe Stimme am Hörer wand sich in unbehaglicher Vorsicht. Ihrem ehemaligen Partner fehlten nur selten die Worte. Und wenn, dann war es kein gutes Zeichen.

    »Das würde ich dir eigentlich gern persönlich sagen. Beziehungsweise zeigen.«

    Schweigen.

    Das Blatt Papier wurde immer kleiner, während sie es knickte, faltete und zu allen Seiten zwirbelte. Langsam aber sicher zerfiel das Papier in winzige Schnipsel, die ihr lose durch die Finger rannen.

    »Du weißt, ich …«

    Doch Robert ließ sie gar nicht erst ausreden. »Ich weiß, ich habe dir ein Versprechen gegeben. Ich habe dir versprochen, dich nicht mehr anzurufen. Und ich habe dir auch versprochen, dich nie wieder in meine Ermittlungen einzuspannen. Es waren klare endgültige Worte, und ich hatte niemals vor, sie zu brechen. Aber ich habe keine andere Wahl.«

    »Man hat immer die Wahl.«

    »Diesmal nicht.« Sie meinte das Kopfschütteln auf der anderen Seite des Telefons zu hören. »Glaub mir, sähe ich eine andere Möglichkeit, hätte ich dich niemals angerufen. Aber ich brauche dich bei dieser einen Sache. Ein allerletztes Mal. Das ist die Wahrheit, versprochen.«

    Merylin verstummte erneut. Sie hatte gar nicht gemerkt, ab wann sie ins Du gewechselt waren. Das taten sie manchmal, meistens, wenn sie über Persönliches redeten. Der Ton ihres ehemaligen Kollegen traf sie mit einer Intensität, wie es nur echte Freundschaft konnte.

    Merylin seufzte. »Robert, du weißt, warum ich gegangen bin.

    Ich möchte mich nicht noch einmal in etwas verrennen.«

    »Ich weiß.« Seine Stimme nahm einen noch weicheren Klang an.

    »Aber ich glaube, dieses Mal wird es anders.« Ein Zögern. »Wie kommst du darauf?«

    »Ich weiß es einfach.«

    Merylin verstummte, während sie über die Worte nachdachte.

    In ihrer gesamten Zeit als Partner bei der Arts and Antiques Unit hatte sie nicht einmal an seinem Wort gezweifelt. Sie und Robert hatten sich immer gut ergänzt: Er, der fanatische Kunstliebhaber mit dem Auge fürs Detail, und sie, die unerbittliche Fragestellerin und Kritikerin. Sie waren ein erfolgreiches Team gewesen – nicht nur von außen, sondern auch in der Art und Weise, wie sie sich gegenseitig unterstützten. Wenn sie jemandem vertraute, dann wohl ihm.

    Merylin warf einen Blick auf ihren Stapel mit Akten, von dem beim Aufstehen mehrere Mappen gekippt und auf das glatte Holz gerutscht waren. Ihr ganzer Schreibtisch war damit übersät.

    »Nur ein Fall?«, hakte sie nach.

    Die Stimme brummte bestätigend. »Nur ein Fall. Danach lasse ich dich für immer in Frieden. Du hast mein Wort.«

    Kurzes, tiefes Einatmen. Dann nickte Merylin kräftig, wie um sich selbst zu überzeugen.

    »Okay«, antwortete sie. »Ich komme vorbei. Aber ich muss dich warnen: Sollte es um Fahrraddiebstähle gehen, muss ich leider ablehnen. Darin bin ich nämlich inzwischen ein solcher Experte, dass du wohl vor Neid platzen würdest.«

    Ihr Kollege brach in ein unerwartetes Lachen aus. Es war ein herzliches Lachen, offen und ehrlich. »In der City of London scheint ja wirklich einiges los zu sein.«

    »Hör bloß auf.«

    Sie hörte sein Schmunzeln auf der anderen Seite. »Vielleicht sollte ich dort auch einmal ein Fahrrad klauen, damit wir uns öfter wiedersehen.«

    »Das wäre ziemlich dumm.«

    »Stimmt«, sagte Robert. Er wurde wieder ernst. »Dann bis gleich.«

    »Bis gleich.«

    2. Kapitel

    London, 3. Oktober 2019

    Merylin wollte es nicht wahrhaben, aber als sie eine Stunde später die Westminster Bridge an der Themse überquerte, musste sie sich eingestehen, dass sie aufgeregt war.

