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Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit
Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit
Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit
eBook790 Seiten9 Stunden

Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit

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Über dieses E-Book

Vor sieben Jahren verschwand Elizas Jugendliebe von den Straßen von Whitechapel. Niemand glaubte ihr, als sie erzählte, dass er von den Feen entführt wurde.

Aber sie hat die Suche nicht aufgegeben. Diese wird sie durch ganz London und in den verborgenen Palast führen, der Feen in der sterblichen Welt Zuflucht bietet. Doch diese Zuflucht bröckelt nun, vom Metall der unterirdischen Eisenbahn durchbrochen.

Drei Jahrhunderte, die der Onyxhof überdauert hat, kommen nun an ein Ende. Ohne den Schutz des Palasts haben die Fae keine andere Wahl, als zu fliehen. Jene, die bleiben, haben nur ein Ziel: Sicherheit in einer Stadt zu finden, die sie nicht willkommen heißt. Doch welchen Preis werden die Sterblichen von London für jene Sicherheit zahlen?
SpracheDeutsch
HerausgeberCross Cult
Erscheinungsdatum30. Sept. 2020
ISBN9783966580762
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    Buchvorschau

    Der Onyxpalast 4 - Marie Brennan

    auf.

    TEIL EINS

    Februar-Mai 1884

    »Ich erblicke London; ein menschlich schreckliches Wunder Gottes!«

    WILLIAM BLAKE

    »Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion«

    »Oh Stadt! Oh neuester Thron! Wo ich erzogen wurde,

    um ein Mysterium aus Lieblichkeit

    für alle Augen zu sein, die Zeit ist fast gekommen,

    da ich dieses glorreiche Heim aufgeben muss

    für neue Entdeckungen: Bald werden jene strahlenden Türme

    sich mit dem Wink ihres Zauberstabs verfinstern.

    Verfinstern, und schrumpfen und zu Hütten erbeben,

    schwarze Flecken in einer Wüste aus ödem Sand,

    niedrig gebaut, mit Lehmwänden, barbarische Siedlung,

    wie verändert von dieser schönen Stadt!«

    ALFRED, LORD TENNYSON

    »Timbuctoo«

    »Eine große Stadt ist wie ein Wald–

    es ist nicht ihre Gesamtheit, die man über dem Boden sieht.«

    MR. LOWE, Parlamentsmitglied

    Ansprache bei der Eröffnung der Metropolitan Railway,

    abgedruckt in der Times, 10. Januar 1863

    Mit genug Zeit kann alles vertraut genug werden, dass man es ignorieren kann.

    Sogar Schmerz.

    Die sengenden Nägel, die durch ihr Fleisch getrieben wurden, schmerzen so, wie sie es immer getan haben, doch jener Schmerz ist bekannt, gezählt, in ihre Welt aufgenommen. Wenn ihr Körper auf einer Streckbank gefesselt ist, Muskeln und Sehnen zerrissen und von der Folter vernarbt, hat ihn zumindest in letzter Zeit niemand weiter gestreckt. Dies hier ist vertraut. Sie kann es ignorieren.

    Aber das Unvertraute, das Unvorhersehbare, stört diese Missachtung. Dieser neue Schmerz ist unregelmäßig und intensiv, nicht die stetige Qual von zuvor. Er ist ein Messer, das in ihre Schulter getrieben wird, eine plötzliche Pein, die wieder durch sie sticht. Und wieder. Und wieder.

    Sie kriecht immer näher an ihr Herz.

    Jeder neue Stich erweckt all den anderen Schmerz, jeden blutenden Nerv, den sie zu akzeptieren gelernt hat. Nichts kann noch ignoriert werden. Alles, was sie tun kann, ist es zu ertragen. Und das tut sie, weil sie keine Wahl hat. Sie hat sich an diese Qual gebunden, mit Ketten, die von keiner Kraft außer dem Tod gesprengt werden können.

    Oder vielleicht der Erlösung.

    Wie ein Patient, der von einer Seuche niedergestreckt wurde, wartet sie, und in ihren wachen Augenblicken betet sie um ein Heilmittel. Kein Arzt existiert, der diese Krankheit behandeln kann, aber vielleicht – wenn sie lange genug aushält – wird sich jemand jene Wissenschaft selbst beibringen und sie vor diesem schrecklichen, schrittweisen Tod retten.

    Das hofft sie, und sie hofft es schon länger, als sie sich erinnern kann. Doch jeder Stich bringt das Messer so viel näher an ihr Herz.

    So oder so, sie wird nicht viel länger durchhalten müssen.

    Die Monsterstadt strotzte vor Leben. Ihre Straßen, wie große und kleine Arterien, pulsierten im Verkehrsstrom: Hackneys und Privatkutschen, Omnibusse, die vor Passagieren drinnen und draußen fast platzten, Pferdetrams, die auf ihren Eisenschienen vorbeiratterten. Fußgänger, Reiter, Menschen auf den unglaublichsten Rollern und Fahrrädern. Auf dem Fluss Schiffe: Wälder aus Masten und Kaminen, Segelschiffe, die Fracht hin und her transportierten, Fähren, die Passagiere auf Stege spuckten, die vom stinkenden Ufer wegragten. Züge donnerten aus den Vorstädten herbei und wieder hinaus, die Bevölkerung stieg an und sank, als würde die Stadt atmen.

    Die Luft, die ihre Lungen füllte, war aus zahllosen verschiedenen Arten der Menschlichkeit gemacht. Die Hochgestellten und die Niedriggestellten, die vor Diamanten oder Tränen der Verzweiflung glitzerten, Dutzende Sprachen in Hunderten Akzenten hören ließen, dicht gedrängt lebten, übereinander und untereinander und nebeneinander, doch völlig unterschiedliche Welten bewohnten. Die Stadt schloss sie alle ein: Lebend und sterbend bildeten sie einen Teil des gewaltigen Organismus, der täglich drohte, sie mit seinem gleichzeitigen Wachsen und Verfall zu ersticken.

    Dies war London, in all seinem Schmutz und seiner Pracht. Mit Nostalgie für die Vergangenheit, während es danach strebte, die Ketten vergangener Zeitalter zu sprengen und nach vorn in die strahlende Utopie der Zukunft zu treten. Stolz auf seine Leistungen, doch voll Verachtung für seine eigenen Makel. Ein Monster, sowohl in Größe als auch Charakter, das die Unachtsamen verschlingen und in nicht wiederzuerkennender und niemals erträumter Form wieder ausspeien würde.

    London, die Monsterstadt.

    DIE INNENSTADT VON LONDON

    26. Februar 1884

    »Heiße Krapfen! Einen Viertelpenny pro Stück, warm an einem kalten Morgen! Wollen Sie einen Krapfen kaufen, Sir?«

    Der Ruf hallte durch die Luft und verlor sich unter anderen, wie ein Vogel in einem Schwarm. Eine Dampfwolke aus dem offenen Schacht entlang der Farringdon Road kündigte die Ankunft eines unterirdischen Zuges an. Eine Minute später spuckte der Bahnhof darüber eine Menschenmasse aus, die sich jenen anschloss, die durch die Kraft ihrer eigenen Füße in die Stadt gekommen waren. Sie schlurften den Snow Hill entlang und zum Viadukt von Holborn hinauf, gähnend und schläfrig, und so viele von ihnen, dass sie Kutschen und Omnibusse anhalten ließen, wenn sie über die Straßenkreuzungen strömten.

    Die Stimme einer Straßenverkäuferin musste kräftig sein, um über den Gesprächen und Schritten und Kirchenglocken, die sieben Uhr läuteten, gehört zu werden. Eliza füllte ihre Lunge und brüllte wieder: »Heiße Krapfen! Direkt aus dem Ofen! Nur einen Viertelpenny pro Stück!«

    Ein Kerl hielt inne, kramte in seiner Tasche und gab ihr einen Penny. Die vier Krapfen, die Eliza ihm im Tausch überreichte, waren heiß gewesen, als sie ihre Ladung vor einer Stunde abgeholt hatte. Seither hatten sie nur ein wenig Wärme gehalten, weil sie dicht beieinander lagen. Aber das hier waren die Sekretäre, die tintenbefleckten Männer, die in den Geschäftshallen der Stadt viele Stunden für wenig Geld hart arbeiteten. Sie würden nicht über den Wahrheitsgehalt ihrer Werbung diskutieren. Zu dem Zeitpunkt, bis die wohlhabenden Höhergestellten zur Arbeit kamen, in drei Stunden oder so, würde sie ihre Ware verkauft und ihren Karren mit etwas anderem gefüllt haben.

