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Staller und der kantige Igor: Mike Stallers zwölfter Fall
Staller und der kantige Igor: Mike Stallers zwölfter Fall
Staller und der kantige Igor: Mike Stallers zwölfter Fall
eBook492 Seiten6 Stunden

Staller und der kantige Igor: Mike Stallers zwölfter Fall

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Über dieses E-Book

Ein Mann, nur mit einer Unterhose bekleidet und an einen Stuhl gefesselt, wird im Tiefkühlraum eines Restaurants steifgefroren aufgefunden. Der Tote hat keine Feinde und keine Verbindungen ins kriminelle Milieu. Kommissar Bombach steht allein vor dem wohl kuriosesten Mord seiner Karriere, denn sein Freund, Polizeireporter Mike Staller, nimmt seit Monaten eine Auszeit in Südfrankreich. Aber als eine weitere Leiche entdeckt wird – eine junge Frau, tot in der Sauna eines Swingerklubs, die Tür versperrt – schaltet Staller sich ein.

Auch diese junge Frau, die Tochter der Inhaberin, scheint grundlos getötet worden zu sein. Es gibt keine Verbindungen zum ersten Opfer. Und doch müssen beide Verbrechen in einem Zusammenhang stehen, da ist sich Bombach sicher. Als Mike Staller für einige Tage nach Hamburg zurückkehrt, bekommt er einen Tipp und einen Auftrag: Die Morde sollen auf das Konto einer Bande gehen, die mit ihren kriminellen Machenschaften in Hamburg Fuß fassen will. Das ruft auch den kantigen Igor auf den Plan, eine geheimnisumwitterte Gestalt, die die Geschicke der organisierten Kriminalität in der Hansestadt lenkt. Der Polizeireporter und der Unterweltboss starten in einen Wettlauf, wer die Verbrecher zuerst findet. Das entscheidet darüber, ob die Täter im Gefängnis oder aber in einem düsteren Folterkeller landen. Der kantige Igor ist für seine absolute Skrupellosigkeit bekannt.

Gleichzeitig will Staller einen zwanzig Jahre alten Fall lösen, der sich in seiner neuen Wahlheimat, der Provence, abgespielt hat. Ein Geldtransporter wurde damals überfallen, beide Wachmänner getötet und der mutmaßliche Täter hatte sich die Pulsadern aufgeschnittenen. Lolo, die damalige Freundin des Verdächtigen, spielt heute eine wichtige Rolle in Stallers Leben und glaubt nicht an die Schuld ihrer Jugendliebe.

Bombach und Staller arbeiten auch über große Entfernungen wieder perfekt zusammen. In ihrer unnachahmlichen Art streiten sie sich, helfen sich, kabbeln sich – und lösen am Ende alle drei Fälle.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Sept. 2023
ISBN9783384021601
Staller und der kantige Igor: Mike Stallers zwölfter Fall
Autor

Chris Krause

Chris Krause, geboren und aufgewachsen in Hamburg, ist bekannt als Fernsehjournalist und Autor vieler erfolgreicher Sendungen wie „Schillerstraße“ und „Genial daneben“. Zu Beginn seiner Laufbahn arbeitete er mehrere Jahre als Polizeireporter für RTL und andere Sender. Dabei sammelte er Erfahrungen bei unzähligen Kriminalfällen im In- und Ausland. Aus diesen vielfältigen Erlebnissen entstanden die beiden Protagonisten, die nun bereits den zwölften Fall der „Staller“-Reihe lösen. Krauses unbändiger Drang, spannende Geschichten zu erzählen, fesselt seine Leser bis zur letzten Seite. Der Hamburger Polizeireporter Mike Staller und Kommissar Bombach verleihen mit ihrer humorvollen Interaktion auch bedrückenden Fällen stets eine leichte, unterhaltsame Note mit jeder Menge Lokalkolorit. Mit seinem Debütroman „Staller und der Schwarze Kreis“ drang Krause 2012 beim Wettbewerb um den besten Roman Norddeutschlands unter vielen hundert Einsendungen gleich auf einen der vordersten Plätze vor. 2017 kam der Band "Staller und der unheimliche Fremde" auf die Shortlist zum Leserpreis Krimi beim größten deutschsprachigen Buchportal LovelyBooks.

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    Buchvorschau

    Staller und der kantige Igor - Chris Krause

    „Was zum Teufel …?"

    Thomas Bombach, erfahrener Kriminalhauptkommissar der Polizei Hamburg und erfolgreicher Ermittler in ungezählten Mordfällen, erschauerte. Auf seinen kräftigen Unterarmen sorgte eine Gänsehaut dafür, dass die feinen Härchen einheitlich strammstanden. Unwillkürlich umfasste er seinen Oberkörper, eine untypische Haltung für ihn, zumal es da ziemlich viel Körper gab, der umfasst werden wollte. Für einen ausführlicheren Kommentar konnte er sich momentan nicht entscheiden. Er hatte das Gefühl, dass ihm das Blut in den Adern gefror.

    Dafür gab es zwei Gründe, die sogar in einem Zusammenhang standen. Zunächst war es schlicht und ergreifend erbärmlich kalt. Draußen auf der Straße herrschten frühsommerliche 25 Grad, die dazu geführt hatten, dass Bombach auf eine Jacke verzichten konnte. Hier unten in dem kleinen Raum hinter der Stahltür war es mehr als 40 Grad kälter.

    Der zweite Grund war männlich, nur mit einer Unterhose bekleidet und saß auf einem Stuhl. Darüber hinaus war er eindeutig tot. Um das zu erkennen, benötigte man weder spezielle medizinische Kenntnisse noch den Gerichtsmediziner, der sich gerade aufrichtete und den Kopf schüttelte.

    „So etwas habe ich in meinem Berufsleben noch nicht gesehen", stellte er fast andächtig fest und drückte seinen Daumen probehalber auf den Quadrizeps des Toten.

    Kommissar Bombach fehlten weiterhin die Worte, während seine Augen davon unabhängig ihre Arbeit verrichteten und sich Einzelheiten des Tatorts und des Opfers einprägten. Natürlich würde es Fotos geben, jede Menge sogar, aber der erste unmittelbare und persönliche Eindruck besaß eine andere Qualität.