    Was wollte ihr Robert sagen, was er ihr nicht auch schon am Telefon hätte erzählen können?

    Es gab eigentlich nur zwei Dinge, die den Chief Inspector für gewöhnlich davon abhielten mit der Sprache rauszurücken: sein Hang zur Geheimniskrämerei – er liebte es, die Leute hinzuhalten und dadurch die Spannung zu steigern – oder aber Unwohlsein über eine Botschaft, die er eigentlich lieber nicht überbringen wollte. Und nachdem er am Telefon so undeutlich herumgedruckst hatte, vermutete Merylin, dass es sich um das zweite handelte.

    Es knirschte leicht als sie ihre schmalen Füße auf den frostigen Boden der Brücke setzte. Trotz der Tatsache, dass der Oktober es heute gut mit ihnen meinte und einen trockenen, sonnigen Tag geschickt hatte, war es ungewöhnlich kalt. Kleine Nebelwölkchen bildeten sich vor ihrem Gesicht, als sie laut den Atem ausstieß. Unter ihr floss das dunkelgraue Wasser der Themse glitzernd dahin. London lag ruhig da, seltsam aufgeklart, und in Erwartung eines langen Winterschlafs.

    Gut eingewickelt in einen dicken Schal, der ihren Oberkörper schützend umschlang wie ein wollener Brustpanzer, verließ Merylin die Westminster Bridge und bog nach rechts auf eine weite Uferstraße. Die Vitoria Embankment lag stolz vor ihr, breit und von geraden Platanenbäumen gesäumt. Über den Wipfeln erhob sich ein charakteristisches Gebäude: der Turm des Elizabeth Towers, der sich mit seinen sandgelben Mauern und der großen kunstvollen Uhr stolz aus dem Palace of Westminster erhob. Er war der wohl bekannteste Glockenturm Londons – der Big Ben, wie er von den Touristen aus aller Welt nur liebevoll genannt wurde. Für gewöhnlich erstrahlte er in seiner vollen Pracht und zog viele schaulustige Passanten an. Heute allerdings schmückten ihn nur weiße Planen und metallene Baugerüste.

    Tja, nichts ist für die Ewigkeit.

    Merylin folgte weiter der Straße, vorbei am Westminster Pier und dem Portcullies House. Schließlich fand sie, wonach sie suchte: ein großes, eckiges Gebäude zu ihrer Linken. Helle Steinquader waren zu einem mehrstöckigen Gebilde aufgetürmt worden, dessen massives Erscheinungsbild sich wie ein weißer Block über die Platanenbäume erhob. Es stand in starkem Kontrast zu dem traditionellen roten Backsteingebäude, das sich wie ein riesiger Komplex hinter und neben den Neubau schlängelte. Man hätte meinen können, es sei Krankenhaus, doch ein Blick auf das Schild mit den Lettern New Scotland Yard verriet schnell worum es sich in Wirklichkeit handelte: den alten und den neuen Hauptsitz des Metropolitan Police Services, jener Behörde, der Merylin beinahe die Hälfte ihres Lebens gedient hatte. Im Volksmund wurde gern der Name Scotland Yard verwendet, der vor allem auf die Kriminalpolizei bezogen war, die seit Anbeginn des neunzehnten Jahrhunderts für Recht und Ordnung im Bereich von Greater London sorgte. Merylin verlangsamte ihren Schritt. Während sie mit leichtem Stolz auf den bogenförmigen, gläsernen Eingangsbereich blickte, wurde ihr bewusst, wie gern sie immer hier gewesen war.