    Falls alles gut lief. Gute Tage waren diejenigen, an denen sie immer wieder die Straßen entlanglief, jede Runde mit neuen Waren: Schnürsenkel für Stiefel, Bänder für Strümpfe, Schwefelhölzer, selten sogar Zigaretten. An schlechten Tagen pries sie bei Sonnenuntergang noch kalte, zähe Krapfen an und hatte keinen Trost, außer dass sie an jenem Abend etwas zu essen haben würde. Und manchmal konnte sie den Betreiber eines Nachtasyls überreden, dass er einige im Tausch gegen einen Platz auf seiner Bank nahm.

    Der heutige Tag fing gut an. Sogar ein Krapfen von nur mäßiger Wärme war an einem kalten Morgen wie diesem eine gewisse Annehmlichkeit. Aber kühles Wetter machte die Männer am Nachmittag und Abend mürrisch, wenn sie ihren Kragen hochklappten und ihre Hände in die Taschen schoben und nur an den Zug oder Omnibus oder langen Marsch dachten, der sie nach Hause bringen würde. Eliza wusste es besser, als anzunehmen, dass ihr Glück anhalten würde.

    Zu dem Zeitpunkt, als sie Cheapside erreichte und der Menge aus Männern auf ihrem Weg zu den Bürogebäuden folgte, wurde das Gedränge auf den Straßen dünner. Jene, die noch draußen waren, hasteten weiter aus Angst, dass ihnen für eine Verspätung Lohn abgezogen würde. Eliza zählte ihre Münzen, steckte versuchsweise einen Finger zwischen die übrigen Krapfen und beschloss, dass sie kalt genug waren, dass sie einen für sich selbst entbehren konnte. Und Tom Granger war immer willens, sie für eine Weile bei ihm sitzen zu lassen.

    Sie lenkte ihre Schritte zurück zur Ecke der Ivy Lane, wo Tom halbherzig Ausgaben der Times vor Passanten schwenkte. »Mit dieser faulen Hand wirst du sie nie verkaufen«, sagte Eliza und stellte ihren Karren neben ihm ab.

    Sein Grinsen war so schief wie seine Schneidezähne. »Warte bis morgen. Bill sagt, dass wir dann aufregende Neuigkeiten haben.«

    »Ach?« Eliza bot ihm einen Krapfen an, den er annahm. »Skandal, oder wie?«

    »Besser. Es hat wieder eine Bombe gegeben.«

    Sie hatte gerade einen großen Bissen genommen. Er verfing sich in ihrer Kehle, und für einen Moment befürchtete sie, dass sie ersticken würde. Dann rutschte er hinunter, und sie hoffte, dass Tom, falls er ihre Panik gesehen hatte, es dem zuschreiben würde. »Wo?«

    Tom hatte sich bereits den halben Krapfen in den Mund gestopft. Seine Antwort war völlig unverständlich. Sie musste warten, bis er genug gekaut hatte, um zu schlucken. »Victoria Station«, sagte er, sobald er wieder deutlicher sprechen konnte. »Gleich heute früh. Hat den Fahrkartenschalter und alles halb bis zum Mond gepustet. Aber keiner verletzt – schade. Wir verkaufen mehr Zeitungen, wenn’s Tote gibt.«

    »Wer hat das getan?«

    Er zuckte mit den Schultern, dann wandte er sich ab, um einem Mann im Flanellmantel eines Tischlers eine Zeitung zu verkaufen. Als das erledigt war, sagte er: »Harry denkt, es war eine Gasleitung, die hochgegangen ist, aber ich schätze, das waren wieder die Fenier.« Er spuckte auf die Pflastersteine. »Verdammte Irenschweine. Sie verkaufen Zeitungen, das geb ich ja zu, aber die und ihre Drecksbomben, hm?«

    »Die und ihre Drecksbomben«, wiederholte Eliza und starrte den Rest ihres Krapfens an, als würde er ihre Aufmerksamkeit brauchen. Jeglicher Appetit war ihr vergangen, aber sie zwang sich, trotzdem fertig zu essen. Ich habe es verpasst. Während ich an eine Bank gebunden geschlafen habe, war er hier, und ich habe meine Chance verpasst.

    Tom schimpfte weiter über die Iren, gestand ihnen zu, dass sie verteufelt kräftige Kerle und gut für harte Arbeit seien, aber vor einigen Tagen sei ein Paddy dahergekommen, dreist ohne Ende, und hätte versucht, Zeitungen zum Verkaufen zu bekommen. »Bill und ich haben ihn ganz schnell verjagt«, sagte Tom.

    Eliza teilte seine Genugtuung nicht im Geringsten. Während Tom sprach, suchte ihr Blick die Straße ab, als könnten hektische Versuche jetzt ihr Scheitern wiedergutmachen. Zu spät, und das weißt du. Was hättest du überhaupt getan, wenn du letzte Nacht hier gewesen wärst? Wärst du ihm wieder gefolgt? Das hat ja letztes Mal sehr gut geklappt. Aber du hast deine Gelegenheit verpasst, es besser zu machen. Sie war überrascht, als Tom seine Tirade unterbrach und sagte: »Drei Monate sind es jetzt, und ich verstehe dich immer noch nicht.«

    Sie hoffte, dass ihr Blick nicht so offensichtlich verblüfft war, wie er sich anfühlte. »Was meinst du?«

    Tom deutete auf sie und schien sowohl die zerlumpte Kleidung als auch die junge Frau, die diese trug, zu meinen. »Dich. Wer du bist und was du hier machst.«

    Plötzlich war ihr viel kälter, als man mit der Morgenluft hätte erklären können. »Ich versuche, Krapfen zu verkaufen. Aber ich glaube, mit diesen hier bin ich so gut wie fertig. Ich sollte bald gebratenen Fisch holen, oder etwas anderes.«

    »Was du direkt hierher zurückbringst. Vielleicht stehst du ein bisschen am Krankenhaus herum oder am Gefängnis, aber du hältst dich, so lange du kannst, in der Nähe von Newgate, wenn du zumindest ein paar Pennys hast, um Abendessen und einen Schlafplatz zu bezahlen. Die feinen Gentlemen reden gerne über faule Leute, die sich nicht genug darum scheren, einen besseren Lohn zu verdienen – aber du bist die Einzige, die ich je getroffen habe, bei der das wahr ist.« Tom kratzte sich am Hals und betrachtete sie auf eine Art, die sie dazu brachte, weglaufen zu wollen. »Du redest anders, du kommst nicht aus einer richtigen Straßenhändlerfamilie … Ich weiß, dass die dich manchmal vertreiben, wenn du auf ihr Territorium kommst. Kurzum, du bist ein Mysterium, und schon seit du angefangen hast, hierherzukommen, versuche ich, dich zu verstehen. Was gibt es in der Nähe von Newgate für dich, Elizabeth Marsh, wofür du drei Monate damit verbringst, darauf zu warten, dass es aufkreuzt?«

    Ihre Finger fühlten sich wie Eis an. Eliza fummelte an den Enden ihres Schultertuchs herum, dann hörte sie auf, weil es nur Aufmerksamkeit darauf lenkte, wie ihre Hände zitterten. Was gab es da zu befürchten? Es war kein Verbrechen, hier herumzuhängen, solange sie ehrliche Arbeit betrieb. Tom wusste gar nichts. Soweit es ihm bekannt war, war sie einfach Elizabeth Marsh, und Elizabeth Marsh war niemand.