    Die Arme des Mannes waren hinter der Lehne mit Kabelbindern gefesselt und zusätzlich am Stuhl fixiert. Oberhalb der Hüfte war der Oberkörper des Toten mit einem Spanngurt an das Sitzmöbel gebunden. Und um wirklich ganz sicherzugehen, hatte jemand auch die Unterschenkel des Mannes mit Klebeband an den Stuhlbeinen befestigt. Viele Bewegungsmöglichkeiten blieben da nicht übrig. Außerdem sorgte ein Knebel dafür, dass das Opfer nicht laut werden konnte.

    Bombach rieb sich die Hände, die langsam gefühllos wurden. Eine weitere Besonderheit war sicher der große, flache Bottich, in dem sowohl die Stuhlbeine als auch die Füße des Toten steckten. Ursprünglich war er vermutlich mit Wasser gefüllt. Bei den aktuell herrschenden arktischen Temperaturen war daraus ein massiver Eisblock geworden, der Mann und Möbel ziemlich unverrückbar an Ort und Stelle hielt.

    „Minus 20 Grad habe ich am Thermometer abgelesen, als ich den Raum zum ersten Mal betreten habe, erklärte der Doc ungewohnt redselig. Vermutlich war das der außergewöhnlichen Situation geschuldet. Der Mediziner erlebte einen unerwarteten Ausbruch aus der Routine und reagierte darauf seltsam begeistert. „Jetzt steht die Tür schon eine ganze Zeit offen und wir haben nur noch minus 16.

    „Ist er … ich meine, ist er erfroren?" Der Kommissar musste sich räuspern. Die eisige Luft schien seine Lungen durchbohren zu wollen.

    „Was ich sicher sagen kann, ist, dass er gefroren ist. Und zwar vollständig. Das lässt einigermaßen wenig Rückschlüsse auf die Todesart oder den Todeszeitpunkt zu. Auf den ersten Blick kann ich keine äußeren Verletzungen feststellen, aber das soll nichts heißen. Ich muss ihn erst auftauen."

    Diesen Vorgang wollte sich der Kommissar lieber nicht zu ausführlich vorstellen. Mehr zu sich selber murmelte er: „Allein kann er das ja wohl nicht hinbekommen haben. Suizid fällt also schon mal aus."

    „Tötung auf Verlangen wäre aber noch in der Verlosung", antwortete der Doc aufgeräumt. Normalerweise musste man ihm jedes Wort aus der Nase ziehen, aber heute war alles anders. Seine Augen leuchteten und er ließ seinen Blick geradezu liebevoll über die etwa achtzig Kilo Gefrierfleisch schweifen.

    „Irgendein Anhaltspunkt, wie lange er schon tot ist?"

    „Nein, erwiderte der Mediziner fröhlich. „Wobei – mehr als 24 Stunden dürften es schon sein. Es dauert seine Zeit, bis so ein Brocken durchgefroren ist. Aber es kann natürlich auch schon eine Woche her sein. Oder ein Jahr. Wer weiß?

    „Sehr hilfreich", brummte Bombach. Die gute Laune des sonst notorisch muffeligen Pathologen irritierte ihn. Als Ermittler hatte er eine derartige Situation bisher auch noch nicht erlebt und er hätte gut darauf verzichten können. Einen Grund für Euphorie und Heiterkeit konnte er jedenfalls nicht erkennen.

    „Sobald Ötzi hier getaut ist, werde ich mehr sagen können. Ich bin selber gespannt, was ich herausfinden werde. Mann, das wird richtig aufregend!" Auch der Mediziner rieb sich nun die Hände, aber Bombach hatte den Verdacht, dass hier Vorfreude der ausschlaggebende Grund war, nicht Kälte.

    „Wie lange wird es dauern, bis Sie anfangen können?"

    Der Doc sah auf seine Uhr.

    „Heute wird das nichts mehr. Morgen früh, nehme ich an. Ich kann ihn ja schlecht in den Ofen schieben, damit es schneller geht."

    Bombach konnte sich den Pathologen ganz gut in der Rolle der Hexe aus Hänsel und Gretel vorstellen, behielt diese Ansicht aber lieber für sich.

    „Wie kriegen Sie ihn denn überhaupt zu sich auf den Tisch? Muss man den Eisblock da unten erst abschlagen?"

    „Um Himmels willen! Natürlich nicht. Nachher brechen noch die Füße mit ab. Nein, nein, das muss alles mit! Hach, so viele Dinge, die zu bedenken sind!"

    Der Kommissar beschloss, sich den Freudentaumel des Gerichtsmediziners nicht länger anzutun. Hier konnte er nichts mehr ausrichten. Außerdem war es wirklich zu kalt zum Denken. Es gab Polizeiarbeit zu erledigen. Das war seine Kernkompetenz.

    „Na, Bommel, was hast du nun wieder angestellt?"

    Bombach fuhr herum, weil er dachte, die Stimme seines Freundes Mike Staller zu hören. Der Polizeireporter nutzte alle gesetzlichen und auch ungesetzlichen Mittel, um Informationen zu bekommen und traf oft fast gleichzeitig mit ihm an Tatorten ein. Mit einem frechen Spruch nahm er oft den schrecklichen Bildern die Spitze.

    Aber der Kommissar sah nur den dunklen Kellergang, in dem allerlei Gerümpel herumstand, aber kein Mensch zu sehen war. Seine Fantasie hatte ihm einen Streich gespielt. Es war ja auch ganz unmöglich, dass Mike hier auftauchte. Schließlich hatte er die Stadt vor längerer Zeit verlassen und war bisher nicht wieder zurückgekehrt.

    „Sie bekommen meinen Bericht, sobald ich Ötzi untersucht habe. Morgen Mittag, wenn alles normal verläuft. Herr Kollege? Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen aus, als ob hätten Sie ein Gespenst gesehen."

    „Was? Bombach wandte sich wieder dem Doc zu. „Mir geht’s gut, danke. Seit wann kümmern Sie sich um die Befindlichkeiten der Polizei?