    Es piepte, als sie durch die Sicherheitsschleuse hinter der Eingangstür trat. Der Anbau war lichtdurchflutet und äußerst minimalistisch. Ein Sicherheitsbeamter trat augenblicklich auf sie zu. »Tragen Sie irgendwelche metallischen Gegenstände bei sich, Ma’am?«, fragte er.

    Merylin blickte an sich herunter. Außer einer formellen, weißen Bluse mit hohem Stehkragen und einer ordentlich gebügelten Bundfaltenhose trug sie nichts, das auf ihren Rang hindeuten könnte. Sie hatte sowohl ihr Dienstabzeichen als auch die Außendienstausrüstung (Schlagstock und Elektroschocker) in ihrem Büro der City Police gelassen. Deshalb antwortete sie: »Nein, nichts außer meinem Schmuck.«

    Der junge Mann setzte eine förmliche Stimme auf. »Den müssten Sie dann bitte kurz ablegen, Ma’am. Unsere Sensoren sind sehr empfindlich. Wenn Sie damit fertig sind, treten Sie bitte erneut durch die Kontrolle.«

    Merylin nickte und tat wie geheißen. Natürlich. Sie konnte hier nicht mehr einfach so hereinspazieren wie früher.

    Sie entfernte ihre Perlenohrringe und legte sie in eine kleine Plastikschale. Als sie gerade die Hände hob, um erneut in die Schleuse zu treten, ertönte plötzlich von Weitem eine befehlsgewohnte Stimme.

    »Officer Grey!«

    Wie aus dem Nichts erschien in der breiten Eingangshalle ein Mann, der sich ihnen in zügigem Tempo näherte. Er sah schon etwas älter aus, mit schütterem braun-grauem Haar und buschigen Brauen, die einem sofort ins Gesicht stachen. Mit seinen kantigen Gesichtszügen erinnerte er an die harsche Optik eines hochrangigen US-Marshalls. Er war nicht besonders groß, etwa einen Meter fünfundsiebzig, dafür jedoch umso kräftiger gebaut. Während er mit großen Schritten auf sie und den Sicherheitsbeamten zukam, herrschte in dem Eingangsbereich absolute Stille. Merylin entwich ein erleichtertes Lächeln, als sie Chief Inspector Robert Horley erkannte.

    »Schön zu sehen, dass Sie Ihren Job immer noch sehr ernst nehmen, Officer. Aber seien Sie doch bitte so nett und lassen Sie die Dame hindurch. Sie hat ganz bestimmt nicht vor, uns auszurauben.« Er baute sich vor ihm auf, breitbeinig und selbstsicher, wie jemand, der es gewohnt war Befehle zu erteilen. Sein jüngeres Gegenüber hatte sichtlich Mühe, sich nicht einschüchtern zu lassen.

    »Es tut mir leid, Sir, aber unsere Sicherheitsvorkehrungen gelten für absolut jeden. Es gibt keine Ausnahmen.« Officer Grey sprach leise, aber bestimmt. Er drückte seinen Rücken durch und sah seinem Vorgesetzten fest in die Augen. »Ohne vollständige Prüfung darf diese Frau das Gebäude nicht betreten.«

    Der Chief Inspector warf erst ihm, dann Merylin einen amüsierten Blick zu. Trotz seiner zweiundsiebzig Jahre strahlte er eine einschüchternde Präsenz aus. Sein schmaler, aber freundlicher Mund verzog sich zu einem Lächeln.

    »Aber ist Ihnen denn gar nicht bewusst, wen Sie da vor sich haben?«

    Der Officer schaute ein wenig verdutzt. Er musterte Robert großäugig als wäre er der Papst höchstpersönlich. Während er ihn von oben bis unten studierte, bemühte er sich um eine vorsichtige Antwort.