    Aber sie hatte sich für ihn keine Lügengeschichte ausgedacht, weil sie nicht erwartet hatte, dass er fragen würde. Ehe sich ihr Verstand ausreichend beruhigen konnte, um eine gute zu erfinden, wurde seine Miene zu sanfterem Mitleid. »Hast jemanden in Newgate, hm?«

    Er zuckte mit dem Kinn nach Westen, als er das sagte. Newgate im spezifischen Sinn, das Gefängnis, das in der Nähe stand. Was nahe genug an der Wahrheit lag – wenn nicht der echten Wahrheit –, dass Eliza die Chance erleichtert ergriff. »Meinen Vater.«

    »Dachte, es wär vielleicht ein Mann«, sagte Tom. »Du wärst nicht die erste Frau, die ohne Ring herumläuft. Wartest darauf, dass er rauskommt, oder hoffst, dass er das nicht tut?«

    Eliza dachte an das letzte Mal, als sie ihren Vater gesehen hatte. Vor vier Monaten, und die Worte, die sie gewechselt hatten, waren nicht nett gewesen – das waren sie nie –, aber sie hatte das völlig vergessen, nachdem sie aus dem Gefängnis marschiert war und jenes vertraute, verhasste Gesicht gesehen hatte.

    Sie zuckte unbeholfen mit den Schultern und hoffte, dass Tom das Thema wechseln würde. Je mehr Fragen sie beantwortete, desto wahrscheinlicher würde er bemerken, dass etwas seltsam war. Besser, es blieb bei einem namenlosen Vater mit einem ungenannten Verbrechen. Tom bohrte nicht weiter nach, sondern nahm eine seiner Zeitungen und fing an, die hinteren Seiten abzusuchen. »Da, schau dir das an.«

    Der Artikel über seinem zerfurchten Fingernagel war kurz, nur zwei knappe Absätze unter der Überschrift MR. CALHOUNS NEUE FABRIK. »Fabrikarbeit ist nicht schlecht«, sagte Tom. »Besser als Haushaltshilfe jedenfalls – keine Herrin, die einen ständig nervt, und einige Fabriken bezahlen mehr –, und es würde dich von hier wegbringen. Hier zu warten, wird dir nichts bringen, Lizzie, und wenn du so weitermachst, wirst du früher oder später Pech haben. So viel Pech, dass du ins Armenhaus musst.«

    »Ach, du versuchst doch nur, mich loszuwerden«, sagte Eliza. Es kam wegen der Enge in ihrer Kehle höher heraus als sonst. Tom war einfach nützlich. Seine Ecke war die beste zum Beobachten. Sie hatte nie mehr als das vorgehabt – niemals Freundschaft –, und seine Nettigkeit ließ sie umso mehr Schuldgefühle wegen ihrer Lügen empfinden.

    Aber er hatte recht, was die Arbeit anging. Sie war früher Dienstmädchen gewesen, bei einer italienischen Familie, die in Spitalfields gebrauchte Kleidung verkaufte. Ein Mädchen für alles zu sein, war ungeachtet der Familie wenig besser, als eine Sklavin zu sein. Viele Mädchen sagten, dass Fabrikarbeit vorzuziehen war, wenn man sie bekommen konnte. Aber Newgate zu verlassen …

    Sie konnte nicht. Ihr ungehorsamer Blick wanderte trotzdem zurück zu der Anzeige. Und dann sah sie, was darunter lag, das Toms Hand vorher verdeckt hatte.

    LONDONER FEENGESELLSCHAFT – Eine neue Vereinigung wurde in Islington gegründet, zum Verständnis von Großbritanniens schnell weniger werdenden Feeneinwohnern. Treffen am zweiten Freitag in jedem Monat in der White Lion St. 9, 7 Uhr abends.

    Eliza konnte sich kaum davor zurückhalten, Tom die Zeitung aus der Hand zu reißen, um die Worte anzustarren und zu sehen, ob sie verschwanden. »Darf ich?«, fragte sie.

    Sie hatte nur vor, es noch einmal zu lesen, doch Tom übergab ihr die Zeitung und winkte mit den Händen hinterher. »Behalt sie.«

    Die Kälte war verschwunden. Eliza war vom Kopf bis in die Zehen warm. Sie konnte nicht von den Worten wegsehen. Zufall – oder Vorherbestimmung? Vielleicht war es gar nichts: Leute mit Geld, die über kleine »Blumenfeen« plauderten statt über die Feen, die Art, die Eliza allzu gut kannte. Diese neue Gesellschaft wusste vielleicht gar nichts, was ihr helfen konnte.

    Aber ihre Alternative war es, hier zu warten, mit der schwindenden Hoffnung, dass es ihr irgendetwas nützen würde. Nur weil es eine weitere Bombe gegeben hatte, bedeutete das nicht, dass irgendwelche von den Leuten, die damit zu tun hatten, hier gewesen waren. Es hätte letzten Oktober reiner Zufall sein können, als sie ihn in Newgate gesehen hatte. Seitdem hatte sie beinahe jeden Tag hier verbracht und nicht einmal einen weiteren Blick auf ihn erhascht. Sie waren trickreiche Kreaturen, diese Feen, und nicht leicht zu erwischen. Aber vielleicht konnte diese Londoner Feengesellschaft ihr helfen.

    »Danke«, sagte Eliza zu Tom, faltete die Zeitung und stopfte sie in die ausgeleierte Tasche ihres Umhangs.

    Er zuckte mit den Schultern und sah geniert weg. »Ach, das ist doch nichts. Du fütterst mich oft genug mit Krapfen. Ich schulde dir wenigstens eine Zeitung dafür.«

    Sie dankte ihm gerade nicht für die Zeitung, aber das auszusprechen, hätte ihn nur noch unbeholfener gemacht. »Ich ziehe besser weiter«, sagte Eliza. »Diese Krapfen werden sich nicht von selbst verkaufen. Aber ich werde über die Fabrik nachdenken, Tom. Wirklich.« Das meinte sie auch so. Es wäre wundervoll, zu etwas wie einem normalen Leben zurückzukehren. Nicht mehr diese Existenz von einem Tag zum anderen, wo sie alles auf die Hoffnung auf eine zweite Glückssträhne setzte. Nach diesen drei Monaten würde sie sogar wieder in den Dienst bei den DiGiuseppes treten, nur um jeden Abend zu wissen, dass sie ein Dach über dem Kopf haben würde.

    Falls ein normales Leben überhaupt noch möglich war, nach allem, was sie durchgemacht hatte. Aber das war eine Frage für die Zukunft. Zuerst musste sie sich eine Fee fangen.

    Tom wünschte ihr Glück, und sie packte wieder die Griffe ihres Karrens und schob ihn durch Newgate auf einen Kerl in Holborn zu, der ihr gebratenen Fisch verkaufen würde, wenn sie den Rest ihrer momentanen Ware loswerden konnte. Ihr Blick machte seinen üblichen Tanz über die Menge, als sie ihre Waren anpries, doch sie sah nichts Ungewöhnliches.

    Der zweite Freitag. Das wird dann der Vierzehnte sein. Etwas mehr als zwei Wochen noch. Sie würde bis dahin hier weitermachen, wegen der geringen Chance, dass ihr Glück sich besserte. Aber Islington, hoffte sie, würde die Antworten liefern.

    DER GOBLINMARKT, ONYXPALAST

    2. März 1884

    Mit dem Klacken von Zehennägeln auf mit Rissen überzogenem schwarzem Gestein trottete der Hund in den Raum voller Käfige. Ein halbes Dutzend waren in der schmalen Kammer aufgereiht, drei pro Seite, die meisten mit schlafenden Menschen gefüllt. Im nächsten lag ein junges Mädchen allein auf schmutzigem Stroh, fest zusammengekrümmt. Der Hund trat schnüffelnd näher. Seine Nase strich über ihr Haar, dicht an den hölzernen Gitterstäben des Käfigs, und sie schreckte mit einem angsterfüllten Schrei hoch.