    „Och, heute ist so ein schöner Tag, da dachte ich, ich kann mal eine Ausnahme machen. Na los, hauen Sie schon ab! Draußen ist es wärmer. Ich bleibe hier, um Ötzis Transport zu überwachen."

    Der Kommissar nickte automatisch und verließ den ungemütlichen Raum. Die Wandlung des Pathologen machte ihm Angst, mehr noch als die gefrorene Leiche.

    „Wer hat die Polizei benachrichtigt?"

    Bombach hatte den Keller verlassen und einen wesentlich angenehmeren Ort für seine ersten Recherchen aufgesucht. Die Gaststube des Restaurants war für den Abend vorbereitet, aber bis auf wenige Personen leer. Und diese hatten alle mit dem Fall zu tun. Gäste würden erst in einigen Stunden eintreffen.

    „Das war ich", meldete sich ein stattlicher Mann in weißer Kleidung, offensichtlich ein Koch, wie die steife Mütze nahelegte.

    „Dann erzählen Sie mal. Wann haben Sie die Leiche gefunden?"

    Der Mann rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Vor ihm auf dem Tisch stand ein Glas mit Leitungswasser, das er mit der rechten Hand umschloss. Es schien ihm etwas Halt zu geben.

    „Ich fange so gegen 10 Uhr mit den Vorbereitungen an. In der Küche gibt es immer viel zu tun. Wenn ab 18 Uhr die ersten Gäste kommen, liegt praktisch schon ein kompletter Arbeitstag hinter mir."

    Der Kommissar verspürte eine gewisse Ungeduld, erlaubte dem verunsicherten Koch aber, in seinem eigenen Tempo fortzufahren.

    „Ungefähr um 12 Uhr merkte ich, dass mir einige Kräuter ausgegangen waren. Wir benutzen normalerweise natürlich frische. Aber für den Notfall haben wir auch welche eingefroren. Deshalb bin ich in den Gefrierraum gegangen. Und da habe ich ihn dann gefunden …"

    „Was haben Sie als Nächstes getan?"

    „Ich habe die Tür praktisch sofort wieder zugeschlagen. Man konnte ja sofort sehen, dass da nichts mehr zu machen war. Dann bin ich nach oben gegangen und habe vom Festnetz aus den Notruf gewählt. Das war doch richtig so, oder?"

    „Alles in Ordnung. Sie haben nichts falsch gemacht, beruhigte Bombach den aufgelösten Zeugen, der sich daraufhin ein wenig entspannte. „Kennen Sie den Toten?

    Der Koch nickte.

    „Es ist Gerald. Der Bruder vom Chef", fügte er hinzu, als er den fragenden Blick seines Gegenübers bemerkte.

    „Was war seine Aufgabe hier?"

    „Eigentlich gar keine. Er hat normalerweise nichts mit dem Restaurant zu tun. Höchstens, dass er mal hilft, wenn Not am Mann ist. Aber das kommt eher selten vor."

    „Das heißt, dass Sie überrascht waren, als Sie ihn in der Kühlkammer erkannten?"

    „Wie kann ich nicht überrascht sein, wenn plötzlich ein gefrorener Mann zwischen meinen Lebensmitteln sitzt?"

    Bombach registrierte den entsetzten Blick und präzisierte seine Frage.

    „So meinte ich es nicht. Ich wollte wissen, ob es für diesen Gerald einen Grund gegeben hätte, außerhalb der Öffnungszeiten im Restaurant zu sein."

    „Nein, nicht dass ich wüsste."

    „Wissen Sie, ob er einen Schlüssel hatte?"

    Der Koch zuckte mit den Schultern.

    „Keine Ahnung."

    „Aber Sie haben einen."

    „Natürlich. Ich muss ja an meinen Arbeitsplatz kommen können."

    „Wissen Sie, wer sonst noch einen hat?"

    „Der Chef natürlich. Und der jeweilige Schichtführer auf jeden Fall. Außerdem der Getränkelieferant."

    „Ich habe auch einen Schlüssel", mischte sich eine unscheinbare, ältere Frau ein, die ein wenig abseits stand und der Befragung aufmerksam gefolgt war.

    „Und Sie sind …?"

    „Julija. Julija Blisnowa. Ich mache hier sauber." Ihr Deutsch war ausgezeichnet, aber ein leichter Akzent passte zu ihrem osteuropäisch klingenden Namen.

    „Jeden Tag?"

    Sie nickte.

    „Außer Montag. Da ist Ruhetag."

    „Arbeiten Sie auch im Keller?"

    „Nein. Nur im Restaurant, Küche und Toiletten."

    „Wann fangen Sie an?"

    „Um neun Uhr. Dann ist die Küche fertig, wenn Moritz kommt."

    Sie nickte in Richtung des Kochs.

    „Ist Ihnen heute irgendetwas aufgefallen? War etwas anders als sonst? „Nein, alles war wie immer.

    Die Antwort kam ohne Nachdenken wie aus der Pistole geschossen.

    „Danke. Bitte geben Sie meinem Kollegen dort hinten Ihre Adresse und Telefonnummer. Wenn wir Sie noch brauchen, melden wir uns."

    Sie nickte zustimmend und trat an den Tisch am anderen Ende des Raumes, wo ein Streifenpolizist mit einer Kladde vor sich saß und eifrig Notizen eintrug.

    „Frau Blisnowa war also schon bei der Arbeit, als Sie heute Morgen kamen?", befragte Bombach nun weiter den Koch.

    „Ja, sie wischte gerade den Gastraum."

    „War sonst jemand hier?"

    „Nein."

    „Sind Ihnen irgendwelche Dinge aufgefallen, die ungewöhnlich waren?"

    Der Koch überlegte einen Moment und schüttelte dann energisch den Kopf.

    „Okay. Haben Sie Ihren Chef schon angerufen und ihm mitgeteilt, was geschehen ist?"

    „Ja. Er wollte sich sofort ins Auto setzen. Er müsste bald hier sein."

    „Gut. Das war für den Moment alles. Bitte geben Sie auch drüben bei meinem Kollegen Ihre Personalien an."