    »Sie sind Chief Inspector Horley, Sir, Leiter der Art and Antiques Unit. Wir haben uns letztens erst gesprochen, als Sie Fragen zu den Sicherheitsstandards im Garden Museum hatten.«

    Robert schmunzelte. »Ich rede nicht von mir, Officer Grey.«

    Der Mann in der blauen Uniform erblasste sichtlich. Mit beinahe erschrockenem Blick fuhr er zu Merylin herum, die immer noch geduldig an den Detektoren stand; in einer Hand die funkelnden Ohrringe, in der anderen ihren zivilen Mantel und den dicken Schal. Er musterte sie leicht verzweifelt von oben bis unten, ohne irgendeine Erleuchtung zu haben.

    »Es tut mir leid, Sir. Aber ich sehe diese Frau zum ersten Mal.«

    »Faszinierend. Wirklich faszinierend.«

    Unter den beklommenen Blicken des Officers winkte Robert Merylin mit einer großzügigen Geste durch die Sicherheitsschleuse. Es piepte kein weiteres Mal. Der Chief Inspector klopfte dem Sicherheitsbeamten aufmunternd auf die Schulter. »Es sei Ihnen verziehen, Officer Grey. Womöglich haben Sie diese Frau tatsächlich noch nie gesehen. Aber an Ihrer Stelle würde ich dann den Anstecker überdenken, den Sie da so offensichtlich tragen.«

    Er deutete auf den kleinen Pin, der in Form einer goldenen Eule mit geöffneten Flügeln an der rechten Brustseite des Officers glänzte. Sowohl er als auch Merylin folgten Roberts Handbewegung. Dann klappte dem Mann überrascht der Mund auf.

    »Oh«, war alles, was er sagte.

    Chief Inspector Horley lächelte, dann wandte er sich höflich ab. Merylin wollte weitere Fragen stellen, doch da hatte der Chief Inspector sie auch schon wie selbstverständlich unterm Arm gegriffen und von ihm fortgezogen. Bereitwillig ließ sie sich von ihm durch die gläserne Eingangshalle führen, bis sie vor einem neumodischen Fahrstuhl mit blinkender Anzeigetafel stehen blieben.

    »Was war das denn?«, platzte Merylin heraus.

    Ihr ehemaliger Partner und Vorgesetzter machte ein unschuldiges Gesicht. Dabei zogen sich seine buschigen Augenbrauen zu einer weichen Linie zusammen. »Du bist offenbar berühmt, wusstest du das noch nicht?«

    »Berühmt? Wegen eines Ansteckers?«

    Robert antwortete nicht sofort. Er ließ sie kurz in den Fahrstuhl einsteigen, drückte einen Etagenknopf und sah ihr dann fest in die Augen. »Glaubst du etwa, dass ich es einfach so hinnehme, dich verschwinden zu lassen, ohne dass jemand dir den gebührenden Respekt entgegengebracht hat?« Er schüttelte den Kopf. »Schlimm genug, dass Scotland Yard dich einfach so gehen lassen hat.«

    Die Entlassung verlief tatsächlich relativ unspektakulär. Nachdem Merylin vor einem Jahr die Kündigung eingereicht hatte, wurde sie noch am selben Tag aufgefordert, ihren Schreibtisch zu räumen. Es ging alles so schnell, dass sie kaum Zeit gehabt hatte, sich von ihren Kollegen zu verabschieden.

    »Du bist dafür verantwortlich?«, hakte Merylin nach. Robert nickte.

    »Als du gegangen bist, hast du hier eine ziemlich große Lücke hinterlassen, Huffie. Nicht nur auf dem Papier.«

    »Das ist …«

    Merylin spürte wie eine Mischung aus Wehmut und Verwirrung über sie hineinschwappten. Erneut drohten die schrecklichen Erinnerungen ihres letzten Falls über sie hereinzubrechen. Sie schob sie mit aller Macht von sich.