    Der Hund setzte sich auf seine Hinterbeine und betrachtete sie, während ihm die Zunge nur ein Stück heraushing. Das kam einem freundlichen Aussehen so nahe, wie ihm ein räudiges Ding wie er kommen konnte. Sein schwarzes Fell war unordentlich und verfilzt, und aus seinem linken Ohr war ein Stück herausgerissen. Doch als er keine bedrohliche Bewegung machte – nur dasaß und schaute –, kam das Mädchen zögerlich wieder aus der Ecke, in die sie sich zurückgezogen hatte. Sie streckte eine Hand aus, trat langsam näher, bis sie nahe genug an den Stäben war, dass der Hund seine Nase vorschieben und höflich schnüffeln konnte. Er leckte sogar über ihre schmutzigen Finger, ein kurzes, warmes Streicheln.

    Bei dieser freundlichen Berührung brach das Mädchen in Tränen aus.

    »He da!«

    Der Hund stand auf und drehte sich schnell um. Eine untersetzte, hässliche Gestalt stand in der Tür und kratzte sich über die struppigen Barthaare. »Geh da weg«, sagte der Goblin und starrte ihn finster an. »Er will dich sehen, und zwar nicht auf vier Füßen.«

    Das Mädchen im Käfig war erneut zurückgewichen. Der Hund warf einen kurzen Blick über seine Schulter auf sie, dann seufzte er, ein seltsam menschliches Geräusch. Er senkte den Kopf und konzentrierte sich, und sein Körper fing an, sich zu verändern.

    Er hörte ein leises Wimmern hinter ihm, als die Verwandlung beendet war. Egal wie wenig beruhigend seine Hundegestalt gewesen war, als Mann war er schlimmer. Der Tote Rick wusste das nur zu gut. Zerlumpte Hosenbeine endeten knapp über seinen nackten Füßen, deren Zehennägel sich dick und schmutzig in Richtung Boden krümmten. Am Oberkörper trug er nur eine zerrissene Weste, die er einem toten Sterblichen geraubt hatte. Er hasste das beengende Gefühl von Ärmeln auf seiner Haut. Sein Haar war so dreckig und verfilzt, wie es als Fell gewesen war, und was sein Gesicht betraf … er drehte sich nicht um. Er war zwar kein Poltergeist mit den flammenden Augen eines Teufels, aber er hatte sich selbst schon im Spiegel gesehen. Der harte Schlitz seines Mundes würde niemanden beruhigen.

    Er hätte sich anderswo verwandeln können, außer Sichtweite des Mädchens. Aber es war besser für sie, wenn sie schnell lernte, dass sogar die freundlichste Kreatur hier unten nicht vertrauenswürdig war.

    Greshs breites Grinsen würde nie mit Freundlichkeit verwechselt werden. »Sie ist ein feines Exemplar, oder?«, fragte er, als der Tote Rick auf ihn zukam. »Bisschen alt, um sie aus einer Wiege zu stehlen, aber ihre Mutter hat sie trotzdem da gehabt, weil sie sonst nirgends Platz für sie hatten. Die ham zu sechzehnt in einem Zimmer gewohnt. Jetzt sind’s nur fünfzehn, und sie kriegt diesen ganzen Käfig für sich allein. Besser für alle!«

    Der Tote Rick bezweifelte, ob das Mädchen oder seine Mutter zustimmen würden. Andererseits, was wusste er schon? Vielleicht war ihre Mutter eine gingetränkte Hure und wäre ganz froh, wenn sie ein Maul weniger zu stopfen hätte. Vielleicht würde das Mädchen von irgendeinem freundlichen Fae gekauft, der ein menschliches Kind wollte, mit dem er wie mit einer Puppe spielen konnte.

    Oder vielleicht fliegen dir Engel aus dem Arsch, Welpe. Aber sie würde hier nicht altern, und Krankheit würde sie nie berühren, was mehr war, als irgendjemand für ihr Leben auf den Straßen oben sagen konnte.

    »Komm schon«, sagte er und schob sich an Gresh vorbei. »Du hast gesagt, er will mich sehen.«

    »Du brauchst mich nicht als deinen Führer«, sagte der Goblin.

    Der Tote Rick blieb im Korridor stehen und warf einen Blick zurück. Gresh stand immer noch in der Tür, die Schultern begierig gekrümmt. »Nicht«, warnte der Tote Rick ihn. »Du wirst sie verderben, und dann geht es dir an den Kragen.«

    Der Goblin funkelte zurück. »Ich brauche keinen Hund, der mir erklärt, was ich tun soll.«

    Er sagte Hund, als sei es eine Beleidigung – als sollte sich der Tote Rick dafür schämen, ein Skriker zu sein. Eine Gewohnheit, die er sich bei ihrem gemeinsamen Herrn abgeschaut hatte. Aber es hatte Vorteile, ein Hund zu sein. Der Tote Rick knurrte tief in seiner Kehle, erwiderte Greshs Starren, und bald genug wich der Goblin als Erster zurück. Er murmelte einige Beschwerden, aber er kam mit dem Toten Rick mit und ließ dem Mädchen das bisschen Frieden, den es finden konnte.

    Gelächter hallte am Gestein um sie herum wider, als sie weiterliefen, seine Quelle unmöglich zu ergründen. Das Labyrinth des Goblinmarkts war voll mit Fae und den menschlichen Kreaturen, die sie zur Unterhaltung oder Nutzung hielten. Sie drängten sich fast so dicht wie die Armen im East End, wo das Mädchen herkam. Für jeden Fae, der wegzog und sich auf die Suche nach einem Durchgang nach jenseits der sterblichen Welt machte, kam ein anderer hierher nach London. In den Onyxpalast, das verzerrte Spiegelbild der Stadt darüber, den Palast, der einst das Prachtstück von Feenengland gewesen war – und nun ihre zerbröckelnde Zufluchtsstätte gegen den Fortschritt der Menschheit darstellte.

    Spuren jener Pracht waren immer noch sichtbar, in den behauenen Säulen und Eckpfeilern, den Bögen, die sich über Kammern mit hoher Decke spannten, dem gelegentlichen Mosaik, das in das schwarze Gestein einer Mauer eingefügt war. Alles war jedoch in vergangenen Jahrhunderten schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Vieles war zerbrochen oder verschmutzt oder halb hinter dem Gerümpel der Flüchtlinge verborgen. Gardinen, die an Kordeln aufgehängt waren, teilten größere Räume in kleinere auf und schenkten die Illusion von Privatsphäre. Fae verteidigten geschätzte Besitztümer oder sterbliche Haustiere gegen die gierigen Hände ihrer Nachbarn. Aber alles konnte verkauft werden, wenn der Preis stimmte: ein menschliches Kind gegen sterbliches Brot, ein verzauberter Spiegel gegen Drogen, die sogar einen Fae seine Probleme vergessen lassen konnten.

    Gresh hatte recht. Der Tote Rick brauchte den Goblin nicht, um ihm zu zeigen, wo er hingehen sollte. Er kannte seinen Weg durch das Labyrinth blind. Der Raum, zu dem er unterwegs war, hatte einen eingerissenen Boden, wo abgeschlagenes Gestein nackter Erde Platz machte, in die jemand eine Grube gegraben hatte. Dort unten packte ein Feenhund mit roten Ohren und blutbefleckter Schnauze eine Ratte und schüttelte das Nagetier, bis dessen Genick brach. Die Beobachter – hauptsächlich Fae und einige Sterbliche – feuerten ihn brüllend an. Der Tote Rick schob sich durch die Menge und bahnte sich seinen Weg zu der kurzen Treppe, die sich am gegenüberliegenden Ende befand. Bis er sie erreicht hatte, war Gresh in der tobenden Menge verschwunden.

    Die Treppe zeigte immer noch einen Hauch Kultiviertheit, obwohl die Schnitzereien am Geländer über die Jahre etwas mitgenommen worden waren. Der Raum, zu dem sie führte, zeigte etwas mehr als einen Hauch, größtenteils, weil der mit Ratten kämpfende Pöbel nicht hereingelassen wurde. Wenn seine Stühle auch nicht zusammenpassten, waren zumindest einige aus exotischem Holz geschnitzt, und der Teppich auf dem Boden strahlte immer noch in bunten Farben. Seidenbehänge an den Wänden halfen dabei, die Risse dahinter zu verdecken, das Anzeichen für unvermeidbaren Verfall.