    Ein lautes Poltern, gefolgt von einer verärgert klingenden Schimpftirade, erklang aus Richtung des Kellers. Der Kommissar eilte die Treppe hinab und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie drei Männer den gefrorenen Leichnam zu einem Hintereingang trugen, wobei der Stuhl als improvisierte Trage diente. Der Doc fuchtelte mit beiden Händen, um die Träger zu größerer Sorgfalt im Umgang mit der zerbrechlichen Fracht anzuhalten.

    „Passt doch auf! Ihr zerbrecht ihn mir noch. Was glaubt ihr, was das ist, ein Bücherschrank? Meine Herren!"

    Da kein größerer Schaden zu erkennen war, überließ Bombach das Feld dem aufgebrachten Medizinmann und stieg wieder hinauf in die Gaststube. Dort sprach er kurz mit den Streifenbeamten, die zuerst vor Ort gewesen waren, konnte aber keine erwähnenswerten neuen Informationen ergattern. Die Kollegen der Spurensicherung arbeiteten ihre Routinen ab und wollten nicht gestört werden. Außerordentliche Erkenntnisse schienen sie nicht zu gewinnen. Der Kommissar kam sich für einen Moment überflüssig vor und schaute aus dem Fenster.

    Normalerweise hätte sein Freund Mike jetzt neben ihm gestanden und sie hätten die Fakten noch einmal aufgezählt und über mögliche Schlüsse daraus beraten. Er mochte es sich kaum eingestehen, aber diese gemeinsame Einschätzung fehlte ihm jetzt. Klar, er war der Polizist und wusste genau, wie seine nächsten Schritte aussehen würden. Aber Mikes messerscharfer Verstand und auch sein anderer Blickwinkel auf die Dinge hatten oft einen positiven Einfluss auf die Ermittlungen genommen.

    Mit einem Ruck löste sich Bombach aus diesen Gedanken. Sie brachten ihn keinen Deut weiter. Mike war fort, andere Journalisten zum Glück nicht vor Ort und der Mordfall gehörte ihm ganz allein. Hatte er sich das nicht immer gewünscht? Er konnte seinen Verstand und seine Erfahrung mit der Intelligenz des Mörders messen. Oder der Mörderin. Und er beabsichtigte diesen Wettkampf zu gewinnen.

    Die Tür zum Lokal wurde aufgerissen und ein Mann stürmte in den Raum. Er war vielleicht knapp vierzig Jahre alt und mit Jeans und T-Shirt recht leger gekleidet. Dunkle Ringe unter den Augen zeugten entweder von einer ungesunden Lebensweise oder von aktueller Übermüdung. Er sah sich kurz im Restaurant um, entdeckte keine bekannten Gesichter und wusste offenbar für einen Augenblick nicht, an wen er sich wenden sollte.

    „Mein Name ist Bombach, Kriminalhauptkommissar. Sind Sie der Besitzer des Lokals?" Der Mann nickte nur und rang nach Atem. Er war offensichtlich in schlechter Form.

    „Wie ist Ihr Name?"

    „Peters. Lars Peters. Ist es wahr? Gerald ist tot?"

    Er blickte sich gehetzt um, als erwartete er, dass der Leichnam irgendwo im Raum zu finden wäre.

    „Es tut mir sehr leid, aber ja, das stimmt. Darf ich Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen?"

    „Klar, antwortete Peters fahrig. „Wir können in mein Büro gehen.

    Ein Büro in einem Restaurant? Bombach war verwundert, folgte ihm aber, ohne eine Bemerkung zu machen. Der Besitzer führte ihn in einen winzigen Raum neben der Küche, der mehr einer Abstellkammer als einem Büro glich. Aber zumindest passte ein Schreibtisch hinein und auf beiden Seiten davon je ein Stuhl. Darüber hinaus gab es lediglich einen Aktenschrank und ein kleines Sideboard, auf dem ein Drucker stand. Peters klemmte sich hinter den Schreibtisch und wedelte mit der Hand einladend in Richtung des zweiten Stuhls.

    „Wollen Sie was trinken?" Der Kommissar lehnte dankend ab und sah zu, wie sich der Restaurantbesitzer einen Grappa einschenkte. Es war ja auch schon kurz nach Mittag. Oder war es normal in der Gastronomie, zu jeder Tageszeit alkoholische Getränke zu konsumieren? Peters kippte das scharfe Getränk wie Wasser, wischte sich über den Mund und entspannte sich minimal.

    „Wie ist das passiert?"

    „Wir stehen ganz am Anfang unserer Ermittlungen, entgegnete Bombach routiniert. „Ihr Bruder wurde praktisch nackt und an einen Stuhl gefesselt im Gefrierraum aufgefunden. Dort hatte er offensichtlich schon einige Zeit zugebracht.

    „Das ist ja furchtbar! Wie ist er gestorben?"

    „Das können wir nicht sicher sagen. Der Zustand des Leichnams ließ noch keine genaueren Untersuchungen zu. Wir müssen warten, bis er aufgetaut ist. Klar ist lediglich, dass hier ein Fremdverschulden vorliegt. Allein kann sich Ihr Bruder nicht in diese Lage gebracht haben."

    „Also Mord?"

    „Ziemlich sicher, ja."

    „Meine Güte!"

    Peters warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Grappaflasche, beließ es jedoch dabei.

    „Hatte Ihr Bruder Feinde? Ich weiß, die Frage klingt klischeehaft, aber irgendjemand hat ihn umgebracht und den würde ich gerne verhaften."

    „Feinde? Vermutlich. Welcher Mensch hat die nicht? Aber deswegen wird man ja nicht gleich ermordet. Nein, ich kenne niemanden, der ihm nach dem Leben trachten würde."

    „In was für Verhältnissen lebte er denn?"

    „Gerald ist … war Junggeselle. Er lebte allein und führte einen kleinen Computerladen. Ich weiß nicht, ob er wirklich viel verkauft hat, aber er hatte immer Aufträge irgendetwas einzurichten oder zu installieren. Soweit ich weiß, kam er ganz gut zurecht."

    „Glauben Sie, dass er von sich aus am Ruhetag hier ins Restaurant gekommen ist? Hatte er überhaupt einen Schlüssel?"