    »Du solltest das nicht sagen«, sprach sie leise, »nicht, nach allem, was geschehen ist.«

    »Gerade deshalb sollte ich es sagen. Du warst die beste Inspektorin, den ich je gekannt habe.«

    »Und auch die Befangenste.«

    »Quatsch. Das war ein einziges Mal. Und du hast lediglich eine falsche Entscheidung getroffen – mehr nicht. Wenn es danach geht, hätte ich genauso kündigen müssen.«

    Der Fahrstuhl setzte sich lautlos in Bewegung. Die Fliehkraft war so stark, dass Merylin spürte, wie sich ihre kleinen Füße gen Boden stemmten.

    Merylin musterte wortlos ihren alten Freund. Mit gesenktem Kinn versuchte sie das beschämende Gefühl zu unterdrücken, das in ihr hochkam. Die Nähe und die Erinnerungen, die sie befallen hatten, seit sie das Gebäude betreten hatte, machten es ihr extrem schwer, gefasst zu bleiben. Sie wollte noch mehr sagen, wollte sich weiter entschuldigen. Aber alles, was herauskam, war ein geräuschvolles Schlucken.

    Ihr alter Kollege verstand sie zum Glück auch ohne Worte.

    »Ich weiß, Huffie«, sprach er. »Du musst jetzt nichts sagen. Alles ist gut.«

    »Nein. Gar nichts ist gut.«

    Sie schüttelte den Kopf, während sie Robert anstarrte, der ihr mit einem warmherzigen Blick sein Verständnis zu zeigen versuchte. Ein Jahr lang hatten sie sich nicht gesehen – doch Merylin kam es vor wie eine Ewigkeit. Robert schien es ähnlich zu gehen, denn noch während sie sich schweigend anstarrten, tippte er sich mit der Hand auf die Brust; eine schmerzliche Geste, die vertrauter nicht hätte sein können. Merylin spürte, wie die Mauer, die sie im letzten Jahr um ihr Herz aufgebaut hatte, zerbrach wie eine spröde Eierschale.

    »Du hast mir gefehlt«, flüsterte sie.

    »Du mir auch.«

    Und dann platzte es aus ihnen heraus: Sie umarmten sich, kurz aber innig, und drückten ihre Körper so herzlich aneinander, wie es nur zwei Menschen konnten, die beinahe ihr halbes Leben miteinander verbracht hatten. Roberts Brust war warm und fühlte sich an wie ein beruhigendes Kissen. Merylin hatte seit ihrem Weggang gar nicht bemerkt, wie sehr sie ihn vermisst hatte.

    Als sie sich wieder voneinander lösten, warf sie ihm einen fragenden Blick zu. Ihr entwich ein verlegenes Grinsen. »Und die Leute hier tragen jetzt echt diese kitschigen Ansteckpins? Wegen mir

    »Hm-hmm. Du bist jetzt ein Vorbild für alle, die jemals etwas werden wollen.«

    Merylin warf ihm einen scheelen Blick zu. »Das klingt, als wäre ich bereits vor vielen Jahren gestorben.«

    »Ist das nicht das Los eines jeden Helden?«, konterte Robert.

    Sie schwiegen kurz, als der Fahrstuhl stoppte und eine Frau mit Kurzhaarfrisur einstieg. Sie trug das unverkennbare Abzeichen eines Constables. Merylin registrierte erleichtert, dass sie keinen eulenförmigen Anstecker trug.

    »Was hat es mit der Eule auf sich?«

    »Laut alten Indianersagen«, antwortete Robert, »ist die Eule die Zauberin der Nacht. Anders als viele andere Tiere hat sie spezielle röhrenförmige Augen, die ihr selbst in der Dunkelheit einen klaren Blick erlauben. Sie soll Licht dorthin bringen, wo nur Finsternis herrscht, und steht für Weisheit und Kraft. Genau wie du, Huffie – denn du hast in deiner Zeit als Inspector mehr als nur einmal Licht in unser Dunkel gebracht. Du warst unsere Eule.«

    Merylin spürte ein seltsames Gefühl in der Brust, das sie nicht recht einzuschätzen vermochte. Stolz? Scham? Verwunderung?