    Und es waren nur zwei Leute hier, ein Fae und ein Sterblicher. Letzterer war in eine lächerliche Parodie einer Leibdieneruniform gekleidet, in einem Stil, der fünfzig Jahre zuvor schon altmodisch gewesen wäre, aber das war kaum wichtig. Wichtig war, dass er dort war, ohne konkreten Nutzen, und die Selbstgerechtigkeit seines Herrn nährte.

    Der den Toten Rick finster anstarrte. Nadrett wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, dann sagte er: »Ich erwarte, dass du hier bist, wenn ich dich brauche. Nicht, dass ich meine Goblins überall im Labyrinth nach dir suchen lassen muss.«

    Nach Goblinmarkt-Maßstäben machte er eine elegante Figur. Nicht in Fetzen und Lumpen gekleidet, auch stolzierte er nicht in einer bunten Sammlung Zigeunerseide herum. Seine Weste mochte zwar rot wie Kinderblut sein, doch sie war zurückhaltend geschneidert. Man musste genau hinsehen, um die Knöpfe aus Knochen, die Manschettenknöpfe aus verfilztem Haar zu sehen. Er trug keinen Mantel, hatte aber den seidenen Zylinder eines Gentlemans auf, geschmückt mit einer großen Nadel aus kristallenem Sternenlicht.

    Wovon nichts die Tatsache verbarg, dass sich Nadrett seinen Weg an die Spitze des Goblinmarkts mit einer Kombination aus Gerissenheit und Brutalität erkämpft hatte. Der Tote Rick war gezwungen, seinen Blick zu senken. »Tschuldigung. Ich hab bei den Käfigen vorbeigeschaut …«

    »Du hast hoffentlich nicht mein Eigentum berührt.«

    Der Tote Rick war nicht gut im Lügen. Sein Zögern verriet genug, und Nadrett fauchte einen Fluch. »Die da ist nicht hier, um Brot zu opfern. Hab einen Käufer, der will ein Mädchen, das nach Sterblichkeit stinkt. Wenn du sie ableckst, fängt sie an, stattdessen nach Feen zu riechen, und ich kriege keinen so guten Preis.«

    Er hätte den Mund halten sollen, aber die Worte kamen trotzdem heraus. »Ich bin nicht hier, um deinen Idioten in ihren Perversionen zu helfen.«

    Schnell wie eine zustoßende Schlange war Nadrett da, nur Zentimeter vor seinem Gesicht. »Doch, das bist du«, fauchte der Fae. »Weil du mir dienst. Genau mit diesen Perversionen mache ich meinen Profit, verstehst du, und wenn ich keinen Profit mache, dann nehme ich mir die Differenz aus deiner räudigen Haut. Also ist es in deinem eigenen Interesse, sicherzustellen, dass meine Kunden nicht unzufrieden sind.«

    Der Tote Rick machte den Mund auf, um zu antworten – dummer Welpe, du lernst es nie –, und Nadretts Hand schloss sich um seine Kehle. Er mochte zwar einiges weniger wiegen als der Skriker, doch sein Griff war eisern. »Hintergeh mich«, zischte Nadrett, »und ich werde dich vernichten. Alles, was du früher warst. Du wirst für immer so sein, gebrochen, wirst kriechen und jeglichem Meister dienen, der dich am schlimmsten auspeitscht.«

    Scham und Furcht nagten an seinen Eingeweiden, wie ein Wurm, der seinen Stolz auffraß. Er spürte, wie sich ein Winseln aufbaute, das unter Nadretts Hand nicht hervorbrechen konnte, und rollte verzweifelt mit den Augen. Als Nadrett losließ, legte der Tote Rick den Kopf schief und senkte seinen Blick. »Ich werde dich nicht hintergehen.«

    Sein Herr lachte. »Natürlich nicht. Du wirst genau das tun, was ich sage. Und du hast Glück: Ich habe heute eine Verwendung für dich. Folge mir.«

    Der Tote Rick hasste sich dafür, aber er gehorchte.

    Ihr Weg war lang und wand sich durch den schäbigen Lärm des Goblinmarkts. Der ständige, schleichende Verfall machte es beinahe unmöglich, auf direktem Weg irgendwohin zu gehen. Zu viele Kammern und Verbindungsgänge waren verschwunden. Ganze Sektionen waren beinahe völlig abgeschnitten, und ihr einziger Zugang führte durch Flecken, die zu durchqueren zu unsicher war. Ein Fae, der einen Fuß dort hinsetzte, war in Gefahr, an einem ganz anderen Ort wieder herauszukommen – oder überhaupt nicht.

    Londons Fundament verrottet unter ihm, dachte der Tote Rick. Die Leute erzählten immer noch Geschichten von der Pracht des Onyxpalasts, doch das war alles, was noch übrig war: Geschichten und diese zerfallenden Bruchstücke. Und der Goblinmarkt ist das verrottetste von allen.

    Der Ort, zu dem Nadrett ihn führte, war nicht ganz auf dem Marktterritorium und war es nicht ganz nicht. Der Nachtgarten gehörte niemandem außer den Flüchtlingen, die auf Decken unter den wuchernden Bäumen schliefen. Er lag dort, wo einst das Herz des Onyxpalasts gewesen war, und in einem vergangenen Zeitalter war er der Lieblingsplatz der Höflinge gewesen. Aber jetzt floss der Walbrook stinkend durch sein Herz, und die Blumen wuchsen unter erstickendem Unkraut.

    Ein Trio Goblins lungerte auf einer gesplitterten Bank herum und stand auf, als Nadrett durch den Eingangstorbogen kam. Schotten, und dem Toten Rick nicht vertraut. Er hätte menschliches Brot darauf gewettet, wenn er welches gehabt hätte, dass sie Neuankömmlinge waren. Temporäre Bewohner des Nachtgartens, die ihre Dienste an den Goblinmarkt – an Nadrett – verkauften, im Tausch gegen einen Aufstieg. »Wir haben ihn leer geräumt«, sagte der Anführer. »Hab zwei Kerle, die jedes der anderen Tore bewachen.«

    Nadrett klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich an den Toten Rick. »Du kennst deine Aufgabe. An die Arbeit.«

    Er starrte an seinem Herrn vorbei in die verlassene Wildnis des Gartens. »Wer ist es?«

    »Welchen Unterschied macht das? Irgendeine Sterbliche. Sie geht dich nichts an.«

    Weiblich also. Aber nicht das kleine Mädchen im Käfig. Der Tote Rick schluckte und schmeckte Galle. Nicht das kleine Mädchen. Einfach irgendein anderer Mensch, der wahrscheinlich nie irgendetwas getan hatte, um dieses Schicksal über sich zu bringen.

    Nadretts bloßes Einatmen reichte, um ihn anzutreiben. Der Tote Rick biss die Zähne zusammen, verwandelte sich wieder in seine Hundegestalt und rannte in den Nachtgarten hinaus.

    Ein Meer an Aromen füllte seine Nase. Die Flüchtlinge mochten wohl für den Moment fort sein, aber ihre Gerüche blieben: Hauselfen und Goblins und Pucks, Hofelfen und naturliebende Irrwische, einige so neu, dass sie noch einen Nachhall ihrer Heimat in sich trugen. Kühle Erde und der dichte Teppich aus Vegetation, der darüber wuchs. Einst war der Garten mit aromatischen, nachtblühenden Blumen bepflanzt gewesen – Nachtkerzen, Jasmin –, und einige der zäheren hatten bis jetzt überlebt. Vor ihm lag der stinkende Walbrook. Die zerfallenden Zauber hatten die Spiegelung des eingegrabenen Flusses mit ihrer verschmutzten Realität vermischt und den Boden um ihn herum vergiftet.

    Der Tote Rick hielt nahe einer der noch erhaltenen Fußgängerbrücken über den Fluss inne, weil er dachte, dass er vor sich eine Bewegung sähe. Es stellte sich bloß als ein Feenlicht heraus, das ziellos durch die Luft schwebte. Die meisten von ihnen hatten die Decke verlassen, wo sie, wie die Leute erzählten, früher veränderliche Konstellationen gebildet hatten, doch der Tote Rick glaubte, dass er in der Entfernung ein stärkeres Leuchten sah.