    „Er wusste, wo für den Notfall ein Schlüssel versteckt ist. Einen eigenen hatte er nicht. Und es gab sicher keinen Grund für ihn, gestern hierherzukommen. Manchmal hat er mir ausgeholfen, wenn Not am Mann war, aber nicht am Ruhetag."

    „Können wir nachsehen, ob der Reserveschlüssel an seinem Platz ist? Das wäre wichtig für die Ermittlungen."

    „Natürlich. Kommen Sie!"

    Peters führte den Kommissar in den Hinterhof des Restaurants. Dort befanden sich einige Abfallcontainer, ein einzelner Parkplatz und ein Holzschuppen, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war.

    „Hier bewahre ich Altglas auf, altes Mobiliar und ein paar andere Dinge, die ich nicht ständig in Gebrauch habe. Nichts Wertvolles. Die Tür ist extra so gebaut, dass man hineinsehen kann. Eingebrochen wurde noch nie."

    „Und der Reserveschlüssel?"

    „Müsste hier sein."

    Der Wirt zeigte auf einen Nistkasten, der dicht an der Mauer an dem Holzschuppen befestigt war. Mit einem Ruck schob er ihn erst nach links und dann nach oben. Danach ließ er sich abnehmen. Auf der Rückseite waren mehrere Aussparungen zu sehen. Zwei dienten als Führungsschienen für die beiden Schrauben, an denen der Kasten befestigt war. Eine dritte wurde erst sichtbar, nachdem Peters einen Plastikschieber betätigt hatte. Das Fach, das nun offen zu sehen war, beherbergte einen winzigen Haken und sonst nichts.

    „Nanu? Der Schlüssel ist weg!"

    „Dann wissen wir zumindest, wie der Täter ins Restaurant gekommen ist. Wer weiß alles von dem Versteck?"

    „Hm, lassen Sie mich überlegen. Peters strich sich nachdenklich über das Kinn. „Eigentlich nur Gerald und ich. Wäre ja auch blöd, wenn viele Leute davon wüssten.

    „Haben Sie ihn oft benutzt?"

    „Hin und wieder schon, räumte der Wirt ein und lächelte verschämt. „Ich bin ein bisschen schusselig und vergesse schon mal Schlüssel, Brieftasche oder Telefon. Deswegen habe ich das Versteck ja eingerichtet.

    Bombach sah sich gründlich um. Der kleine Hinterhof wurde durch einen Maschendrahtzaun vom wesentlich größeren Hof des angrenzenden Wohnblocks abgetrennt. Die dreistöckigen Gebäude gaben unzähligen Menschen Gelegenheit, aus dem Fenster zu beobachten, was im Hof des Restaurants geschah.

    „Hatten Sie mal das Gefühl, dass jemand gesehen hat, wie sie den Schlüssel geholt haben?"

    „Nicht dass ich wüsste. Allerdings habe ich auch nicht darauf geachtet. Wer sollte mich denn hier beobachten?"

    „Tja, das wäre eine interessante Frage. Sie sind sich aber sicher, dass der Schlüssel hier war? Wann haben Sie das letzte Mal nachgesehen?"

    „Zufällig weiß ich das genau. Es war am letzten Donnerstag. Ich habe den Schlüssel benutzt und anschließend wieder in den Kasten gehängt."

    „Woher wissen Sie das so genau?"

    „Ich hatte einen Termin mit einem Herrn vom Gesundheitsamt. Bei einer unangekündigten Kontrolle war aufgefallen, dass in einem der Kühlräume Kältemittel aus der Anlage austrat. Nun wollte er überprüfen, ob ich die Leckage beseitigt hatte."

    „Und – hatten Sie?"

    „Selbstverständlich. Dummerweise hatte ich allerdings meinen Schlüssel vergessen und er drohte mir mit einem Bußgeld. Da war ich natürlich froh, dass ich den Reserveschlüssel hatte. Damit war dann alles in Ordnung."

    Einen Kontrolleur vom Gesundheitsamt wollte der Kommissar nicht als Hauptverdächtigen einordnen.

    „Wissen Sie, ob jemand anderes den Schlüssel danach noch benutzt hat?"

    „Das könnte ja dann nur Gerald gewesen sein, schlussfolgerte der Wirt sehr richtig. „Und das glaube ich nicht. Ich habe ihn hier seit letzter Woche nicht einmal gesehen.

    „Hm, brummte Bombach unzufrieden. „Das bringt uns also nicht sonderlich weiter. Die Spurensicherung wird sich das Schlüsselversteck genau anschauen, aber ich hege keine große Hoffnung, dass sie etwas finden werden.

    Sie gingen zurück in Peters’ Büro. Auf dem Weg dorthin instruierte Bombach die Kriminaltechniker.

    „Wie oft half Ihr Bruder denn hier aus?"

    „Unregelmäßig, aber eher selten. Ein- bis zweimal im Monat vielleicht. Mein Team ist gut und recht flexibel. In der Regel kommen wir auch mit kurzfristigen Buchungen klar. Letzte Woche hatten wir mittags eine Trauerfeier mit fünfzig Personen. Das haben wir auch spontan hinbekommen."

    Der Kommissar überlegte, bevor er weitersprach.

    „Sehen Sie, ich frage mich natürlich, ob es eine Bedeutung hat, dass Ihr Bruder in Ihrem Restaurant gefunden wurde. Wenn jemand etwas gegen ihn hatte, dann hätte er ihn in seiner Wohnung, in seinem Laden oder auch irgendwo im Freien ermorden können. Warum in Ihrem Restaurant und warum ein solcher Tod? Das muss doch eine Bedeutung haben."

    „Da kann ich Ihnen leider nicht helfen."

    „Ich brauche auf jeden Fall seine Anschrift, die Adresse seines Ladens und eine Liste von Leuten, die Sie beide kannten."