    »Aber das alles habe ich ja nicht alleine geschafft.«

    Robert entfuhr ein amüsiertes Schnauben. »Natürlich nicht. Aber du bist eine Frau. Die Leute mögen dich, weil du viel jünger und hübscher bist als ich.«

    Merylin errötete leicht. »Jetzt sag mir nicht, dass ich aufgrund meiner Schönheit zur Legende geworden bin!«

    Robert zwinkerte ihr grinsend durch sein faltiges Gesicht zu.

    »Vielleicht.«

    Der Fahrstuhl öffnete sich mit einem Piepen und offenbarte einen hellen Flur mit Marmorfliesen und transparenten Wänden. Weißes Licht schien durch das Milchglas auf einen frisch polierten Boden. Über dem gegenüberliegenden Eingang stand in silbernen Lettern:

    Specialist, Organised & Economic Crime Command

    The Art and Antiques Unit

    Im Innern kam ihnen ein Schwall kühler Luft entgegen. Merylin lächelte, während sie in die gewohnte Atmosphäre ihrer alten Abteilung eintrat.

    Ähnlich wie die CLP war die Arts and Antiques Unit sehr klein. Sie bestand gerade einmal aus einer Hand voll Mitarbeitern, die Kunstverbrechen aller Art in Greater London bekämpften: einem Detective Sergeant, drei Detective Constables, einem Chief Inspector und zwei weiteren Officers, die den erstgenannten bei ihren Aufgaben zur Hand gingen. Dazu zählte zum einen der illegale Handel von Antiquitäten, aber auch der direkte Raub von Kunst- und Kulturgegenständen, die den öffentlichen oder privaten Gebäuden in London entwendet wurden. Es war eine Menge Arbeit und die Abteilung war mehr als unterbesetzt. Merylin konnte sich noch zu gut an die vollen Tage erinnern, an denen sie mit ihrem kleinen Team bis früh morgens an ihren Schreibtischen gesessen hatten.

    Umso erstaunter war sie, bereits im Eingangsbereich mehr als ein Dutzend neuer Gesichter zu sehen.

    »Habt ihr neue Mittel bekommen?«, fragte sie erstaunt.

    Robert nickte. »Das Art Crime Command hat entschieden, uns weitere Einheiten zur Verfügung zu stellen. Wir besitzen jetzt nicht nur eine Einheit zur Analyse, sondern auch eine eigene Einsatztruppe.«

    »Tatsächlich?«

    »Ja. Jetzt müssen wir nicht mehr ständig das Territorial Police um Mithilfe bitten. Wenn ich wollte, könnte ich den ganzen Tag hinter meinem Schreibtisch verbringen.«

    Merylin wiegte anerkennend den Kopf. Letztes Jahr, bevor sie die Abteilung freiwillig verließ, hatten sie sämtliche Aufgaben noch selbst übernehmen müssen: Spurensicherung, Befragung, Materialsammlung, Auswertung, Ermittlung. Das schlauchte und erschwerte auf Dauer die Konzentration auf den Außeneinsätzen.

    Robert führte sie durch den weitläufigen Eingangsbereich, vorbei an metallenen Aktenschränken und federnden Stühlen, bis hin zu einem sterilen Gang mit Gerflorboden. Von hier aus gelangte man in sämtliche privaten Büros der Mitarbeiter. Statt sie jedoch zu dem schmalen Doppelbüro an der Nordseite zu führen, das er und Merylin sich mehrere Jahrzehnte lang geteilt hatten und von dem man einen tollen Blick auf die Themse hatte, lenkte Robert sie ein paar Schritte weiter, bis sie an einer hölzernen Tür am Ende des Gangs angelangten. Es handelte sich um einen schlichten und hellen Raum, der neben einem ausladenden Schreibtisch auch mehrere gepolsterte Sitzgelegenheiten und einen flachen, kreisverzierten Teppich besaß. Überall schmückten Zeitungsartikel die Wände. Vor einer breiten Fensterfront, von der aus man direkt auf das gegenüberliegende London Eye blicken konnte, thronte ein lederner Sessel.