    Er tapste darauf zu, wobei er sich im Unterholz hielt. Ja, da war Licht vor ihm, hinter diesem Hain aus kränkelnden Apfelbäumen. Er ließ sich auf den Bauch sinken und kroch eine Pfote nach der anderen vorwärts, bis er etwas sehen konnte.

    Die Sterbliche war kaum mehr als ein Mädchen, höchstens fünfzehn Jahre alt. Sie saß mit dem Rücken an einem Steinblock, die Knie eng an die Brust gezogen. Der Tote Rick fragte sich, ob sie wusste, dass sie gerade auf einem Grab saß. Ihr Kleid war relativ fein. Sie sollte lesen können – aber Ranken waren über die Inschrift gewachsen, sodass man diese leicht übersehen konnte, wenn man nicht danach suchte. Und ihre Aufmerksamkeit lag anderswo, als sie die Umgebung nach Anzeichen einer Bedrohung absuchte.

    Anzeichen von ihm.

    Feenlichter schwebten über der kleinen Lichtung, als würden sie versuchen, sie zu trösten. Sie besaßen gerade genug Bewusstsein, um auf die Wünsche anderer zu reagieren. Die Furcht des Mädchens hatte sie vielleicht angezogen. Oder hatte sie sie zu sich gerufen? Stell keine Fragen, knurrte der Tote Rick in sich hinein. Betrachte sie nicht als Person – erledige einfach deine Aufgabe.

    Das Knurren entkam seiner Schnauze, ohne dass er es wollte. Die Sterbliche japste und ging in eine wachsame Hocke.

    Sie hätte nicht im Licht sitzen sollen. Sie wird halb geblendet sein, sobald sie wegrennt.

    Umso besser für ihn.

    Der Tote Rick knurrte erneut, diesmal mit Absicht. Da war eine Lücke in den Hagedornbüschen. Er schlich hindurch, machte kein Geräusch, dann fletschte er scharf die Zähne. Daraufhin schlich er weiter: noch ein Knurren. Für einen verängstigten Verstand würde es klingen, als sei sie umzingelt.

    In jeder Richtung außer einer: dem überwucherten Pfad, der vom Grab wegführte. Und tatsächlich sprintete sie los.

    Er rannte beinahe schon, ehe sie sich bewegte. Sie war menschlich und trug ein Kleid. Er war ein Hund und kannte seinen Weg durch den Garten. Ein umgefallener Baum hatte schon vor Jahren den Pfad nach links blockiert, sodass sie, selbst wenn sie in diese Richtung lief – und er hörte, wie sie es versuchte –, am Ende nach rechts laufen musste. Und der Tote Rick war dort und wartete darauf, sie weiter zu hetzen.

    Nadrett hatte ihn so oft geschickt, um dies zu tun, dass es beinahe Routine war. Aber das Mädchen überraschte ihn. Sie stürzte sich durch ein wucherndes Stechpalmengebüsch, zischte, als dieses sie kratzte, und nahm einen weniger offensichtlichen Pfad. Der Tote Rick fluchte innerlich. Zwei Kerle, die jeden der anderen Eingänge bewachten – aber bewachten sie alle davon? Oder nur diejenigen, die noch irgendwohin führten? Der Torbogen vor ihm öffnete sich in einen Korridor, der ungefähr fünfzig Fuß weiterführte, bis zu einer kaputten Stelle des Onyxpalasts.

    Es waren fünfzig Fuß gewesen, als er das letzte Mal nachgesehen hatte. Vielleicht waren es jetzt weniger.

    Der Tote Rick sprintete weiter. Ein ausgetrockneter Springbrunnen in der Nähe der Wand schenkte ihm einen Vorteil. Er sprang an der riesigen Fratze in dessen Mitte hoch, während seine Zehennägel am gezwirbelten Gestein kratzten, und stürzte sich durch die Luft zum Torbogen. Er landete mit einem gewaltigen Krachen, aber das diente ihm ganz gut: Er hörte, wie das Mädchen stolperte und fiel und sich dann hektisch aufrappelte und in die andere Richtung rannte, weg von was auch immer für einem riesigen Monster, das am Torbogen lauerte.

    Riesig – nein. Monster – ja. Genau das bin ich geworden.

    Der Tote Rick schüttelte sich, als könne er seine düstere Laune abschütteln wie Wasser. Wenn er hier scheiterte, würde Nadrett dafür sorgen, dass er mehr als nur düster gelaunt wäre.

    Er trabte schnell der Spur des Mädchens nach und folgte ihrem Geruch. Sein Innehalten hatte ihr Zeit gegeben, einen Vorsprung zu bekommen, und in Abwesenheit seines Knurrens war sie still geworden. Die Spur führte ihn über die Brücke. Er erhaschte am Geländer einen Hauch, als sei sie dort stehen geblieben und hätte das schmutzige Wasser betrachtet. Aber für ein Mädchen in einem Rock, das wahrscheinlich nicht schwimmen konnte, wäre es nur ein unglücklicher Selbstmord. Am Ende war sie weitergelaufen.

    Über ein Feld aus struppigem Gras, fast so hoch wie er. Der Tote Rick sprang über eine umgefallene Vase und hoffte, ihr den Weg abzuschneiden. Das Risiko zahlte sich aus: Sie kam den Pfad herunter auf ihn zu. Erneutes Knurren trieb sie in die andere Richtung, und jetzt wusste er, wie das hier enden würde. Normalerweise setzte er sie an der Wand fest, aber mit ein wenig Treiben …

    Sie stand kurz vor dem Ende ihrer Kräfte. Der Tote Rick erhöhte sein eigenes Tempo, bellte wie ein Wolf und sprang fast direkt an ihren Fersen ins Freie. Das Mädchen stürzte sich über den zerklüfteten Boden, die Treppe eines verfallenen Pavillons hinauf, und fiel längs über dessen Bodenbretter. Der Tote Rick sprang …

    Ihr Schrei hallte durch die Luft, und dann verstummte er.

    Die Pfoten des Toten Rick krachten auf ihre Brust hinab, und seine Kiefer schlossen sich knapp vor ihrer Nase. Das Mädchen unter ihm war vor Panik erstarrt, und ihr Mund stand weit offen und weitete sich immer wieder, als würde sie immer noch schreien, doch kein Geräusch kam heraus.

    Für einen Augenblick war da das Sehnen. Seine Zähne in jene verwundbare Kehle zu graben, das Fleisch herauszureißen und das heiße Blut aufzulecken, wenn es heraussprudelte. Der Tod gehörte zur Natur eines Skrikers. Es wäre einfach, solange er sie nicht als Person betrachtete – nur Fleisch und Furcht und eine Stimme, die man stehlen konnte.

    Aber das war Nadretts Art und die des Goblinmarkts. Der Tote Rick biss seine Schnauze zusammen, bis sie wehtat, und wich langsam zurück, wobei er vorsichtig auftrat, damit seine rauen Klauen das Mädchen nicht unter dem Kleid aufkratzten.

    Nadrett lehnte an einer Säule des Pavillons und ließ einen kleinen Krug von Hand zu Hand fliegen. »Das ist eine gute«, sagte er mit einem zufriedenen Grinsen. »Hervorragendes Material. Das wird einen guten Preis bringen, ganz bestimmt. Vielleicht lasse ich dich sogar was vom Gewinn haben, hm?«

    Wenn er irgendwelchen Stolz übrig gehabt hätte, hätte der Tote Rick das abgelehnt. Weil er das nicht tat, sprang er auf das Gras hinunter und lief ohne auch nur ein Knurren an Nadrett vorbei.

    Sein Herr lachte, als er hinausging. »Guter Hund.«

    Der Tote Rick schämte sich bei diesen Worten.

    WHITECHAPEL, LONDON

    4. März 1884

    Als sich der Straßenname von Fenchurch zu Aldgate High Street zu Whitechapel Road änderte, zeigte sich eine lebhafte Verwandlung. Binnen weniger als einer Meile kam Eliza von einem London in ein anderes, von den großen Geschäftshäusern und respektablen Läden der Innenstadt zu den einfachen Ziegelgebäuden und schmalen Hinterhöfen, die sie bis vor wenigen Monaten ihr Heim genannt hatte.