    Peters zog einen leeren Zettel heran und begann zu schreiben, während Bombach überlegte, was er als nächsten Schritt erledigen würde. Das Abarbeiten von Routinen war eine Sache, die er im Laufe seines Berufslebens perfektioniert hatte. Der richtige Ansatz für eine Ermittlung hing oft von einem Geistesblitz ab, von einer Idee, wo man mit der Suche nach dem Täter beginnen sollte. Auf diesem Gebiet war Mike Staller ein Meister, auch oder gerade weil er keine kriminalpolizeiliche Ausbildung genossen hatte. Seine jahrelange Erfahrung als Polizeireporter hatte ihn mit einem Instinkt ausgestattet, der oft genug in die richtige Richtung geführt hatte. Auch wenn man ihm das nie sagen durfte, weil er sonst vermutlich größenwahnsinnig geworden wäre. In diesem Moment hätte der Kommissar jedoch nur zu gern mit seinem Freund geplaudert und Gedanken über diesen seltsamen Mordfall ausgetauscht. Zu schade, dass das nun nicht möglich war. Irgendetwas war mit Mike passiert, denn sonst hätte er nicht von jetzt auf gleich sein gesamtes Leben über den Haufen geworfen.

    * * *

    Nach dem letzten gemeinsamen Fall mit der verschwundenen Klimaaktivistin hatten die Freunde wie immer mit den Beteiligten bei Mario, Stallers Lieblingswirt, im Hinterzimmer gesessen und die Ergebnisse der Ermittlung aufgearbeitet. Spät am Abend war die Gruppe gesättigt und zufrieden aufgebrochen. Der Reporter hatte nur wenige Schritte bis zu seiner Wohnung in Hamburg-Eilbek zu laufen und war nicht gleich ins Bett gegangen. Stattdessen hatte er im Wohnzimmer gesessen, sich ein Glas Rotwein eingeschenkt und Musik aus der Vergangenheit gehört. Das machte er oft, wenn er an Chrissie, seine verstorbene Frau, dachte und wie glücklich sie bis zu ihrer Krebsdiagnose gewesen waren. All das war mittlerweile acht Jahre her, aber Mike hatte sich bis heute nicht von der Vergangenheit lösen können. Deshalb war auch seine Beziehung zu Sonja, seiner wunderbaren Kollegin, nie so klar geworden, wie sie es sich beide vermutlich gewünscht hätten.

    Mit diesen Gedanken, der vertrauten Musik im Ohr und eingehüllt in Erinnerungen, war er in das Zwielicht zwischen Wachen und Schlafen geglitten und hatte die bewusste Kontrolle über sein Denken verloren. Wie in einem Fotoalbum glitten Fetzen aus der Vergangenheit an seinem inneren Auge vorbei.

    Er und Chrissie, tanzend bei ihrer Hochzeit. Kati, die gemeinsame Tochter, ganz klein und schrumpelig zum ersten Mal auf seinem Arm. Ferien in Südfrankreich, alle drei braun gebrannt mit strahlenden Gesichtern. Chrissie, die sich ihm auf Zehenspitzen mit gespitztem Mund entgegenreckt. Kati mit riesiger Schultüte. Und wieder Chrissie, auf der Dachterrasse ihrer alten Wohnung, gezeichnet vom Krebs und der Chemotherapie, aber trotzdem wunderschön und liebenswert. Dann ihr flehender Blick, die Erinnerung an ein Versprechen. Er selbst, der ihr über das Geländer hilft, ein letzter Kuss, die Dankbarkeit in ihren Augen, ihr Körper, der fällt und fällt …

    Staller merkt es nicht, aber aus beiden Augen rinnen Tränen. Tränen, die er sonst nie weint, die er sich verbietet, weil er stark sein muss für seine Tochter, für seinen Job, für Chrissie.

    „Hallo Liebster!"

    Es ist ihre Stimme, da ist kein Zweifel möglich. Aber das kann nicht sein, Chrissie ist seit Jahren tot, behauptet sein Verstand, der auch im Unterbewusstsein nicht aufhört zu arbeiten.

    „Natürlich kann das sein! Es gibt mehr Dinge auf dieser Welt, als du mit deinem Verstand begreifen kannst, auch wenn der noch so gut ist."

    Ein weiteres Rätsel. Er hat nicht laut gesprochen, sondern nur gedacht. Wie kann es sein, dass sie ihn trotzdem versteht?

    „Wir haben uns doch schon immer auch ohne Worte verstanden, erklärt sie. „Ich möchte dir eine Frage stellen, Liebster. Bist du glücklich?

    Diese drei Worte, einfach formuliert und ebenso einfach zu begreifen, lösen ein Durcheinander in seinem Kopf aus, gegen das der Verkehr am Arc de Triomphe in Paris ein wohlgeordnetes System ist.

    Ist er glücklich? Eins ist klar: Diese Frage lässt sich nicht mit ja oder nein beantworten. Er fühlt sich reich beschenkt mit einer wunderbaren Tochter, darf einen Beruf ausüben, den er liebt, und ist darüber hinaus auch überaus erfolgreich darin. Für sein Alter – die Fünfzig im Hintergrund wird langsam größer und deutlicher – ist er topfit und bei bester Gesundheit. Er hat Freunde, nette Kollegen und – Sonja. Was er nicht hat, ist die Liebe seines Lebens. Und das wiegt irgendwie alles andere auf.

    „Eben. Und das ist falsch! behauptet Chrissie und er kann förmlich ihre ich-will-Falte über der Nase sehen. „Ich habe dich damals, als ich gehen musste, freigegeben. Mehr konnte ich nicht tun. Jetzt musst du dich aber endlich von mir lösen. Für dich!

    Was? Warum?, will er schreien, denn er versteht sie nicht. Wie kann er sie loslassen, wo sie doch gar nicht da ist? Also in Wirklichkeit. Aber natürlich dringt nichts davon über seine Lippen. Sie zucken nur ein wenig.

    „Ich habe dir jetzt acht Jahre zugesehen, wie du dich quälst. Warum? Ich weiß, dass du mich immer lieben wirst. Ich werde dich auch immer lieben. Daran kann niemand etwas ändern. Aber dein Leben auf der Erde ist deshalb nicht zu Ende. Und Leben bedeutet Liebe. Ich weiß nicht, ob Sonja die Richtige für dich ist. Das musst du entscheiden. Aber ich weiß, dass du nicht allein bleiben solltest. Versprich mir, dass du darüber nachdenkst!"