    Zu Merylins Überraschung waren sie nicht allein.

    In ebenjenem Sessel vor dem Fenster saß eine junge Frau mit dunklem Pferdeschwanz. Sie war schlank, trug einen mintgrünen Hosenanzug und hatte ein spitzes Gesicht. Als Robert und Merylin hereinkamen, schlug sie die Beine auseinander und erhob sich anmutig aus dem Polster.

    »Ich war so frei in Ihrem Büro auf Sie zu warten, Robert. Ich hoffe das ist kein Problem.«

    Sie neigte ihren Kopf, dann reichte sie dem Chief Inspector ausdrucklos die Hand. Er schüttelte sie mit freundlicher Geste. Dann trat sie, ohne Merylin zu beachten, wieder einen Schritt zurück. Mit einer kontrollierten Geste verschränkte sie beide Arme vor der Brust.

    »Machen Sie sich keine Sorgen, Marie-Ann«, erwiderte Robert. Er deutete auf das Innere des kleinen Raumes. »Sie können sich in dieser Abteilung frei bewegen. Ich habe absolut nichts zu verbergen.«

    »Vielen Dank.«

    Es herrschte kurz Stille, während derer Merylin mit zusammengekniffenen Augen die junge Frau musterte, die offenbar weder den Anstand besaß, ihren Vorgesetzten mit Sir anzusprechen, noch ein höfliches Lächeln aufzusetzen. Sie wirkte unsympathisch, geradezu distanziert. Aber vielleicht war Robert ja gar nicht ihr Vorgesetzter? Unwahrscheinlich. Merylin fiel auf, dass sie im Gegenzug zu Officer Grey keinen Anstecker trug.

    »Merylin, das ist Marie-Ann Powell«, stellte sie der Chief Inspector vor, »unsere interne Fallanalytikerin und zuständige Vorsitzende für das Projekt Repeated. Sie ist neu in der Abteilung und ein wahres Talent, was Analyse und Datenaufbereitung angeht.«

    »Sehr erfreut.«

    Sie schüttelten sich die Hände, eine Geste, die ebenso reserviert war wie ihre bisherigen Bemühungen. Powell blickte ihr selbstbewusst in die Augen. In ihrer Miene war keine Regung zu erkennen.

    Merylin und Robert ließen sich auf einer der Sitzgelegenheiten nieder, die in einem Halbkreis um den gemusterten Teppich angeordnet waren. Robert bot ihr einen Kaffee an, den sie dankend ablehnte, und setzte sich dann ebenfalls auf einen der Stühle. Mit angespanntem Gesicht erhob er das Wort.

    »Bevor ich dazukomme, warum du hier bist, Merylin, möchte ich dir zunächst etwas über unser neues Projekt erzählen. Es nennt sich Repeated und ist die neueste Errungenschaft unserer Abteilung.« Er warf einen Blick auf die Analystin, als müsste er sich ihre Zustimmung holen weiterzureden. »Wie du sicher weißt, ist die britische Polizeiarbeit nach Behörden und Territorien aufgeteilt: Die City Police kümmert sich um alle Fälle im Zentrum Londons, Scotland Yard um den Rest von London, die Liverpool City Police um Liverpool – und so weiter und sofort. Je nach Zuständigkeitsbereich gehen die Fälle auch in die jeweilige Datenbank dort ein, wo sie archiviert und Täterprofile angelegt werden. Diese können dann auch nur von der jeweiligen Behörde eingesehen werden. Es sei denn…«, ihm entfuhr ein stolzes Grinsen, »man kommt von Scotland Yard. Als Englands berühmteste Polizeibehörde kommt uns eine gewisse Sonderrolle zu. Wir haben nicht nur Zugriff auf alle gelisteten Straftäter Großbritanniens, sondern helfen auch bei den Ermittlungen anderer Regionen sowie bei der Aus- und Weiterbildung ihrer jungen Polizisten mit. Aber das weißt du ja schon alles.«

    Merylin nickte, um ihm zu bedeuten fortzufahren. Eben diese Sonderstellung war einer der Gründe, warum sie so schnell an den Job bei der CLP gekommen war. Sie ließ sich in die tiefen Lehnen ihres Stuhles sinken.