    Sie war sich den ganzen Vortag über mit sich selbst uneins gewesen, ob sie wirklich zurückkommen sollte. Eine Reihe guter Tage hatten ihr genug Geld für die Unterkunft der letzten und der kommenden Nacht gebracht, und es war noch genug übrig, um neue Waren zum Verkauf zu erwerben, doch ein Tag, den sie nicht mit Arbeit verbrachte, war ein Tag näher am Verhungern. Zu verkaufen, während sie unterwegs war, hätte jedoch dafür gesorgt, dass sie von den Straßenhändlern vertrieben würde, die in dieser Gegend arbeiteten, und außerdem wollte sie, dass nichts sie mit der Frau verband, die heiße Krapfen und andere Kleinigkeiten in der Innenstadt verkaufte. Deshalb blieb ihr Karren bei einer Frau in St. Giles untergestellt, bei der sie hoffentlich darauf vertrauen konnte, dass sie ihn nicht in dem Augenblick verkaufen würde, wenn Eliza ihr den Rücken zudrehte, und Eliza selbst hatte sich einen Tag freigenommen. Ein Risiko, ja – aber nicht mehr als die Rückkehr nach Whitechapel überhaupt.

    »Du hast ja Nerven, Eliza O’Malley, dein Gesicht hier offen zu zeigen.«

    Der Ruf kam aus der Tür eines Lumpenladens an der Ecke von George Yard. Eliza war drei Schritte weitergelaufen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie stehen bleiben konnte: Es war nicht länger nötig oder nützlich, vorzugeben, sie sei Elizabeth Marsh, eine brave englische Straßenhändlerin. Jene, die ihr hier Schwierigkeiten machen wollten, wussten bereits, wer sie war.

    Also blieb sie stehen, drehte sich um und sah, wie Fergus Boyle am Türrahmen lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und einen Fuß auf der Kiste, die er offensichtlich getragen hatte. Er grinste, als sie sich zu ihm umdrehte. »Hab dich erschreckt, hm?«

    Ihre Haut prickelte immer noch vom plötzlichen Schreck, als sie nach Monaten, in denen sie jemand anderen gespielt hatte, ihren Namen gehört hatte. Der gewohnte Akzent jedoch kam ihr ganz ohne Schwierigkeiten über die Lippen. »Hau ab, Fergus Boyle. Hast du nichts Besseres mit dir anzufangen, als mich zu ärgern?«

    »So, wie du verschwunden bist? Nö.« Mit dem Fuß schob er die Kiste an die Wand, damit sie unbeschadet blieb. Eliza blieb stehen, als er näherkam. »Du solltest die Geschichten hören. Manche denken, du wurdest ins Gefängnis geworfen, wie dein alter Paps. Diejenigen, die denken, dass du vorsichtig bist, sagen, dass du nach Amerika gefahren bist, egal wie du die Reise bezahlen würdest. Ich habe gewettet, dass du dich bei den Feniern versteckst. Hatten deine Freunde und du irgendetwas mit diesem Dynamit an der Victoria Station vor ein paar Tagen zu tun?«

    »Ich bin keine Fenierin«, sagte Eliza und warf einen misstrauischen Blick auf die Leute auf der Straße. Die Streifenpolizisten scherten sich kaum darum, die Ordnung in Whitechapel aufrechtzuerhalten, aber seit letztem Jahr achtete die neue Irische Sondereinheit sehr genau auf jegliches Flüstern über aufrührerische Aktivitäten.

    »Sicher«, sagte Boyle und grinste auf eine Art, die ihr nicht gefiel. »Du hattest letzten Herbst nichts mit Charing Cross zu tun. Du hast die Bombe nur zufällig rechtzeitig gesehen, um sie hinten aus dem Zug zu werfen. Purer Zufall war das.«

    Überhaupt kein Zufall – aber was konnte sie ihm erzählen? Dass die Bomben in Charing Cross und an der Praed Street nicht das Tun der Fenier gewesen waren, nicht vollständig? Dass sie Hilfe von Feen gehabt hatten? Boyle stammte von guten Leuten aus der Grafschaft Roscommon ab, der Sohn einer Bauerntochter und eines Kerls vom benachbarten Hof. Sie hatten ihre Geschichten mitgebracht, als sie während der großen Hungersnot nach London gekommen waren. Er glaubte an Feen, ganz klar. Aber sie waren Kreaturen, für die man Milch am Hintereingang ließ, um sie davon abzuhalten, die Kühe zu verhexen oder in der Nacht das Haar der Kinder zu verfilzen. Keine in der Großstadt lebenden Goblins, die Bahnstrecken sprengten.

    Was das betraf: Ihm zu erzählen, warum sie einem Fae in die U-Bahn gefolgt war … Das hatte sie schon einmal versucht, vor beinahe sieben Jahren. Nicht bei Fergus Boyle, aber bei anderen Leuten. Und keiner von denen hatte zugehört.

    »Ich kann nicht lange bleiben«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass er ihren Themenwechsel als Beweis dafür betrachten würde, dass er richtig lag. »Was genau willst du? Mir einfach nur erklären, dass ich Nerven habe?«

    »Bleibst nicht lang, hm? Und zu was musst du zurückeilen?« Boyle trat noch näher, sodass er über ihr aufragte. »Oder ist es so, dass du Angst hast, dass die Jungs von der Sondereinheit dich erwischen?«

    Eliza schubste ihn hart an der Schulter, was ihn ein Stück zurücktaumeln ließ. »Jedenfalls habe ich mit meiner Zeit Besseres zu tun, als sie damit zu verbringen, mit Kerlen wie dir zu plaudern.«

    Fergus’ spöttisches Grinsen verflog ein wenig. »Ach, du willst nicht Mrs. Darragh ärgern, oder?«

    »Nein.«

    Sie war immer eine gute Lügnerin gewesen, aber Boyle sah sie trotzdem misstrauisch an. »Gut. Maggie war froh, als du weg warst – sagt, ihre alte Ma hat sich aufgeregt, wenn du in der Nähe warst.«

    Nun war Eliza damit an der Reihe, misstrauisch dreinzublicken. »Wann seid Maggie Darragh und du euch so nahegekommen, dass du wissen solltest, was sie gerade denkt?«

    Er grinste breiter, und Eliza seufzte. Sie wusste ganz genau, dass Maggie sie nicht in der Nähe haben wollte, und war darauf vorbereitet. Wenn sie aber Fergus Boyle ausweichen musste, dann würde das hier noch schwieriger. Doch sie weigerte sich, Mrs. Darragh zu verlassen – nicht, wenn sie die einzige Hoffnung war, die die Frau noch übrig hatte.

    Am besten, sie lenkte ihn mit einer glaubwürdigen Lüge ab. »Anders als manche Leute«, erklärte Eliza ihm, »kümmere ich mich um meine Seele. Ich bin auf dem Weg zur Beichte – das ist etwas, was wir in der Kirche tun, diese Beichte, weil ich mir sicher bin, dass du noch nie davon gehört hast.« Und darüber zu lügen, ist der geringste Grund, aus dem ich zur Hölle fahre.

    Boyle wirkte zweiflerisch. Zum Glück sah Eliza ein spindeldürres Mädchen, das sich über die Kiste hinter ihm duckte. »Du solltest vielleicht darauf aufpassen«, sagte Eliza sanft mit einem Kopfnicken. Dann schlich sie davon, während Boyle damit beschäftigt war, dem Mädchen eine Ohrfeige zu verpassen.

    Ihr Herz schlug zu schnell, als sie die Whitechapel Road hinuntereilte und sich zwischen den Karren und durch den schmutzigen Nebel schlängelte. Vier Monate und noch mehr, seit sie hier gewesen war, und das war nicht lange genug. Boyle hatte recht: Was, wenn irgendein Kerl von der Irischen Sondereinheit sich an ihr Gesicht erinnerte? Sie war nicht dumm genug gewesen, denen zu erzählen, dass sie diejenige war, die die Bombe aus dem Zug in Charing Cross geschleudert hatte. Die würden nie glauben, dass sie es getan hatte, um die Menschen im Dritte-Klasse-Waggon zu retten. Mehr als siebzig Menschen waren am selben Abend verletzt worden, als die andere Bombe in einem Zug explodiert war, der gerade Praed Street verlassen hatte. Aber Eliza war Irin. Nur, dass sie dort gewesen war, reichte beinahe, um sie zu hängen, und die Bombe zu berühren, würde mehr als reichen.