    Hundert Fragen jagen durch seinen Kopf, die nächste erscheint ihm immer wichtiger als die letzte und so kommt er zu keinem einzigen vernünftigen Gedanken. Sein Gehirn scheint wie ein Ameisenhaufen, in den ein Stein gefallen ist. Gefühle purzeln durcheinander, rote Warnleuchten kündigen eine Überlastung der Ressourcen an und er taumelt wie ein Betrunkener in seinem eigenen Verstand herum.

    Gelächter. So richtig aus dem Grunde ihres Herzens und ohne jede Zurückhaltung, so wie er es nur von Chrissie kennt.

    „Ich weiß, du bist gerade komplett überfordert. Nein, widersprich nicht, ich kenne dich, mein Liebster. Und deshalb weiß ich auch, dass du mit ein bisschen Nachdenken auf die richtige Spur kommen wirst. Du schaffst das, Großer! Du schaffst es immer. Das ist eines der vielen Dinge, die ich an dir liebe. Kümmere dich um dein Glück!"

    Staller spürt, dass das hier – was immer es auch ist – gerade endet und wehrt sich mit aller Kraft dagegen. Aber natürlich ist er chancenlos. Verzweifelt versucht er das Bild von Chrissie zu visualisieren, aber trotz aller Mühe wird es schwächer und immer farbloser, bis sie komplett durchsichtig ist.

    Ein schmerzerfülltes Stöhnen, dann Dunkelheit. Staller war in Tiefschlaf geglitten.

    Am nächsten Morgen war er überraschend erfrischt aufgewacht, dafür, dass er auf dem Sofa geschlafen hatte. Nach einer belebenden Dusche und einem ausführlichen Frühstück hatte er zwei Verabredungen getroffen. Eine mit Kerstin Radtke, Chrissies bester Freundin und Psychologin von Beruf. Und eine mit Peter Benedikt, Chefredakteur von KM – Das Kriminalmagazin.

    Das Treffen mit Kerstin fand noch am selben Tag statt und diente lediglich dazu, seine eigenen Gedanken noch einmal zu sortieren und aufzubereiten, indem er sie jemandem mitteilte. Wie immer war Kerstin sehr verständnisvoll und sorgte mit den richtigen Nachfragen dafür, dass ihm manche Dinge noch etwas klarer wurden. Am Ende umarmte sie ihn und sagte, dass sie sich für ihn freue. Er befände sich auf dem richtigen Weg und sie wünsche ihm dabei alles Gute.

    Bereits am Tag darauf traf er sich mit Peter Benedikt, der nicht nur Kollege, sondern auch ein Freund war. Außerdem war er ebenso wie Mike einer von drei Teilhabern an der Firma, die KM produzierte. Staller hatte Peter vorgewarnt, dass es eine längere Unterhaltung werden könnte.

    „Moin Peter! Danke, dass du so schnell einen Termin freimachen konntest."

    „Hallo Mike! Benedikt wirkte wie immer so, als käme er gerade von einer Modeaufnahme. Blütenweißes Hemd, Bügelfalten so scharf wie ein Filetiermesser und Schuhe, in denen man sich spiegeln konnte. „Wenn du ankündigst, dass du etwas Wichtiges zu besprechen hast und das vermutlich länger dauern würde, machst du mich natürlich neugierig. Dann muss es sich um etwas Ernstes handeln. Ich hoffe, dass es keine schlechten Nachrichten gibt.

    „Hm. Das musst du selber entscheiden."

    „Oha. Das klingt wirklich bedeutsam. Setz dich! Jutta hat schon Kaffee gebracht." Er wies einladend auf die kleine Sitzgruppe. Auf dem Glastisch stand ein Tablett mit Geschirr, Kaffeekanne und einer Schale mit Gebäck.

    „Sie ist ein Engel, stellte Staller fest und schenkte sich ein. „Und sie macht den besten Kaffee überhaupt.

    Benedikt zog seine Hosenbeine einen Zentimeter hoch, bevor er sich ebenfalls setzte.

    „Dann schieß mal los!"

    Der Reporter überlegte nicht lange. Diese Sache musste er geradeheraus angehen, sonst funktionierte es nicht.

    „Peter, so leid es mir tut, aber ich muss raus aus meinem Alltag. Du weißt, ich liebe meine Arbeit und unsere Sendung über alles. Aber ich habe darüber den Bezug zu meinem Leben verloren, ohne es überhaupt zu bemerken. Und das ist nicht gut."

    Dafür, dass er mit so einem Thema nicht gerechnet haben konnte, reagierte der Chefredakteur erstaunlich gelassen.

    „Wie ist dir diese Erkenntnis gekommen?"

    „Das wirst du jetzt für Tüdelkram halten, aber Chrissie ist mir im Traum erschienen und hat mir eine ihrer patentierten Motivationsreden gehalten. Du weißt, dass sie sehr überzeugend sein konnte, wenn sie eine Meinung zu einem Thema hatte."

    Benedikt, der Stallers Frau nicht nur gekannt, sondern auch sehr geschätzt hatte, nickte mit einem leichten Schmunzeln.

    „Oh ja, das konnte sie."

    „Jedenfalls hat sie mich ganz schön auf den Pott gesetzt und in etwa von mir verlangt, dass ich mich mal auf das Wesentliche in meinem Leben konzentrieren sollte. Und das kann ich nicht, wenn ich mich hinter meinem Alltag verstecke."

    „Ich habe ja schon immer gesagt, dass Chrissie eine sehr kluge Frau ist. Dass das so weit über ihren Tod hinausreicht, hätte ich allerdings nicht geahnt."

    „Du findest das nicht seltsam, was ich dir erzähle? Kein Bedürfnis, ein verstecktes Knöpfchen unter der Tischplatte zu drücken, damit zwei starke Männer kommen und mich unauffällig aus dem Gebäude bringen?"

    „Du meinst, in einer weißen Jacke? Benedikt grinste. „Nein. Ich weiß nicht, wie viel davon tatsächlich auf Chrissies Konto geht und wie viel auf dein Unterbewusstsein oder was auch immer, aber in der Sache kann ich folgen. Das klingt vernünftig.