    »Allerdings klingt das alles immer besser als es wirklich ist. Um ehrlich zu sein – die Zusammenarbeit mit anderen Behörden ist grauenhaft. Wir haben zwar riesige Datenbanken und fantastische Einheiten in ganz Großbritannien, doch am Ende hilft sich jeder am liebsten selbst. Außerdem mögen es die meisten ganz und gar nicht, wenn Scotland Yard sich in ihre Ermittlungen einmischt. So kommt es, dass wir jedes Mal, wenn wir eine Auskunft benötigen, eine offizielle Anfrage stellen müssen. Und bis wir die Informationen dann auch erhalten, können Wochen – wenn nicht sogar Monate – vergehen.«

    Das stimmt allerdings.

    Merylin erinnerte sich nur zu gut an einen Fall vor sechs Jahren, bei dem sie einen dringenden Fingerabdruck von einer Behörde in Hampshire benötigt hatten. Sie hatten bereits alles, was sie für eine Anklage brauchten: den Namen des Diebes, seine biometrischen Daten und sein Motiv. Einzig die Übereinstimmung der Fingerabdrücke mit den Fällen aus Hampshire fehlte noch. Also stellten sie die Anfrage und hofften auf eine schnelle Bearbeitung – schließlich lag Hampshire nur einen Katzensprung von London entfernt. Fehlanzeige. Stattdessen hatten sie ganze zwei Monate auf die Daten warten müssen – zwei Monate, in denen sich der Täter ganz entspannt zusammen mit seiner neuen Identität und dem gestohlenen Diebesgut auf den Weg zu den Cayman Islands gemacht hatte.

    »Deshalb hatte unsere liebe Marie-Ann die glänzende Idee ein Programm zu erfinden, das nicht nur alle Kunstverbrechen der letzten fünfzig Jahre ausführlich erfasst«, er warf Powell einen aufmunternden Blick zu, »sondern auch die Fälle aller Behörden in England neu kategorisiert. Und zwar ganz ohne Verschlussregelung.«

    »Und das ist legal?«, fragte Merylin.

    »Ja. Es gab letztes Jahr ein neues Gesetz, welches unsere Ermächtigungen auf andere Behörden ausweitet und uns damit fast uneingeschränkten Zugriff auf sämtliche Fallakten ermöglicht. Wir sind nun in der Lage einzelne Fälle, für die man sonst Jahre und unzählige Anfragen gebraucht hätte, auf einen Blick miteinander zu vergleichen. Dafür müssen wir nur bestimmte Kriterien in die Suchanfrage eingeben und der Computer spuckt aus, was wir suchen.«

    »Mit Kriterien meinen Sie so etwas wie Uhrzeit, Gebäude oder Zielobjekt?«

    »Genau. Mithilfe von Repeated können wir jetzt jederzeit und überall alte und neue Fälle miteinander vergleichen. Das ist insbesondere für die Nachahmungsforschung von unglaublichem Wert.«

    Merylin nickte. Sie verstand so langsam, worauf ihr alter Kollege hinauswollte. Mit einem solchen Programm konnten sowohl Wiederholungstäter als auch Nachahmungen leicht identifiziert werden. Sie wünschte sich, sie hätte ein solches Hilfsmittel bereits vor dreißig Jahren gehabt. Es hätte ihr einiges an Schreibtischarbeit erspart.

    »Okay, ich verstehe. Ihr habt

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