    Genau deshalb hatte sie ihr Bestes getan, um zu verschwinden, und sich hinter dem Talent für Nachahmung und Schauspiel versteckt, das Owen immer so sehr amüsiert hatte. Weil die verdammte Irische Republikanische Bruderschaft und ihre Freunde in Amerika ständig Ärger machten, war es im Moment nicht sicher, in London Irin zu sein. Und sogar noch weniger sicher, Eliza O’Malley zu sein.

    Boyle hatte recht: Es wäre vernünftiger, irgendwie genug Geld zusammenzukratzen, um anderswohin zu ziehen. Nach Amerika oder Irland oder wenigstens in eine andere Stadt. Vielleicht Liverpool. Aber selbst wenn sie ihre Suche hätte aufgeben können, Eliza war in London geboren. Sie hatte nie eine andere Heimat gekannt. Gott helfe ihr, sie vermisste sogar das dreckige, beengte Elendsviertel von Whitechapel, das ihr so viel vertrauter war als die stickigen Geschäfte in der Innenstadt.

    Nicht, dass sie irgendwelche romantischen Illusionen über die Gegend hegte. Sie war ein Moloch aus Laster und Verbrechen, gefüllt mit den vertriebenen Armen jeder Rasse, wo Huren ihre Kunden in dunklen Gassen für zwei Penny pro Akt bedienten und Banden mit Drohungen oder Gewalt das wenige Geld nahmen, das andere Leute zu verdienen geschafft hatten. Aber als sie an den schmalen Gassen und Hinterhöfen vorbeikam, hörte Eliza vertraute Dialekte und manchmal sogar die irische Sprache selbst, in fröhlichen und freundlichen Gesprächen. Sie zog ihr Schultertuch dichter um ihr Gesicht und hastete mit gesenktem Kopf weiter, um zu vermeiden, dass sie von noch jemandem gesehen wurde, den sie kannte – oder diesen selbst sähe. Das hätte es nur umso härter gemacht, wieder fortzugehen.

    Mrs. Darragh und ihre Tochter wohnten in einem einzelnen Zimmer an einem Hinterhof neben der Old Montague Street. Ein Stück Plane war über das Fenster genietet, wo das Glas herausgebrochen war. Zumindest hatten sie dort gewohnt, als Eliza das letzte Mal hier gewesen war. Was, wenn sie umgezogen waren? Boyle hätte es ihr nicht erzählt. Falls Maggie und er irgendeine Art Übereinkunft hatten, hatte er ihnen vielleicht sogar zu einer besseren Unterkunft verholfen.

    Sie klopfte an die Tür und lehnte sich näher, um zu lauschen. Als Reaktion ertönten keine Schritte, was ihr zumindest verriet, dass Maggie nicht da war. Sie klopfte wieder. »Mrs. Darragh? Ich bin’s, Eliza O’Malley.«

    Keine Antwort, aber die Tür war nicht versperrt, als sie die Klinke testete. »Ich komme rein«, rief Eliza und öffnete die Tür weit genug, um einen Blick hineinzuwerfen.

    Wegen des Nebels und der verschmierten Fensterbespannungen war es drinnen düster wie in einem Grab. Langsam gewöhnten sich Elizas Augen daran, und dann konnte sie die Gestalt ausmachen, die auf dem einzigen Stuhl im Raum neben dem rauchenden offenen Kamin an der gegenüberliegenden Wand saß. Genau dort, wo ich sie vor vier Monaten zurückgelassen habe. »Mrs. Darragh, ich bin’s, Eliza«, wiederholte sie und trat ein.

    Die Frau starrte abwesend auf den Boden, die Hände locker auf dem Schoß, als könne sie sich nicht dazu durchringen, irgendetwas mit ihnen zu machen. Das düstere Licht schmeichelte ihrem Gesicht und glättete einige der Falten, die sich dort hineingegraben hatten, doch ihre hoffnungslose Miene machte es Eliza weh ums Herz. Der Verlust von Owen hatte seine Mutter gebrochen, und sie war seither nie genesen.

    Eliza ließ die Tür einen Spalt offen, damit Licht hereinkam, und ging vor Mrs. Darraghs Füßen in die Hocke. All das Geplauder, das sie geplant hatte, verblich in Anwesenheit der Frau: Es war einfach nicht möglich zu sagen: Oh, wie gut Sie heute aussehen, oder irgendetwas so Falsches und Fröhliches. Was würde es bringen? Nichts würde ihre Laune heben, außer einer Sache.

    »Mrs. Darragh«, murmelte sie und nahm die schlaffen Hände der älteren Frau in ihre, »ich bin gekommen, um Ihnen gute Neuigkeiten zu erzählen, wirklich. Ich habe ihn beinahe erwischt. Den Fae.«

    Keine Antwort. Eliza biss sich auf die Lippe, dann fuhr sie fort. »Ich habe Ihnen erzählt, dass ich ihn gesehen habe, letzten Oktober? Bin ihm zur Mansion House Station gefolgt und habe dort die anderen gesehen, die in einen Zug nach Charing Cross gestiegen sind. Er kam aber aus Newgate, und genau dort bin ich gewesen – hab dort gewartet und gehofft, ihn oder einen anderen wiederzusehen. Aber ich habe vor, etwas Besseres zu finden. Es gibt in Islington einen Verein. In einigen Tagen gehe ich dorthin, um herauszufinden, ob sie da irgendetwas wissen. Und dann werde ich die Bastarde verfolgen, die ihn entführt haben, und sie zwingen, ihn freizulassen, und dann bringe ich Ihnen Ihren Sohn zurück.«

    Die Hände zitterten in ihrem Griff. Mrs. Darraghs Unterlippe zitterte auch, und sie hatte die verzweifelte Miene einer Frau, die nicht einmal die Energie zum Weinen aufbringen konnte.

    »Das werde ich«, beharrte Eliza und griff fester zu. Nicht zu stark. Die Knochen fühlten sich in ihrer Hand wie die eines Vogels an, als würden sie jeden Moment zerbrechen. »Ich habe ihn nicht verlassen. Oder Sie. Ich …«

    Dass es im Raum heller wurde und kalte Luft hereinblies, war ihre Vorwarnung. »Hast sie nicht verlassen?«, rief eine scharfe Stimme hinter ihr. »Hast eine seltsame Art, das zu zeigen, Eliza O’Malley, ohne auch nur ein Wort zu verschwinden.«

    Sie stand nicht aus der Hocke auf oder ließ Mrs. Darraghs Hände los, sondern drehte nur den Kopf. Maggie Darragh stand am Eingang, ein Brotstück in einer Faust, die andere Hand flach auf die Tür gedrückt. Ihre mitgenommene Haube warf einen Schatten über ihr Gesicht, aber Eliza musste es nicht sehen, um sich ihren Gesichtsausdruck vorstellen zu können.

    »Du hast deutlich gemacht, dass du mich nicht in der Nähe haben wolltest«, sagte Eliza.

    Maggie machte ein angeekeltes Geräusch und stieß die Tür weg, sodass sie an der Wand abprallte und ein kleines Stück zurückschwang. »Nicht deutlich genug, schätze ich, denn da bist du wieder und flüsterst dein Gift in ihre Ohren.«

    Die Hände rissen sich von Elizas eigenen los, als Mrs. Darragh sie unter ihre Ellbogen steckte und sich selbst umarmte. Im helleren Licht zeigte sich der bemitleidenswert zerlumpte Zustand ihres Kleids. »Gift?«, fragte Eliza. »Was ich bringe, ist Hoffnung, was mehr ist, als sich irgendjemand anderer bemüht, ihr zu geben.«

    Maggies Gelächter klang wie das Krächzen einer Krähe. »Hoffnung nennst du das, was

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