    Der Reporter war sprachlos. Er hatte mit vehementem Widerspruch gerechnet. Offensichtlich hatte er seinen Freund unterschätzt. Der Chefredakteur fuhr fort.

    „Ich bin nicht jeden Tag im Büro und ich habe allerhand um die Ohren. Trotzdem habe ich ein Auge auf die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Denn ohne die Menschen ist KM, ist die ganze Firma nichts. Spätestens seitdem ich Sonja nach Amerika habe gehen lassen, weiß ich, dass es da ein Problem gibt und dass du im Mittelpunkt davon stehst."

    Staller holte Luft, um zu antworten, aber Benedikt hob die Hand und bremste ihn ein.

    „Versteh mich nicht falsch. Du bist nicht das Problem, du hast eins! Und zwar schon lange. Du hast nur die Augen davor verschlossen. Und trotzdem bemerkenswerte Arbeit abgeliefert, möchte ich hinzufügen."

    „Hui! Mir scheint, alle anderen waren klüger als ich. Kerstin hat so etwas Ähnliches gesagt. Sonja auch. Nur ich habe natürlich nix gemerkt."

    „Frauen haben vermutlich die feineren Antennen in solchen Dingen, antwortete der Chefredakteur mit einem Zwinkern. „Aber erzähl, was hast du dir konkret vorgestellt? Wie wollen wir die Sache handhaben?

    „Ich möchte keinen endgültigen Schnitt. Meine Anteile würde ich schon gerne behalten", entgegnete der Reporter zögernd.

    „Die stehen ja auch überhaupt nicht zur Debatte!"

    Die Firma gehörte Benedikt, Staller und dem Produktionsleiter, allerdings nicht zu gleichen Teilen. Staller besaß den kleinsten Anteil. Alle drei arbeiteten Vollzeit und zu branchenüblichen Bezügen. Der Gewinn wurde am Ende jedes Geschäftsjahres entsprechend den Besitzverhältnissen ausgeschüttet. Da die Firma sehr erfolgreich arbeitete, war bereits Stallers Anteil so groß, dass man davon leben konnte, wenn man keine extravaganten Ansprüche stellte.

    „Mir schwebt vorerst ein Sabbatical vor. Ich lasse meine Arbeit ruhen und beziehe dementsprechend auch kein Gehalt. Denn davon muss ja ein Ersatz bezahlt werden."

    „Mit Sabbatical meinst du ein Jahr Pause?"

    Der Reporter nickte.

    „Ich weiß, das klingt viel. Aber einerseits kann ich dann wirklich ganz in Ruhe mein Leben sortieren und andererseits findest du besser einen Ersatz, wenn du ihm einen Jahresvertrag anbieten kannst. Ich könnte dir sogar ein paar Leute vorschlagen."

    Der Chefredakteur schenkte sich Kaffee nach und rührte geistesabwesend in seiner Tasse. Offensichtlich ließ er sich den Vorschlag gründlich durch den Kopf gehen. Dann nahm er einen kleinen Schluck von dem heißen Getränk und steckte sich anschließend einen Keks in den Mund. Er kaute sorgfältig, schluckte und lächelte dann entspannt.

    „Typisch Mike, selbst der spontane Abgang wird noch komplett durchgeplant. Er lehnte sich zurück. „Was hältst du von meinem Vorschlag? Du beginnst mit einer Pause von drei Monaten. In dieser Zeit beziehst du ganz normal dein Gehalt. Vermutlich hast du so viele zeitlose Stücke vorproduziert, dass dein Fehlen in der Zeit keine Programmlücken reißt. Ums Aktuelle müssen sich halt andere mal kümmern. Danach verlängerst du bei Bedarf in Schritten von jeweils drei Monaten und bekommst das halbe Gehalt. Im Gegenzug arbeitest du pro Vierteljahr an einem längeren Stück für unsere Doku- und Reportagereihe. Das kannst du vollkommen frei von überall auf der Welt machen und sprichst dich nur mit mir darüber ab. Wie klingt das?

    „Das ist mehr als entgegenkommend, stellte Staller fest. „Das ist sogar generös! Ich danke dir sehr.

    Benedikt winkte ab.

    „Das ist lediglich vorausschauend. Ich kenne niemanden, der besser in dem Job ist als du. Wenn ich es irgendwie schaffen kann, dich der Firma langfristig zu erhalten, dann muss ich das tun. Wie ich dich kenne, mache ich mit dem Vorschlag kein schlechtes Geschäft."

    „Ich aber auch nicht!"

    „Na, dann ist doch alles prima! Was hast du vor, ziehst du raus aufs Land?"

    Der Reporter besaß ein Wochenenddomizil in der Lüneburger Heide, einen alten Bauernhof, den er oft als Rückzugsort nutzte.

    „Nein, das dürfte keine gute Idee sein. Zu dicht dran an meinem gewohnten Leben."

    „Was dann? Eine kleine Weltreise vielleicht? Drei Monate sind ein guter Zeitrahmen für so etwas."

    „Reise ist gut. Aber es darf eine Nummer kleiner sein. Als Schüler bin ich mal mit dem Rad in den Ferien nach Südfrankreich gefahren. Das war toll! Vielleicht sollte ich das wiederholen."

    „Jetzt? Im Oktober? Und warum mit dem Rad?"

    Man sah es dem schlanken Mann nicht an, aber Peter Benedikt war ein erbitterter Gegner jeglicher sportlicher Ertüchtigung, die über einen Spaziergang hinausreichte.

    „Weil ich es kann, grinste Staller und stand auf, um seinem Freund die Hand zu schütteln. „Danke, Peter! Ich weiß sehr wohl, dass das nicht selbstverständlich ist. Du bist ein toller Mensch!

    „Zu viel der Ehre! Ich gebe dir einen Tag, um deine Sachen zu organisieren und so etwas wie eine Übergabe zu veranstalten. Danach will ich dich hier nicht mehr sehen! Und was auch immer du tust – womöglich sogar diese bescheuerte Fahrradtour – ich

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